Nach Szondi . Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin 1965–2015

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Nach Szondi .. Literaturwissenschaft .. 1964-2015
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Online-Publikation: Mai 2016  im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
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544 Seiten, 17 x 24 cm, Klappenbroschur; ISBN 978-3-86599-322-9; 29,80 EUR
Kulturverlag Kadmos, Berlin; http://www.kv-kadmos.com

Charakteristika
Kollektiven Experiment der Auseinandersetzung heutiger Studierender mit Szondi's Literatursicht und dem Heute

Inhalt
Am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin wird seit fünf Jahrzehnten Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft gelehrt. Das auf eine Überschreitung der Nationalphilologien angelegte Institut wurde 1965 für Peter Szondi eingerichtet. Indem er sich einerseits an der internationalen Komparatistik orientierte, andererseits an der Frankfurter Schule, legte er den Akzent von Anfang an auf Theorie. Das Versprechen der Theorie war gekoppelt an die Aufarbeitung der Geschichte, für die der Holocaust-Überlebende Szondi mit seiner Biographie stand. Mit seiner spezifischen Verbindung von Theorie und »philologischer Erkenntnis«, von Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik, hat Szondi keine Schule geschaffen, sondern einen singulären Raum für eine zugleich textnahe, theoretische und gegenüber dem (hochschul-)politischen Geschehen kritische Literaturwissenschaft geprägt.
Es ist kein Zufall, daß die deutschsprachige Rezeption von Derrida und Lacan von hier ausging. Der Titel »Nach Szondi« verbindet die Zäsur, die sein Tod für die Geschichte des seit 2005 nach ihm benannten Instituts darstellt, mit der Frage, welche Transformation Szondis Konzept von Literaturwissenschaft in der weiteren Entwicklung erlebte, wie es historisiert und zugleich weiterhin als Aufgabe verstanden werden kann.
Der vorliegende Band ist aus einem kollektiven Experiment der Auseinandersetzung heutiger Studierender mit Archivalien und Ehemaligen des Instituts entstanden. Der erste Teil enthält unveröffentlichte Texte aus den verschiedenen Institutsepochen, von Szondis Institut (1965–1971) über das professorenlose »Interregnum« (1971–1977) und die Zeit mit Eberhard Lämmert, Peter Brockmeier, Winfried Menninghaus, Hella Tiedemann und Gert Mattenklott bis in die jüngere Vergangenheit, in der Gastprofessuren von internationalen Autoren und Übersetzern den Horizont noch einmal erweitert haben. Die Rückblicke des zweiten Teils zeigen das Institut als einen (auch kontroversen) Erinnerungsort. Eine ausführliche Chronik rundet den Band ab.

Der Protagonist
Peter Szondi
(* 27. Mai 1929 in Budapest; † 18. Oktober 1971 in Berlin[1]) war ein Literaturwissenschaftler, Kritiker, Übersetzer und Essayist, der die Komparatistik in der Bundesrepublik institutionell begründet und sie international vernetzt hat. Er war Professor an der Freien Universität Berlin.
In seiner Rede zum 30. Geburtstag des Instituts (1996) betonte Szondis Schüler Gert Mattenklott:
„Es würde dieses Institut nicht geben ohne die Scham angesichts der Geschichte der deutschen Philologie während des Faschismus. (…) Mit anderen Worten, dieses Institut – was immer es auch sonst noch sein mag – ist zuallererst das Resultat einer wissenschaftsgeschichtlichen Sezession. Dieser Logik folgend hat seine Komparatistik ihre Orientierung nicht am Nationenvergleich der alten ‚Littérature Comparée‘, hat sie nicht an der Bonner Komparatistik genommen, sondern an der transnationalen Ästhetik und Poetologie Allgemeiner Literaturwissenschaft, wie sie der Exilant René Wellek an der Yale University beispielgebend eingerichtet hat.“
Szondi - Zitate:
„Wohl enthält alles Formale, im Gegensatz zu Thematischen, seine künftige Tradition als Möglichkeit in sich. Aber der historische Wandel im Verhältnis von Subjekt und Objekt hat mit der dramatischen Form die Überlieferung selber in Frage gestellt. (…) So wäre, damit ein neuer Stil möglich sei, die Krise nicht nur der dramatischen Form, sondern der Tradition als solcher zu lösen.“[3]
„Bis heute ist der Begriff von Tragik und Tragischen im Grunde ein deutscher geblieben – nichts kennzeichnender als die Parenthese des Satzes, mit dem ein Brief Marcel Prousts beginnt: ‚Vous allez voir tout le tragique, comme dirait le critique allemand Curtius, de ma situation.‘“[4]
„Nicht selten spielt in philologischen Auseinandersetzungen der Beleg dieselbe Rolle wie das Indiz in den Verblendungstragödien eines Shakespeare oder Kleist: der Beweis bringt den Zweifel zum Verstummen, weil an ihm selber nicht gezweifelt wird. Geschähe dies häufiger, so hätten die Fußnoten schwerlich die Aura des Wohlbegründeten.“[5]
„Die traditionelle Dichtung hat die Vergangenheit nur verwirklicht, soweit sie vom Subjekt aus der Dinglichkeit der Entfremdung zurückgewonnen war. In [Guillaume Apollinaires Gedicht-Zyklus] Zone wird versucht, das Entfremdete als solches auszusagen. Die wichtigste Folge dieses Verzichts auf Subjektivierung ist der Verlust der Werkzeit. Der Ausdruck bezeichnet die Beteiligung des dichterischen (oder musikalischen) Kunstwerks an der Zeit, in der es sich als ein zeitliches ereignet. Sie besteht in der Sinnerfüllung des leeren Nacheinanders. Sinnerfüllung aber setzt ein Subjekt voraus, welches das eine auf das andere bezieht und so Sinnbezug schafft. Die unbezogenen ‚Erinnerungsfetzen‘ können in Zone kein organisches Nacheinander, sondern (…) nur ein montiertes Nebeneinander erlangen.“[6]
„Celan greift häufig auf die Möglichkeit des Deutschen zurück, unbegrenzt neue Wörter zusammenzusetzen; es gehört dies zu den bezeichnenden Zügen seiner Sprache. Freilich handelt es sich dabei nicht um ein stilistisches Mittel (falls es dergleichen überhaupt geben sollte). Mit Hilfe der Komposita gelingt es Celan, sich in kondensierten Syntagmen auszudrücken, das diskursive Element in isolierte Wörter zu bannen, zugleich aber es derart einzuschließen, daß die Prädikation eine Freiheit erlangt, die sie angesichts der Schranken, die der syntaktischen Ambiguität (auf die sich, wie man weiß, Mallarmés Sprache gründet) gesetzt sind, von sich aus nicht hat.“[7]https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Szondi

Herausgeberin
Prof. Dr. Irene Albers ist seit 2004 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört das Verhältnis von Literatur und Ethnologie im Umfeld des Surrealismus und des Collège de Sociologie, speziell bei Michel Leiris. Zusammen mit Stephan Moebius hat sie die deutsche Ausgabe des »Collège de Sociologie 1937-1939« (hg. von Denis Hollier, übersetzt von Horst Brühmann) ediert (Berlin 2012). Mit Anselm Franke ist sie Herausgeberin des Bandes »Animismus – Revisionen der Moderne« (Zürich und Berlin 2012), der begleitend zu der Ausstellung »Animismus« im Haus der Kulturen der Welt erschien.

Fazit, vorangestellt
Die Herausgeberin Prof. Dr. Irene Albers lehrt seit 12 Jahren  Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Romanische Philologie. Mit ihrer Teamarbeit "Nach Szondi" hat sie diesem Kritiker, Übersetzer und Essayisten ein überzeitliches biografisch posthumes Denk-Mal sondergleichen gesetzt.
Dabei bilden Dokumente (Kommentare & Erinnerungen) zum und vom Institut von Peter Szondi (1965-1971) das Eigenes sowie den Briefwechsel mit Derrida und Samuel Weber u.a. einschliesst. Nach dem Tod Szondis werden das Interregnum bis 1977 und im Folgenden die Lehrorte und Treffs bildhaft beleuchtet, die die Lehrenden 'Orchidee, Filetstück. Kiebitzweg, Rheinbabenallee und Hüttenweg bis zu Rost-/Silberlaube..' benennen. Es treten dort sowohl Begehrlichkeiten, Unmut, Kämpfe zwischen Kern- und sich bildenden Gegengruppierungen bis zum Jahrhundertende auf, die im Jubiläum irgendwie ausgeglichen erscheinen. Zwischen 2005 bis heute werden Erweiterungen und Vertiefungen sichtbar, die durch Rückblicke (Texte & Gespräche) in einer Chronik & Dokumentation synergiert wurden. Für alle Interessierten an vergleichenden Sprachwissen und ihrer subjekt-zentrierten ProtagonistInnen gibt es eine wahre Fundgruppe der menschlichen Geistesnatur, mit all ihren Empfindungs-Begleiterscheinungen wie Animositäten, Machtspielchen (und dadurch manchmal sogar ausgegrenzt-Scheiternden) - aber auch zeit-/überragenden Erkenntnisbereicherungen. m+w.p16-6

Stimmen
»Die Geschichte des Berliner Peter-Szondi-Instituts erinnert an einen verschwundenen Geist.«
  Lukas Latz.
» ..daß Widerspruch am Platz war..:
Nur wenige Literaturwissenschaftler prägten ihre Disziplin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Peter Szondi. Dieser war zum einen als Komparatist wesentlich für neue Verknüpfungen einander entfremdeter Nationen und (National-)Philologien, dann zum anderen vor allem aber auch brillanter Theoretiker, der als zugleich nicht minder genialer Exeget neue Texte und Theorien miteinander aufs Fruchtbarste in Interaktion zu bringen wußte. Beides ist der Geist des Dahlemer Instituts, das inzwischen seinen Namen trägt.
Nun liegt dieser Band vor: Nach Szondi, ein Porträt Szondis und seines Vermächtnisses, der AVL der Freien Universität. Und er ist vortrefflich gelungen. Anekdoten entschärfen hier nichts, Theorien entwirklichen nichts. Der Band bietet stattdessen neben faksimilierten wie transkribierten Zeugnissen der Geschichte Szondis und jenes Instituts kluge Berichte und Rekonstruktionen, aber auch Urteile – sowie schließlich eine Zeittafel und ein Register; all dies ergibt ein Denken in Konstellationen, welches dem Thema angemessen ist. Denn schon dies, was das Institut ist, ist aufgrund von Szondis Wirken von Beginn an unklar, genauer: Transgreß dessen, was es ist.
Jean Starobinski wird „unmittelbar nach der Gründung des Seminars zu einem Gastvortrag über
»Ironie und Melancholie«” eingeladen,
Szondi macht „daraus eine Gewohnheit: bis 1971 sprachen noch […] Paul de Man, Pierre Bourdieu, Geoffrey Hartman, Peter Demetz, Hans Robert Jauß, René Wellek, Theodor W. Adorno, Harald Weinrich, Gershom Scholem und Jacques Derrida.”
Diese Facetten werden gewürdigt; sehr schön beispielsweise Derrida, von ihm wird – neben dem prima vista Wesentlichen – auch ein schönes, kleines Psychogramm gegeben, anhand einer Anekdote: Jener wird aufgrund einer Verwechslung vom Flughafen nicht abgeholt, man vermeint mit einem Filmproduzenten den Philosophen längst im Auto zu haben; der Irrtum wird aufgeklärt und der Philosoph, der etwas hilflos wartet, doch noch abgeholt:
„Derrida – der echte – hebt die Augen, betrachtet mich, betrachtet meinen Begleiter – der in der Situation sehr lachen mußte – und begreift den Irrtum. Ein wenig später fragt er mich, wie ich ihn mit diesem Mann habe verwechseln können. › … wissen Sie – die Gewalt der Metaphysik…‹ habe ich zu ihm gesagt. Und er, gekränkt: ›Gewalt vielleicht, aber nicht Brutalität!‹”
Szondi öffnet so das Institut; doch während Szondi er es so einerseits öffnet, ist er zugleich andererseits – durch seine Brillanz fast unvermeidlich – manchen ein erdrückender Lehrer; Studierende seien rasch „Delinquenten” gewesen, „Szondis Mikropoetologie” sei für Lethen letztlich „Ermutigung (gewesen), auratischen Gebilden, die Tiefsinn ausstrahlen und Wörtlichkeit meinen, fernzubleiben.” Umgekehrt führt dies mit einem naiven, auf seine Weise höchst kleinbürgerlichen und nur pseudoradikalen Unwillen wider „Orchideenfächer” bekanntlich zu vandalistischen Akten. Dies tat Szondi Unrecht, mag auch sein „pädagogisches Untalent” nicht zu leugnen sein. Mattenklott, den ich noch kennenzulernen die Ehre hatte, formuliert nach Szondi programmatisch:« http://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/irene-albers/nach-szondi