SWR2 forum & Wissen - Aula : Digitale/r Kapitalismus / Wettbewerbsgesellschaft
Diskurs Platon Akademie 4 > 2018-Leben >
Digitale/r Kapitalismus /Wettbewerbsgesellschaft
dp-ds-swr2-18-1aula-digitaler-Wettbewerb
i SWR2 FORUM
II SWR2 Wissen: Aula
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I
SENDETERMIN Di, 9.1. | 17.05 Uhr | SWR2
SWR2 Forum
Posten, ranken, messen
Verlieren wir uns im Datenrausch?
Quintessenz
> Selbst-/Ver-/Messung führt im existierentden Digitalen Kapitalismus zum Datenrausch/en.. statt zum Wohlergehen.
R. Caspary & W. Prankl 18-01
>In einer erschöpften Gesellschaft ... spiegeln sich die Sehnsucht nach einem anderem Leben wider
S. Selke,
> Renaissance alter Beschämungs-und Bestrafungsrituale
A. Bernard, Soziologe. HS Furtwangen
> Statt durch Intuition unserer Lebenserfahrungen entscheiden wir aufgrund abstrakter Daten und Algorithmen
S. Mau, Uni-Berlin
Andreas Bernard, Soziologe an der Leuphana Universität Lüneburg
Es diskutieren:
Prof. Dr. Andreas Bernard, Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien, Leuphana Universität Lüneburg
Prof. Dr. Steffen Mau, Makrosoziologe, Humboldt-Universität Berlin
Prof. Dr. Stefan Selke, Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft, Hochschule Furtwangen
Gesprächsleitung: Ralf Caspary
Verlieren wir uns im Datenrausch?
Dauer44:05 min| QuelleSWR 2018
Die Gesundheitsapp zählt unsere Schritte und misst den Blutdruck, die App für den psychologischen Bereich fragt das Wohlbefinden ab, die Facebookseite dokumentiert unseren sozialen Beliebtheitsgrad, Twitter unsere politischen Befindlichkeiten. Wir posten, ranken, messen, quantifizieren und metrifizieren, was das Zeug hält. Geht es uns damit tatsächlich besser? Oder sind wir auf dem Weg in eine oberflächliche Wettbewerbsgesellschaft, in der jeder nur noch sich selbst inszeniert und präsentiert?
> "Wir sind schon so weit, dass wir allein auf Grundlage abstrakter Daten und Algorithmen Entscheidungen treffen, und eben nicht mehr auf Grundlage unserer Intuition oder unserer Lebenserfahrungen. Das ist ein bedenklicher Reduktionismus"
Steffen Mau, Soziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin.
> "Wir leben in einer erschöpften Gesellschaft, in der sich jeder Einzelne optimieren und veredeln will, um die Erschöpfung vergessen zu können. Diese Apps, mit denen wir uns vermessen, bewerten und optimieren können, spiegeln also die Sehnsucht nach einem anderem Leben wider."
Stefan Selke von der Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft an der Hochschule Furtwangen
> "Krankheit erscheint durch diese Gesundheitsapps nicht mehr als Schicksal, sondern als Versäumnis des Einzelnen - Du hast Dich zuwenig bewegt, es ist Deine Schuld, wenn Du Diabetes bekommst. Das ist zugleich eine Renaissance alter Beschämungs-und Bestrafungsrituale."
Andreas Bernard, Soziologe an der Leuphana Universität Lüneburg
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SWR2 Wissen: Aula : Täterprofile . Das Selbst in den digitalen Medien . Ralf Caspary und Andreas Bernard
Sendung: Sonntag, 7. Januar 2018, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2018
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
AUTOR
Andreas Bernard ist Co-Sprecher des Zentrums für Digitale Kulturen an der Leuphana-Universität Lüneburg. Er studierte Literaturkritik und Kulturwissenschaften in München, arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Weimar und Konstanz, bevor er als Fellow zum Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin ging. Andreas Bernard schreibt außerdem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur
S. Fischer: :240 Seiten;.ISBN 978-3-10-397301-3; 24 Euro
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ÜBERBLICK
Es ist eine merkwürdige Verwandtschaft: Viele Verfahren der Selbstpräsentation auf Facebook oder WhatsApp gleichen auf frappante Weise den Methoden der Kriminologie. Das Format des Profils in den sozialen Netzwerken geht so zurück auf psychiatrische Profile von Internierten oder auf Täterprofile von Mördern. Andreas Bernard, Professor am Center for Digital Cultures der Leuphana-Universität in Lüneburg, fragt nach den Ursachen dieser irritierenden Ähnlichkeit.
Quintessenz:
> Es geht um Profiling
Profil als ein Kondensat der Biografie ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts., bis heute...
Ein Profil (bei Facebook ...) bedeutet, dass die Werbekunden, mit denen Facebook zusammenarbeitet, genau wissen, mit wem sie es zu tun haben. Sie kennen die Namen, Wohnorte, Alter der Nutzer und wer als Werbeadressat in Frage kommt
> Neoliberalismus, verallgemeinert, besser = Wettbewerbsgesellschaft (Caspary))
> die Abwesenheit von Profilen kann ein verdächtiges Indiz sein für potentielle Täter., empirisch nachgewiesen (FBI...und wir als Nachahmer GBS-Ortung...)
> Man wird auch gezwungen, sich Profile anzulegen in Bezug auf die spätere Berufskarriere, weil Unternehmen sich meine Facebook-Seite anschauen, wenn ich mich irgendwo bewerbe (Diese Seite kann vorrangig passiv (nur zum Anschauen nutzbar gemacht sein!)...
> Digitalisierte Kultur (seit 2004 gibt es Web 2.0 . ( Dieser Übergang hat ja dazu geführt, dass die Vorstellung von Raumlosigkeit, Körperlosigkeit, Identität 'dingfest' gemacht werden kann). Sie ist in den letzten zehn Jahren ein Phänomen oder sind Wünsche der Auflösung und der Persönlichkeitsvervielfältigung die die Frühzeit des Internets konterkarieren ! Weil Ortung und das Profiling jetzt auf realen Bildern basieren... und damit der Weg zur 'neoliberalen' - genauer - Wettbewerbsgesellschaft eröffnet ist . Das quantifizierbare Subjekt / Selbst wird so zum Scheinsubjekt /Objekt der 'Markt-Herrschaften'.(Foucault, Prankl ..)..
So sind wir immer wieder gezwungen sind, uns im Rahmen unseres Profils als kompetenten, attraktiven, 'gläsernen' Arbeitnehmer darzustellen, um den nächsten Job zu bekommen...
Facebook oder Google sind zur Regierung (zum Parallel-Staat) geworden.
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: „Täterprofile – Das Selbst in den digitalen Medien“.
Es ist eine merkwürdige Verwandtschaft: Viele Verfahren der Selbstpräsentation auf Facebook oder WhatsApp gleichen auf frappante Weise den Methoden der Kriminologie. Das Format des Profils in den sozialen Netzwerken geht so z.B. zurück auf psychiatrische Profile von Internierten oder auf Täterprofile von Mördern. Andreas Bernard, Professor am Zentrum für Digitale Kulturen der Leuphana-Universität in Lüneburg, fragt nach den Ursachen dieser irritierenden Ähnlichkeit. Sein neues Buch zum Thema heißt: „Komplizen des Erkennungsdienstes“, erschienen bei S. Fischer. Ich habe mit Andreas Bernard über das Thema gesprochen.
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GESPRÄCH
Caspary:
Haben Sie ein Facebook-Profil?
Bernard:
Ja, habe ich.
Caspary:
Wie oft pflegen Sie das?
Bernard:
Ich poste praktisch nichts, ich bin eher stiller Mit-Leser.
Caspary:
Gehören Sie damit zur Minderheit dieser Gemeinschaft?
Bernard:
Ich kenne viele, bei denen das so ist, die eher ein passives Verhältnis dazu haben. Es ist schwierig, wenn Information und Kommunikation nur noch über die sozialen Medien läuft, z. B. neue Artikel, die empfohlen werden u.ä., dann würde man sich schon aus vielen Kommunikationszusammenhängen herausnehmen, wenn man nicht bei den sozialen Netzwerken ist. Aber es ist schon ein Unterschied, ob man nur mit liest oder auch postet.
Caspary:
Sie haben auch ein Profil angelegt für die Universität, an der Sie lehren.
Bernard:
Ja, das musste ich.
Caspary:
Es ist ein sehr gutes Profil, mit Ihrem beruflichen Werdegang, Ihren verschiedenen Publikationen. Das ist heute ein Muss für jeden Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin?
Bernard:
Es gibt ein Mindestmaß, das man einhalten muss, wenn man sich nicht als Querulant erweisen will. Man sollte z.B. auf der Homepage der Universität verzeichnet sein. Aber sagen wir mal so: Die Universität war schon ein Motiv, das Buch zu schreiben, weil diese ganz extreme auf neue Projekte fokussierte Art des Forschens und des Akademischen, dass man ständig neue Projekte finanziert bekommen soll, viel zu tun hat mit der Inflation des Forschungsprofils oder des Antragsteller-Profils. Eine gewisse kritische Distanz zu dem Begriff hat sich bei mir nicht zuletzt durch diese neue Art der Universität entwickelt, wo man sich praktisch nur noch über das Forscherprofil definiert.
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Caspary:
Wir sind bei dem Thema Profile, das ist ein wichtiger Teil in Ihrem Buch. Seit wann gibt es eigentlich diese digitalen Profile bei Facebook, Twitter, LinkedIn, bei den Universitäten?
Bernard:
Auf Social Media bezogen seit zehn Jahren, würde ich sagen.
Caspary:
Das ist eigentlich eine recht kurze Zeitspanne. Was hat sich dadurch verändert in den Inszenierungspraktiken des Subjekts?
Bernard:
Man muss das vielleicht noch relativieren: Es gab ab 1997 regionale, nicht besonders erfolgreiche Vorstufen der sozialen Medien. Streng genommen existieren die sozialen Medien also seit 20 Jahren. Aber Facebook ist seit 2006 ein öffentliches soziales Netzwerk, also zehn bis 15 Jahre lang gibt es diese Kommunikationsform. Ich würde schon sagen, dass sich eine Art von Selbstpräsentationszwang mehr oder weniger ergeben hat, der vorher unbekannt war. Als ich Ende der 80er-Jahre Abitur gemacht habe, gab es nur äußerst begrenzte Möglichkeiten, sich selbst in der Öffentlichkeit darzustellen. Man konnte sich Sticker an die Jeansjacke annähen mit „Atomkraft, nein danke“, es gab die Abiturzeitung mit einem Foto und ein paar Zeilen dazu, man konnte etwas ans Schwarze Brett hängen. Innerhalb eines knappen viertel Jahrhunderts hat sich die Situation stark gewandelt. Heute muss man sich schon als Außenseiter inszenieren, wenn man darauf verzichtet, sich Profile anzulegen. Die Norm heute ist, eine Vielzahl von Profilen in sozialen Medien zu haben. Ich glaube, das hat mittlerweile sehr handfeste Konsequenzen. Ein Beispiel: Wenn man der Vater eines Jungen ist, der im Fußballverein ist, und der Trainer entscheidet sich, sämtliche Informationen, wann man sich wo einzufinden hat, nur noch über die Facebook-Gruppe bekanntzugeben, dann hat man natürlich ein Problem, wenn man nicht bei Facebook ist.
Caspary:
Man wird auch gezwungen, sich Profile anzulegen in Bezug auf die spätere Berufskarriere, weil Unternehmen sich meine Facebook-Seite anschauen, wenn ich mich irgendwo bewerbe.
Bernard:
Genau. Es hat sich m.E. eine gewisse pointierte Verschiebung ergeben. In den USA wird seit einigen Jahren darüber diskutiert, dass die jungen Männer, die diese verheerenden Amokläufe angerichtet haben, alle nicht bei Facebook oder waren. Das könnte bedeuten, dass die Abwesenheit von Profilen ein verdächtiges Indiz sein könnte für potentielle Täter. Das ist insofern interessant, als dass früher über sehr lange Zeit nur abweichende Subjekte überhaupt ein Profil bekommen haben. Heute könnte man sagen, ist es genau umgekehrt, nämlich dass die Abwesenheit von Profilen ein Verdachtsmoment geworden ist.
Caspary:
In ihrem Buch nehmen Sie zu verschiedenen digitalen Phänomenen jeweils einen kulturgeschichtlichen Exkurs vor, sie fragen: Woher kommt das Phänomen, welche
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Wurzeln hat es? Z.B. sagen Sie, die Profile, die man sich anlegt, rekurrieren auf kriminalistische polizeiliche Angelegenheiten wie Tätersuche, Fahndung, Sicherung von Straftätern. D.h. unsere Profilbilder gehen zurück auf FBI-Bilder von Tätern?
Bernard:
Ja, das war im Grunde genommen das Anliegen des Buchs. Es ist ja, glaube ich, ein Kennzeichen der digitalen Kultur, dass die attraktiven Erzählungen, die sie hervorbringt – das Teilen, die Community, die Vernetzung – eine solche glänzende Macht entfalten, dass die Vorgeschichte dieser Formate verloren geht. Und wie Sie sagen: Die Aufgabe, die ich mir mit diesem Buch gestellt habe, war zu schauen, woher kommen diese Formate und Technologien. Die Geschichte des Profils kann man sehr genau erzählen.
Das Wort „Profil“ hat ja mehrere Bedeutungen, u.a. die Seite eines Gesichts, es gibt das Profil von Gebirgen oder von Gebäuden. Aber das Profil als ein Kondensat der Biografie ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Im frühen 20. Jahrhundert fing es an in der Psychologie, in der Psychotechnik, z.B. bei der Begutachtung von schwer erziehbaren Kindern. Russische Psychotechniker haben ein Verfahren entwickelt, das sie das „psychologische Profil von Kindern“ nennen und auf dessen Basis sie entscheiden, ob ein Kind in eine Sonderschule gehen soll oder in eine normale Schule. Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt in den USA das FBI, Täterprofile im kriminalistischen Sinne zu erstellen, und seit den 70er-Jahren existiert ein Schema, wie man Serientätern auf die Schliche kommen kann. Das Anliegen meines Buches war es, sich an diesen Umschlagpunkt heranzutasten.
Woran liegt es, dass ein Format namens Profile, das seit dem Ersten Weltkrieg bis in die frühen 90er-Jahre der Psychiatrie, Psychologie und Kriminalistik vorbehalten ist, in Windeseile umschlagen und zu einem Vehikel der Selbstentfaltung wird.
Caspary:
Wenn Sie solche Phänomene zurückführen auf kriminalistische Methoden, auf den Versuch, Täter zu vermessen, dann konterkarieren Sie ja erstmal in einem gerüttelt Maß den Euphemismus unserer schönen digitalen Welt?
Bernard:
Natürlich, das hoffe ich. Das Buch sollte schon, das wäre mein Anliegen, eine Gegenerzählung sein zu jener Geschichte, die man üblicherweise von Facebook, von Mark Zuckerberg, von jeder Google-Konferenz mantrahaft aufgedrückt bekommt, nämlich dass es um produktive, aktive, das Selbst und den sozialen Zusammenhalt stärkende Verfahren geht. Ich glaube, es ist sehr wichtig, gerade weil die sozialen Medien eine solch ungeheure Macht entfaltet haben, an die Entstehung dieser Formate zu erinnern, um uns Nutzern zumindest ein Bewusstsein dafür zu geben, wo sie herkommen.
Caspary:
In Ihrem Buch geht es um die Profile, aber auch um GPS-Ortung und um Selbstvermessung, Stichwort: „quantified self“. Das sind Menschen, die mit Apple-Uhren durch die Gegend laufen, ihre Schritte zählen, ihren Puls und ihre Herzfrequenz messen lassen usw. Wie kommt es zu diesem Umschlag? Wie kommt es dazu, dass wir FBI-Methoden nachahmen, während wir gleichzeitig diese Geschichte ausblenden und die Entwicklung einfach neu interpretieren?
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Bernard:
Ich glaube, man muss in die Geschichte des Computers in den 80er- und frühen 90er-Jahren zurückgehen und die Anwendungs- und Vernetzungsmöglichkeiten übers Internet genauer untersuchen. Damals war die Vorstellung, dass ein Computer nicht eine riesenhafte Rechenmaschine einer Firma ist, sondern dass das ein Gerät ist mit einem Bildschirm, das ich selber benutze, es ging um einen Gewinn an Freiheit und Individualisierung mit Hilfe der Technik. Es gab z.B. Mitte der 60er-Jahre in Berkeley einen zumindest in den USA berühmten Studentenaufstand, wo sich die Menschen IBM-Lochkarten um den Hals hingen und gesagt haben: „Ich bin ein Werkzeug der Informationsverarbeitung“. D.h. in den 1960er-Jahren war der Computer noch ein subjekthemmendes und vielleicht ein subjektbedrohendes Utensil. Mitte der 90er-Jahre, als das Internet für alle sichtbar wird, sprechen die Leute davon, dass es die subjektive Freiheit ermöglicht. Und genau innerhalb dieser 30 Jahre hat es die Erzählung, die im später Silicon Valley genannten Teil Kaliforniens beginnt, geschafft, den Computer und das Internet umzucodieren von einer Technologie, die Individualität bedroht, zu einer Technologie, die Individualität ermöglicht. Das ist die Vorgeschichte, die man, glaube ich, erzählen muss, um die letzten 20 Jahre zu verstehen.
Caspary:
Geht es auch um eine neue Stufe der Autonomie, der Selbstbefreiung, der Selbstinszenierung?
Bernard:
Ich glaube, dass diese Vorstellung von Mitte der 90er-Jahre, als das Internet spürbar und für alle umsetzbar wurde, damals ihre Macht entfaltet hat. Wenn Sie sich zurückerinnern an die großen frühen Theoretiker des Internets Mitte der 90er-Jahre, also an Autoren wie Sherry Turkle oder John Perry Barlow – die haben gesagt, das freie Internet, dieser Raum, der Cyberspace, der nicht kontrollierbar ist, der ist für uns eine Gegenöffentlichkeit, der macht uns zu nicht-regierbaren Wesen. Das war eine unglaubliche Utopie. Und dann ist es aber sehr wichtig, sich den zweiten Schnitt zu vergegenwärtigen zu dem, was man seit 2004 das Web 2.0 nennt. Dieser Übergang hat ja dazu geführt, dass die Vorstellung von Raumlosigkeit, Körperlosigkeit, Identität, Multiplikation, wie es in den 90er-Jahren der Fall war, im Grunde polizeilich dingfest gemacht wurde. Und ich würde sagen, dass das Profil und die Ortung, also die zwei großen Themen der digitalisierten Kultur, in den letzten zehn Jahren ja eigentlich diese Phänomenen oder Wünsche der Auflösung und der Persönlichkeitsvervielfältigung aus der Frühzeit des Internets konterkariert.
Caspary:
Warum? Weil Ortung und das Profiling jetzt wieder auf realen Bildern basieren, und auf einem realen Ort, an dem ich mich aufhalte?
Bernard:
Genau. Das muss man sich von Fall zu Fall genau anschauen. Aber wenn man als Beispiel Facebook nimmt, sicher einer der mächtigsten Agenten des Web 2.0, dann kann man Folgendes sagen: Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat ja immer wieder betont, der Grund, warum Facebook um die Jahre 2007/2008 das früher sehr viel größere Netzwerk Myspace geschluckt hat, war, dass Facebook nur ein Profil pro Nutzer erlaubt hat und festgesetzt hat, dass es ein echtes Profil sein muss. Myspace
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hat dagegen beliebig viele Profile pro Nutzer erlaubt, auch Fake-Profile. Und Facebook hat das reduziert auf das eine, echte Profil. Im Kleingedruckten auf der Facebook-Seite kann man das auch nachlesen, das nur ein echtes Profil zulässig ist. Es gibt ja Fälle, z.B. der der Autorin Stefanie Sprengnagel. Sie hatte sich mit Stefanie Sargnagel angemeldet, musste den Namen aber in ihren Klarnamen Sprengnagel korrigieren, sonst wäre ihr Profil gesperrt worden.
Caspary:
Bevor es zu dieser Profilschärfung kam, galt das Ideal der fluiden Intelligenz und der multiplen Persönlichkeit. Internet-Gurus meinten, wir könnten im Netz unsere gesamten Identitäten wunderbar ausleben. Diese Idee wurde jetzt zurückgenommen, wir haben wieder den Bezug auf eine Identität. Interessant finde ich daran die im Grunde markwirtschaftliche Orientierung. Facebook will doch sicherstellen, dass jeder Nutzer sich nur einmal anmelden kann, daraus folgt, dann kann man auch nur einer bestimmten Person Produkte anbieten?
Bernard:
Genau das ist der Punkt. Es steckt eine marktwirtschaftliche Logik dahinter, die nobilitiert wird durch Philosophie. Mark Zuckerberg sagt, Facebook steht für Integrität, und Integrität heißt Identität, deswegen nur ein Profil. Die wahre Antwort, würde ich sagen, und Sie haben sie schon angedeutet, ist die: Ein Profil bedeutet, dass die Werbekunden, mit denen Facebook zusammenarbeitet, genau wissen, mit wem sie es zu tun haben. Sie kennen die Namen, Wohnorte, Alter der Nutzer und wer als Werbeadressat in Frage kommt. Ich glaube, das ist eine sehr wichtige Entwicklung, dass das, was man vielleicht die De-Virtualisierung des Netzes nennen könnte oder die Rückkehr der polizeilich verifizierbaren Realitäten, immer zu tun hat mit marktwirtschaftlichen Entscheidungen. Es geht darum, echte Menschen auf den Profilen nachzuweisen, die echte Werbekunden sind, die dann z.B. im Modus dieser personifizierten Werbung, von der ja zur Zeit viel die Rede ist, adressierbar sind.
Caspary:
Wenn es um eine Rückkehr polizeilicher Motive, vielleicht auch polizeilicher Strategien geht, befinden wir uns dann auf dem Weg in den oft beschworenen Polizeistaat, wobei wir nicht mehr von der Polizei oder dem Staat gelenkt werden, sondern von Unternehmen?
Bernard:
Es gibt eine sehr merkwürdige Paradoxie, was die technologischen Verhältnisse betrifft. Ein Polizei- oder Überwachungsstaat ist noch in den 80er-Jahren z.B. bei der Orwell-Lektüre oder bei den Volkszählungsängsten befürchtet und angemahnt worden. Wenn man sich anschaut, was Orwell 1948 in seinem Buch „1984“ geschrieben hat, ist die Dichte der Bildschirme heute um ein Vielfaches engmaschiger. Aber – und das ist der wichtige Punkt – es hat nichts mit einer politischen Despotie oder einer autoritären Regierung zu tun. Wir leben ja in Deutschland in einer freien Demokratie und haben das Gefühl, dass wir das, was wir tun, freiwillig tun, dass wir das nicht aus Zwang tun. Und diese Kombination hat mich bei diesem Buch sehr interessiert. Wir leben selbstverständlich nicht in einem Polizeistaat, aber wir sind auf eine Weise erfasst, wie es kein Polizeistaat besser könnte, aber wir arbeiten an dieser Erfassung freiwillig mit. Und warum das so ist und wie es dazu kam, ist etwas, was mich interessiert.
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Caspary:
Und wir arbeiten freiwillig mit, denn wir könnten auf unserem Smartphone die Funktion ausstellen, mit der man uns orten kann. Es ist also jederzeit möglich, aus der digitalen Welt und dieser Überwachung auszusteigen. Was ja den Menschen in dem Roman „1984“ nicht möglich war.
Bernard:
Ich glaube, wenn man sich den Roman „1984“ noch einmal genau durchliest, kommt man immer wieder zu dem Punkt, dass die Ethik dieses Romans die ist, dass das, was menschlich, was human ist, nicht erfasst werden kann. Sie erinnern sich vielleicht, der Held Winston Smith und seine Geliebte Julia versuchen ja immer wieder, sich in Sphären zu bewegen, in denen sie sich der Überwachung entziehen.
Caspary:
In den Sphären der Liebe und der Sexualität.
Bernard:
Genau. Liebe und Sexualität sind ja gewissermaßen politische Waffen in dem Roman. Mehr als einmal heißt es darin: Wir müssen dort sein, wo sie uns nicht kriegen können, weil das, was bei uns erfassbar ist, unser wahres Wesen ist. Und das, würde ich sagen, hat sich in den 30 Jahren, seitdem dieser Roman sein Jubiläum gefeiert hat, genau ins Gegenteil verkehrt. Wenn Sie sich die Disposition des Menschen heute ansehen, könnte man etwas pointiert formulieren: Unser wahres Selbst ist das, was fassbar ist.
Caspary:
Und was vor allen Dingen quantifizierbar ist – anhand von Daten, Algorithmen etc.
Bernard:
Genau, was ich in mein Profil stellen kann. Und wir haben das ja jeden Tag um uns. Sagen wir, irgendetwas Besonderes passiert, ein Prominenter taucht irgendwo auf. Dann werden um ihn herum die Handys gezückt und er wird fotografiert. Ich habe neulich ein ganz eindrückliches Foto von einem Konzert der Band U2 vor 500.000 Menschen gesehen. In den ersten Reihen waren vielleicht 10.000 Zuschauer, und von den 10.000 hielten 9.500 ihre Handys über dem Kopf und haben gefilmt. Das heißt also, schon heute gilt die Devise, dass nichts etwas ist oder dass nichts etwas gilt, was nicht gespeichert und gepostet werden kann. Verglichen mit einem Roman wie „1984“, kann man sagen, die rein technische Konstellation ist ähnlich, aber sie wird nicht mehr als etwas empfunden, was aufoktroyiert ist und wogegen man sich wehren muss, sondern sie ist etwas, an dem man zu 100 Prozent partizipieren muss, um ein Mensch zu sein. Das ist schon eine interessante Disposition unserer Zeit.
Caspary:
Sie haben in Ihrem Buch auch ein großes Kapitel zur Volkszählung im Jahr 1987geschrieben. Ich kann mich sehr genau an diese Zeit erinnern. Wir haben uns alle dagegen gewehrt. Es gab einen Aufstand, weil nicht human ist, was man kontrollieren kann. So hat man damals gedacht. Heute, das haben Sie sehr eindrucksvoll und überzeugend beschrieben, kümmert das keinen Menschen mehr, sondern wir sind irgendwie alle zu gläsernen Bürgern mutiert. Was ist da vom Menschenbild her passiert?
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Bernard:
Gläsern ist eine schöne Metapher. In Berlin, wo ich wohne, gibt es eine große Bio-Molkerei, die heißt „Gläserne Molkerei“. Das ist ein Gütesiegel. Man kann sagen, die Semantik des Gläsernen hat sich innerhalb von drei Jahrzehnten vom bedrohlichen zum ethischen und ökologischen Gütesiegel verwandelt. Ich glaube, dieses Beispiel der Volkszählung, das Sie ansprechen, ist für jeden Menschen in Deutschland ab einem gewissen Alter, 45 vielleicht, noch präsent. Jeder weiß noch, auf welcher Seite er stand und wie aufgeladen die gesellschaftliche Stimmung war. Ich habe mir die Youtube-Videos von damals noch einmal angesehen und man glaubt ja wirklich, dass wir Teil einer Massenhysterie waren. Wenn man sich nämlich diesen berüchtigten Fragebogen ansieht, ist ja die intimste Frage: Wie lang ist der Weg von Ihrer Wohnung zur Arbeit? Vergleichen Sie das mal mit dem Heute!
Caspary:
Heute posten wir ohne Bedenken Bilder unserer Wohnung, Bilder unserer Frau und unserer Kinder. Das ist zwar rechtlich schwierig, aber es ist halt so.
Bernard:
Die wichtige Frage lautet: Was bedeutet das? Ich würde sagen, um den Weg der letzten 30 Jahre zu verstehen, sollte man einen medientechnologischen Aspekt, nämlich die Digitalisierung, mit einem ökonomischen Aspekt, die Entwicklung des Arbeitsmarkts, zusammendenken. Diesen Ansatz würde ich vorschlagen. In den letzten Jahren wurde von einigen Autoren, z.B. in dem tollen Buch von Oliver Nachtwey „Die Abstiegsgesellschaft“, sehr überzeugend dargelegt, wie in Ländern wie Deutschland, vor allem aber auch Großbritannien und den USA, seit den 70er-Jahren im Grunde das normale Leben, damals „Normalerwerbsbiografie“ genannt, also nach der Schule bzw. nach dem Studium tritt man in ein Erwerbsleben ein, bleibt bei ein, zwei oder drei Arbeitgebern bis zur Rente- dass diese Normalerwerbsbiografie nur noch in den seltensten Fällen funktioniert und wir uns heute durch eine brüchige Kette temporärer Arbeitsverträge hangeln. Das ist heute die Normalität. Ich glaube, es ist sehr interessant, das mit der heutigen Geschichte des Profils in Verbindung zu bringen. Man kann sagen, solange es die Normalerwerbsbiografie gab, gab es keine Notwendigkeit für Profile. Warum soll ich mich ständig als attraktiver Arbeitnehmer profilieren, wenn ich ohnehin meine lebenslange Stelle habe. Seit den 1980er-Jahren hat sich eine Entwicklung dahingehend verändert, dass wir ständig auf Arbeitssuche sind und uns von Vertrag zu Vertrag hangeln. Und das bedeutet, dass wir immer wieder gezwungen sind, sich im Rahmen unseres Profils als kompetenten, attraktiven Arbeitnehmer darzustellen, um den nächsten Job zu bekommen. Ich glaube, in dieser Verbindung von Umstellung auf dem Arbeitsmarkt im ökonomischen System und digitalen Medien, die diese Profile möglich machen, hat man einen Zusammenhang, der manches erklärt. Es ist ja auch kein Zufall, dass die pointierte Verwendung des Profils in den Bewerbungsratgebern seinen Anfang findet, schon vor Aufkommen des Internets. Seit den 1980er-Jahren ist in Bewerbungsratgebern, ein Genre, das es übrigens vorher nicht gab, alles um das Bewerberprofil aufgebaut.
Caspary:
Das heißt aber weitergedacht auch, Medientechnologie und Neoliberalismus, der in letzter Zeit von vielen Seiten kritisiert wird, gehen eine eigenartige Symbiose ein – die gefährlich sein könnte?
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Bernard:
Das Wort „Neoliberalismus“ oder „neoliberal“ hat in den letzten fünf bis zehn Jahren jede Art von Schärfe verloren, finde ich.
Caspary:
Warum?
Bernard:
Weil es als kritischer Punkt von allem möglichen gilt, ein bisschen so wie man eine Münze drehen und wenden kann. Aber natürlich haben Sie völlig recht: Es dominiert eine Wirtschaftsmentalität, vielleicht kann man das so sagen, die sehr viele Bereiche, die vor 30 Jahren noch jenseits des Ökonomischen waren – das Soziale, das Medizinische, die Bildung, der Sport – wie in einem Sog in die ökonomische Logik hineingezogen hat. An diesem Grenzpunkt von Wirtschaftsmentalität und Digitalisierung kann man einiges sichtbar machen, glaube ich.
Caspary:
Sie schreiben in Ihrem Buch, wir sind schon so weit, dass wir unsere privatesten Dinge wie z.B. unser Bett oder unser Schlafzimmer bei Airbnb vermieten.
Caspary:
Ist dann nicht der neue Zwang oder das neue Zwangssystem, was den Orwell‘schen Zwang abgelöst hat, das ökonomische System? Wir machen uns alle zu Subjekten einer neuen Marktwirtschaft, wir lassen uns vermessen, wir legen Profile an, wir machen bei dem Wettbewerb mit um die meisten Likes, die schönsten Fotos, wir wollen am besten dastehen, wir wollen alles teilen, wir wollen unsere Wohnung vermieten. Sind wir soweit, dass das ökonomische System den Zwangsstaat abgelöst hat?
Bernard:
Als Forschungsgegenstand ist das auf jeden Fall lohnend. Und das ist auch der Punkt, den ich jetzt weiter verfolgen würde. In meinen Forschungen geht es schon um die Frage, inwieweit sind Facebook oder Google zur Regierung geworden. Und inwieweit sind genau diese Fragen der Menschenregulierung, die in den letzten Jahrhunderten der Regierung obliegen, in den letzten 15 Jahren übergegangen auf Unternehmen. Wobei – zumindest bislang – das, was uns alle vor 30 Jahren hat aufschreien lassen, nämlich dass der Staat uns „gläsern“ machen wollte, in Bezug auf Unternehmen wie Facebook und Google noch nicht als bedrohlich empfunden wird. Die Frage ist, wohin das führt. Und das muss man beobachten, glaube ich.
Caspary:
Vielen Dank, Herr Bernard.
Bernard:
Dankeschön.
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