Knut Ebeling: Wilde Archäologien 2 . Begriffe der Materialität der Zeit – von Archiv bis Zerstörung
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K. Ebeling: Wilde Archäologien 2
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Online-Publikation: Mai 2016 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
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568 Seiten, 15 x 23 cm, leinengebunden (mit Stanzung) ISBN 978-3-86599-157-7; 34,80 EUR
Kulturverlag Kadmos, Berlin; http://www.kv-kadmos.com
Charakteristika
- Von der Erinnerung zum 'kollektiven Alzheimer'
Fazit, vorangestellt
Knut Ebeling subsumiert in seinen "Wilde Archäologien 2" Topoi der Materialität der Zeit – von Archiv bis Zerstörung.
Und das geht so: Was heisst 'An der Materialität der Zeit arbeiten?
Das bedeutet, äussert er sinngemäss:
Als hätte das archäologische Thema seine Autoren ferngesteuert,
kristallieren sich Eckpunkte einer interdisziplinären ›archäologischen
Methode‹ heraus:
Zu den Topoi Macht des Materials / der Materialität, den 'sogenannten wilden Archäologien:
gesellen sich stets, Politik, Ästhetik der Kunst & Kultur - in ihrer Verräumlichung der Zeit
Klar widmet sich forschende Arbeit an epistemologischen
Monumenten statt Dokumenten, Ursprüngen und deren Verschiebungen,
Verteilung des Wissens auf Topographien und Schichten, Konstruktionen
und Kontingenzen*.
Alle archäologischen Projekte außerhalbder klassischen Archäologie
forschten an Monumenten und Modellen, Transpositionen und Codierungen,
Archiven und Medien; sie ersetzten Konstitutionen
durch Konstruktionen, Begründungen durch Beschreibungen
und Kausalitäten durch Kontingenzen – sie betrieben und betreiben Revisionen
einer logozentrischen Geschichte und fördern das zu Tage, was von ihr
verborgen wird.
Dem ist voll zuzustimmen, oder aus unserer empathisch-raum-zeitlichen Sicht: Er entwirft transdisziplinär im Binnenbereichen zwischen Politik, Ästhetik und Urbanität - Verräumlichung der Zeit - von der Erinnerung bis zum 'kollektiven Alzheimer' ästhetisch formuliert 'Totale Fragmentierung**'. m+w.p16-5
*) Kontingenz
Erfüllbarkeit ist in der Logik und Mathematik ein metasprachliches Prädikat für die Eigenschaft von logischen Aussagen und Aussageformen. Eine Aussage ist erfüllbar, wenn es eine Belegung der Variablen gibt, für die der Wahrheitswert des gesamten Ausdrucks wahr ist.
http://de.wikipedia.org/wiki/Kontingenz_(Logik)
**) 'Totale Fragmentierunghttp://www.kultur-punkt.ch/galerie/eigene-arbeiten/prankl-mw-leben-werk/projekt-fragmentierung-einfuehrung.html
Inhalt
Das 20. Jahrhundert war archäologisch, nicht historisch, die Archäologie ist eine geheime Leitwissenschaft des vergangenen Jahrhunderts. Ein flüchtiger Blick auf seine innovativsten Projekte in Philosophie und Psychologie, Epistemologie und Medientheorie, Ästhetik und Kunst legt die Diagnose nahe, dass im 20. Jahrhundert ein fundamentaler Wechsel von historischen zu archäologischen Modellen stattgefunden hat. Prominente Autoren von Kant bis Kittler und von Freud bis Foucault experimentierten mit einem aggressiven Denken der Zeitlichkeit und entwickelten quer liegende Begriffe der Materialität des Wissens von Archiv bis Zerstörung.
Eingerahmt von zwei funkelnden Essays über Alain Resnais’ Filme der 1950er Jahre entfaltet der zweite Band der »Wilden Archäologien« komplementär zum ersten »Begriffe der Materialität der Zeit« als Grundlagen einer Epistemologie der materiellen Kultur. Während der erste Band die archäologischen Projekte außerhalb der klassischen Archäologie diskursgeschichtlich rekonstruierte, werden deren zentrale Begriffe im zweiten zu einem materiellen Denken der Zeitlichkeit verdichtet. Weil die digitale Epoche sich nicht historisch in der Zeit entwickelt, sondern umgekehrt mit ihr rechnet, wird eine Medientheorie ohne Subjekt entwickelt, die eher in der Materialität der Zeit als in immateriellen Geschichten operiert.
Inhaltsfolge
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Prolog
Toute la mémoire du monde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.
archive
wissen 31
2.
schichten
topographien . 71
3.
träume
transpositionen . 133
4.
medien
codierungen 219
5.
monumente
materialitäten . 327
6.
konstruktionen
rekonstruktionen 391
7.
ursprünge
zerstörungen . 463
Epilog
Hiroshima, mon amour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
Detailliertes Inhaltsverzeichnis Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Detailliertes Inhaltsverzeichnis Band 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
****
Leseprobe / Vorwort
Die digitale Epoche entwickelt sich nicht historisch in der Zeit, sondern
rechnet materiell mit ihr. Vor diesem Hintergrund entfaltet der zweite
Band der Wilden Archäologien, der das Projekt einer archäologischen
Fundierung der Theoriegeschichte der Moderne abschließt, ein anderes
Denken der Zeitlichkeit als das geschichtliche. Er entwickelt Begriffe der
Materialität der Zeit als Grundlagen einer Epistemologie der materiellen
Kultur: eine materielle Medientheorie ohne Subjekt. Während der erste
Band die archäologischen Projekte außerhalb der klassischen Archäologie
diskursgeschichtlich rekonstruierte, werden deren zentrale Begriffe im
zweiten zu einem materiellen Denken der Zeitlichkeit verdichtet.
Beide Bände folgen einer komplementären Logik, in der ein Buch ins
andere greift: Die Begriffe der Materialität der Zeit, die den vorliegenden
zweiten Band strukturieren, erscheinen im ersten Band als Marginalspalte;
umgekehrt bilden die Autoren, die den vorliegenden Band (unter vielen
anderen) in der Marginalspalte begleiten, die Exposés oder Schichten
des ersten Bandes. Der erste Band startet also von Autoren, der zweite
bewegt sich entlang von deren Begrifflichkeiten; der erste Band beschreibt
Theorien der materiellen Kultur von Kant bis Kittler. Der zweite Band
entwickelt deren Begriffe der Materialität der Zeit entlang zentraler
Konzeptionen von Archiv bis Zerstörung.
Eine leichte Verschiebung der Korpora: Während der erste Band einen
Korpus von Kant bis Kittler umfasste, konzentriert sich der zweite auf
Schriften von Freud bis Foucault. Ihre Begriffe der Materialität der Zeit
werden jeweils zu zwei Begriffen zusammengeordnet, die bereits
im ersten Band Wilde Archäologien I:
als Marginalspalte erschienen sind:
Archive / Wissen
Schichten / Topographien
Transpositionen 7 Träume
Medien / Codierungen
Materialitäten / Monumente
Vorwort
Rekonstruktionen / Konstruktionen
Ursprünge / Zerstörungen
Diese keineswegs vollständigen Ensembles sind weniger als hierarchische
Ober- und Unterbegriffe zu verstehen, sondern vielmehr als an-archische
Blöcke mit mehreren Schichten. Weitere Begriffe (wie zum Beispiel
Sichtbarkeit und Verborgenheit) wären denkbar gewesen, während die
vorliegenden auch anders hätten zusammengefügt werden können: eine
unabgeschlossene Liste.
Inhaltlich bildet der zweite Band den Material- und Stoffband zum
thesenstärkeren ersten. Die zentrale These des ersten Bandes besteht in
der Annahme, dass die verhandelten Autoren von Kant bis Kittler eine
Sequenz von Theorien der materiellen Kultur bilden. Diese These wird
vom zweiten Band insofern wieder aufgenommen, als Freud, Benjamin
und Foucault Begriffe der Materialität der Zeit entwickelten: Allein die
Tatsache, dass diese Theoretiker Begriffe schufen, die sich in ähnlichen
Begriffen der Materialität der Zeit bündeln lassen, mag als Beleg der These
des ersten Bandes von der Existenz von Wilden Archäologien herhalten:
Wie sonst sollte man den einigermaßen verblüffenden Befund erklären,
dass von Grund auf verschiedene Theoretiker von Kant bis Kittler mit
erstaunlicher Konsistenz an ähnlichen Begriffen der Materialität der Zeit
arbeiteten?
Als hätte das archäologische Thema seine Autoren ferngesteuert,
kristallieren sich Eckpunkte einer interdisziplinären ›archäologischen
Methode‹ heraus: Verräumlichung der Zeit, Arbeit an epistemologischen
Monumenten statt Dokumenten, Ursprüngen und deren Verschiebungen,
Verteilung des Wissens auf Topographien und Schichten, Konstruktionen
und Kontingenzen. Alle archäologischen Projekte außerhalb
der klassischen Archäologie forschten an Monumenten und Modellen,
Transpositionen und Codierungen, Archiven und Medien; sie ersetzten
Konstitutionen durch Konstruktionen, Begründungen durch Beschreibungen
und Kausalitäten durch Kontingenzen – sie betrieben Revisionen
einer logozentrischen Geschichte und förderten das zu Tage, was von ihr
verborgen wird.
In der Zwischenzeit sind einige ergänzende Publikationen erschienen
wie das Handbuch materielle Kultur (Stuttgart 2014), Macht des Materials/
Politik der Materialität (Berlin/Zürich 2014) oder Ästhetik der Materialität
(München 2015), die jedoch eher ein Thema diskutieren als eine Theorie
zu entwickeln. Wie um den interdisziplinären Ansatz der These von
der »Aktualität des Archäologischen« (Ebeling/Altekamp 2004) zu stützen,
ist das Thema mittlerweile – über Cyprien Gaillards notorische Zähne
von Schaufelbaggern aus der kalifornischen Wüste hinaus (Roelstraete
Vorwort 9
2014:116ff) – auch mit großen Überblicksausstellungen in der Bildenden
Kunst international gewürdigt worden: Arkhaiologia. Archäologie in der
zeitgenössischen Kunst (CentrePasquArt Biel/Bienne, 2011) und The Way of the
Shovel: On the Archaeological Imaginary in Art (Museum of Contemporary
Art, Chicago, 2014).
Danken möchte ich erneut allen ehemaligen Mitgliedern des (mittlerweile
selbst archäologischen) Forschungsprojekts »Archive der Vergangenheit.
Wissenstransfers zwischen Archäologie, Philosophie und Künsten«
an der Humboldt-Universität zu Berlin (www.archive-der-vergangenheit.
de). Zu Dank verpflichtet bin ich ebenso den Förderern des Projekts, der
VolkswagenStiftung Hannover, der Kunsthochschule Berlin Weißensee
sowie Wolfram Burckhardt vom Kulturverlag Kadmos. Gewidmet sind
die beiden Bände den beiden Inspiratoren des Projekts: Friedrich Kittler
(1943−2011) und Detlef Rößler (1942−2013).
Prolog
Toute la mémoire du monde
Der Prolog beginnt mit einem Prolog: Im Vorspann von Toute la mémoire
du monde, einem erstaunlichen filmischen Essay von 1956 von Alain Resnais
über die französische Nationalbibliothek, die Bibliothèque Nationale,1
schälen sich die weißen Umrisse einer angestrahlten Apparatur aus einem
schwarzen amorphen Nichts heraus. Während die Apparatur in den ersten
Bildern des Films, gewissermaßen im Vorspann des Vorspanns, bereits
hinter den weißen Buchstaben der Credits erscheint, wird ihr Glanz erst
nach den glanzvollen Namen (wie »Chris und Magic Marker« oder »Agnès
Varda«) vollends sichtbar: Die Kamera blickt in der ersten Einstellung des
Films direkt in eine Kamera, das heißt in ein raumschiffartiges Gebilde
aus vielen Teilen, zentriert durch ein Objektiv in der Mitte und ein Stativ,
das es wie ein Sockel hält. Schon wird dieses Dispositiv von unten gezeigt,
wie eine Statue, wie eine Skulptur, vor der die filmende Kamera niederkniet,
sich mit ihrem Blick unterwirft, ganz ähnlich wie in jenem anderen,
ebenfalls gemeinsam mit Chris Marker gedrehten Dokumentarfilm Les
statues meurent aussi von 1953, der skandalöserweise keine europäische,
sondern die afrikanische Skulptur ausstellte.2
Nachdem die Kamera in Toute la mémoire du monde vollständig
exponiert und ausgestellt ist wie ein Kunstwerk – was 1956 ebenfalls ein
Skandal gewesen sein mag –, springt auch schon das nächste Medium
von oben aus der Dunkelheit herunter: ein Mikrofon, welches das tête
à tête der beiden Filmkameras wie bei einem Boxkampf kommentiert:
»Weil ihr Gedächtnis kurz ist, versammeln die Menschen unzählige
Gedächtnisstützen«3 – wie Kamera und Mikrofon beispielsweise, die
sich hier selbst kommentieren, aber auch wie die älteren Aufzeichnungsmedien
Papier, Heft und Buch, die im Anschluss an den Kommentar als
1 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=i0RVSZ_yDjs (letzter Besuch 25.10.2014). Vgl.
Stefan Hesper, Der sterbliche Körper des Geistes. Die Bibliothek als Gedächtnismetapher
in Toute la mémoire du monde von Alain Resnais, in: Scarlett Winter/Susanne Schlünder,
Körper-Ästhetik-Spiel, München 2004, 61−70.
2 Vgl. Birgit Kämper/Thomas Tode (Hg.), Chris Marker, Filmessayist, München 1997,
205−217; Catherine Lupton, Chris Marker: Memories of the Future, London 2005, 61.
3 Alle Übersetzungen des Kommentars zu Toute la mémoire du monde basieren auf der
Arte-Fassung.
12 Prolog
gestaltlose Masse an Haufen, Stapeln und Bergen erscheinen. Gemeinsam
sind die Medien der Aufzeichnung unter sich in einer Kaverne der
Kommunikation, die mit den Bildern ungeordneter Papierstapel, Aktenberge
und Büchertürme den modrigen Geruch von Altpapier verströmt.
Kein Mensch stört diese melancholische dead media archaeology vor
jeder Medienarchäologie, in der unterschiedliche Generationen von verschütteten
Aufzeichnungsmedien in einer Art Paragone miteinander zu
konkurrieren scheinen.
Diesen Gewölben des Gedächtnisses, durch die die Kamera in ebenso
eleganten wie unmenschlichen Travellings hindurch steuert, die an die
Kamerafahrten durch die Wiener Katakomben in Orson Welles’ Der
dritte Mann von 1949 erinnern,4 ist jedoch nur der Vorspann eines Films
gewidmet, der ansonsten den Gedächtnisort der Bibliothèque Nationale
als Kernreaktor eines ausgelagerten Gedächtnisses vorführt. Der Film,
beziehungsweise die fulminanten Kamerafahrten von Ghislain Cloquet, die
ein paar Jahre später in Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad wiederkehren,
beschreibt die Zeitlichkeit der Archäologie und ihrer Archive (oder der
Archive und ihrer Archäologie) ebenso gut wie eine archäologische Theorie
– die 1956 in Gestalt von Benjamins späten Passagen-Manuskripten
auch noch in der abgefilmten Bibliothek schlummerte, versteckt von
seinem Bibliothekar Georges Bataille, wo Giorgio Agamben sie 1981
hinter einer Bücherreihe auffinden wird.
In der Einstiegssequenz wird die Kamerafahrt durch das modrige
Gedächtnisgewölbe, das die Bibliothek unterlegt und untergräbt wie ein
Keller (von dem jedoch keineswegs klar ist, ob es sich tatsächlich um
den Keller der B.N. handelt), jedoch mit einem Mal unterbrochen – und
zwar durch einen Scheinwerfer, ohne den die anderen Dinge wieder in
Dunkelheit versänken: Er leuchtet plötzlich wie in einer Geisterbahn so
grell auf, dass er den Betrachter blendet.5 Dieser Lichtstrahl, der nichts
sichtbar macht, sondern als Exzess der Sichtbarkeit jedes Sehen und jede
Aufzeichnung verhindert, dieses überschüssige, exzessive Licht demonstriert,
dass es sich trotz des Verfalls, trotz der vermodernden Akten und
den verschimmelnden Büchern, die überall zerstreut liegen wie nach einer
Verwüstung, um ein künstliches Verlies handelt. Auch die Licht- und
Fensterlosigkeit des Gewölbes macht darauf aufmerksam, dass man sich
in einem Kellerlabyrinth befindet, in dem immer neue Gänge und Grüfte
angesteuert und ausgeleuchtet werden, in dem immer neue Aktenstapel
4 Vgl. Berndt Anwander, Unterirdisches Wien: Ein Führer in den Untergrund Wiens. Die
Katakomben, der Dritte Mann und vieles Mehr, Wien 2000.
5 Vgl. Knut Ebeling, Too much (light). Blendung, Exzess und die Dekonstruktion des
Sehens, in: Kathrin Busch/Helmut Draxler (Hg.), Theorien der Passivität, München
2013, 142−159.
Prolog 13
und Archivkästen in den Blick geraten: jene verlassene Welt der Dokumente,
die ihr tagloses aber untotes Dasein fristen. Auch wenn die Kamera
über diesen liegen gebliebenen Resten, Haufen und Überbleibseln schwebt
wie ein Gespenst in den Katakomben der Bibliothek, sind sie mit Händen
zu greifen: Man kann dem Papier beim Verwesen und der Materialität
der Zeit bei ihrer Arbeit zusehen. Dabei erkennt man nicht einmal einen
Buchdeckel oder einen Buchstaben, jede Lesbarkeit verschwindet in der
Masse der nummerierten Bücherkisten, Aktenschränke und -stapel.
Von diesem Chaos der Dekomposition ist jedes Licht ausgeschlossen,
nicht nur die Physik des hellichten Tages, sondern auch die Metaphysik
eines Lichts der Vernunft, das keinen Sinn in der papiernen Hölle erkennen
kann. Man blickt in einen namen- und rettungslosen Abgrund, in
dem sich alles zersetzt, was man sieht: Niemand wird diese Reste von
Papierkriegen jemals sehen, geschweige denn lesen oder ordnen. Was hier
auf den Betrachter wartet, ist eine Hölle der Entdifferenzierung, regressiv
wie ein Wahnsinniger und entzivilisiert wie ein messy. Was ist das für ein
abseitiger Ort, der hier so dramatisch aufgeführt wird? Gewiss ist die
von Resnais gezeigte Arbeit einer Musealisierung der Vergangenheit eine
»Heterotopie der Zeit«,6 als die Michel Foucault die »Idee« beschrieb,
»alles zu sammeln und damit gleichsam die Zeit anzuhalten oder sie
vielmehr bis ins Unendliche in einem besonderen Raum zu deponieren;
die Idee, das allgemeine Archiv einer Kultur zu schaffen; der Wunsch, alle
Zeiten, alle Epochen, alle Formen und Geschmacksrichtungen an einem
Ort einzuschließen; die Idee, einen Raum aller Zeiten zu schaffen, als
könnte dieser Raum selbst endgültig außerhalb der Zeit stehen.« Gewiss.
Doch der Film von Resnais zeigt diesen Raum nicht nur von außen, man
sieht keine einzige Außeneinstellung auf das imposante Gebäude der
Nationalbibliothek. Vielmehr steigt die Kamera wie eine Sonde in dieses
Monument ein, in seine Gänge und Kanäle, in seine Infrastrukturen
und Betriebssysteme bis zur Rohrpost. Diese menschenlosen Medien in
der Tiefe erinnern an eine unterirdische Ausgrabungssituation, an eine
»Expedition in die unterseeischen Tiefen« (GS II 1077), von der ein Walter
Benjamin bereits berichtet hatte.
Aus dieser weniger menschlichen als maschinellen Perspektive zeigt
der Hauptteil des Films, was den Besuchern der Bibliothek verborgen
bleibt: ein beeindruckendes Panorama an Magazinen und Depots, Gewerken
und Handwerkern, Verfahren und Techniken; das ameisenhafte
Gewimmel des Sammelns mit seiner Geschäftigkeit der Ein- und Ausgänge,
der Verzeichnungen und Registraturen, der bienenfleißigen Angestellten,
die sich nicht grüßen, wenn sie sich passieren. Sie haben kein Gesicht
6 Michel Foucault, Die Heterotopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt
am Main 2005, 16.
14 Prolog
und keinen Namen, sondern bedienen eine große Maschine, für deren
Funktion sie sorgen wie jener bekittelte Herr im Rechenzentrum der Bibliothek,
der an seinen Reglern steht »wie Kapitän Nemo«. Kurz: Es ist ein
ganz und gar posthumanes Gedächtnis, das Resnais zeigt – alles andere
als ein konventionelles ›Porträt‹ einer Institution mit ihren Menschen,
Gesichtern und Namen; es handelt sich eher um eine Versenkung in den
Maschinenraum eines anonymen Gedächtnisses, in eine namenlose Fabrik
des Gedächtnisses mit ihren Abläufen und Verfahren, Funktionen und
Institutionen, Medien und Ökonomien. Dieser radikale Schwenk in den
Innenraum einer Gedächtnisfabrik mit ihrer »Fabrikation der Fiktionen«7,
von der Carl Einstein zur gleichen Zeit sprach, und in der er weniger
mit Benjamin als mit Bataille zusammenarbeitete, erinnert an jenen viel
späteren künstlerischen Kontextualismus, der ebenfalls den Blick auf
Werke gegen den Blick hinter die Kulissen des Museums austauschte.8 In
seinen Ausstellungen sah man ebenfalls keine Kunstwerke mehr, sondern
die Medien und Techniken, die Verwaltungen und Institutionen am Werk,
in die eine Ausstellung verstrickt war.
Resnais beschreibt 1956 auch die Zeitlichkeit eines Archivs in seiner
Differenz – und zugleich räumlichen Nähe – zur Gedächtnismaschine der
Bibliothek. Der organlose Körper dieser Maschine vergrößert sich ständig,
ohne zu wachsen. Er steht im Gegensatz zum organischen modrigen
Kellerraum des Archivs – einer »Ansammlung von Dokumenten […]
deren Zunahme sich auf organische, automatische Weise vollzieht« (Farge
2011:9). Aus diesem unterirdischen Raum des Archivs geht es nach dem
Ende des Vorspanns in einem schnellen Kameraschwenk sofort hinauf zu
den Kuppeldächern der Bibliothek, was an Gaston Bachelards Poetik des
Raums erinnert, seine vertikale Phänomenologie des Hauses zwischen der
Irrationalität der Keller und der Rationalität der Dächer, die ein Jahr nach
dem Film erscheint. Im Gegensatz zum Turm, den Dächern und Kuppeln
der Bibliothek bildet das Archiv darunter einen jener »Ultra-Keller« (Bachelard
1987:46), von denen auch Henri Bosco in dem Roman L’Antiquaire
berichtet, in dem »vielfältige Kellerräume« aus dem Dunkel auftauchen,
verbunden »durch ein Netz von Stollen, eine Gruppe von Zellen mit oft
schwer verschlossenen Türen« (Bachelard 1987:47).
Doch was ist eigentlich ein Keller? Was ist der Untergrund, aus dem
die archäologischen Funde und Befunde ans Tageslicht gelangen? Ist ein
Keller allein Abwesenheit des Lichts oder Übermaß an Dunkelheit? Fehlt
hier nur das Licht oder zeigt dieses Fehlen eine ursprünglichere Finsternis?
Auf diese Frage haben Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Untergrund
schon 1864 geantwortet, die auch als Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
7 Carl Einstein, Die Fabrikation der Fiktionen, Reinbek bei Hamburg 1973.
8 Vgl. Peter Weibel (Hg.), Kontext-Kunst. The Art of the 90ies, Köln 1994.
Prolog 15
übersetzt wurden – gewiss die berühmteste Kellerliteratur, die Friedrich
Nietzsche begeisterte und über die Bataille in der Expérience intérieure
meditierte. In ihren Lektüren wird der Untergrund zu einem Raum der
Negativität, ungreifbar wie ein Schatten, unmoralisch, boshaft und eigenschaftslos.
Von daher wurde der Keller auch politisch als ein Raum
der Reaktion und der Verschwörung beschrieben (was wiederum daran
erinnert, dass Archäologie und Archiv immer wieder eine empfindliche
Nähe zur Verschwörungstheorie aufweisen, weil sie zuweilen ganz andere
Geschichten und radikal abweichende Vergangenheiten bergen). Damit
ist der Keller der Ort einer »geheimen Geschichte der Menschheit«, wie
Benjamin (GB VI 93) das Projekt Batailles einmal bezeichnete, der wiederum
in Dostojewskis Keller einen Raum des Verfalls und der Anfechtung
sah: eine »Wirkung der Auflösung«, eine »Auflösung gleich einem winterlichen
Hochwasser« (Bataille 1943:56f). In ihm sah auch Arlette Farge
(2011:9) das Archiv ertrinken, wenn sie es mit »Springfluten, Lawinen
oder Überschwemmungen« vergleicht.
Tatsächlich hat auch Resnais’ Keller in Toute la mémoire du monde
schon rein visuell etwas Abgetauchtes und Unterseeisches an sich, das nur
mit den »Begriffen des Tauchgangs, des Eintauchens oder gar des Ertrinkens
« (Farge 2011:9) zu beschreiben ist. Er sieht aus, als sei eine Flut durch ihn
hindurchgegangen, ein Desaster geschehen, ein Wahnsinn ausgebrochen
oder in ihm eingesperrt gewesen: ein Wahnsinn, wie in jenem anderen
Keller von Resnais, der gleichfalls ein Keller des Gedächtnisses ist – der
Keller von Nevers, in den die kahl geschorene Heldin von Hiroshima
mon amour eingesperrt wird, in jenem Film, der als erster ›Spielfilm‹ von
Resnais auf seinen ›Dokumentarfilm‹ Toute la mémoire du monde folgte.
Sie landet im hochwassergefährdeten Keller von Nevers an der Loire, weil
sie sich während der Okkupation in einen deutschen Soldaten verliebt
hatte, nach dessen Tod sie ihr Heil allein im Wahnsinn findet; in jenem
Keller, an den sie sich viele Jahre später in Hiroshima erinnert, in dem das
Gedächtnis des Kellers zum Keller des Gedächtnisses geworden ist und das
Gedächtnis zu einem Gefängnis; und wo es zu einer Überlagerung zweier
Katastrophen kommt: zwischen der Katastrophe von Hiroshima und ihrer
Katastrophe von Nevers, als sei der Keller in Nevers das Hiroshima ihres
Lebens gewesen – eine fatale und fragwürdige »Verzahnung von Nevers
und Liebe, von Hiroshima und Liebe«,9 wie Marguerite Duras in ihrem
Szenario schreibt: »Eines Tages, so sagt sie ihm, eines Tages in Nevers
ist sie wahnsinnig gewesen. Toll aus Bosheit. […] Geschoren ist sie in
einem Keller geblieben, in Nevers. Erst als Hiroshima sich begab, sah sie
anständig genug aus, um den Keller zu verlassen.«
9 Duras 1970:11. Vgl. Alain Resnais, Réponse à Michel Delahaye, Cinéma vol. 59, Nr.
38, 1959.
16 Prolog
Bei Duras (1970:53f) erscheint der Keller des Archivs ebenfalls als Raum
der Tatenlosigkeit, in dem die Hände unnütz werden, in dem sie nichts
tun können, wo es keine Tat gibt, keine Geschichte, keine Zeit, keine
Verbindung zur Zeit und keine Aufzeichnung:
»Sie … wie ist solcher Schmerz zu ertragen? […] Die Hände werden unnütz
in den Kellern. Sie kratzen. Sie reißen sich an den Wänden wund… bis
sie bluten… […] Ich habe nur mehr ein Gedächtnis, Gedächtnis deines
Namens.
Er Es sind sehr alte, sehr feuchte Keller, diese Keller in Nevers… Du sagtest…
Sie Ja. Voller Salpeter. [Ich bin ganz verblödet da.]
Ihr Mund beißt in die Wände des Kellers in Nevers.«
Im Keller existiert nur die Fremdheit und das Andere, das der Protagonistin
in Gestalt einer Katze Gesellschaft leistet:
»Sie Manchmal kommt eine Katze herein und schaut. […] Ich weiß nichts
mehr.
Eine Katze kommt, in Nevers, in einen Keller und schaut diese Frau an.
Dann fügt sie hinzu:
Sie Nachher weiß ich nichts mehr.
Er Wie lange?
Sie bleibt befangen in ihrer Besessenheit.
Sie unwidersprechbar: In Ewigkeit.«
In der organischen Animalität des von Duras (1970:53ff) heraufbeschworenen
Archiv-Kellers ist jede Geschichte gelöscht, das Wasser der Ewigkeit
hat jede Konkretion weggeschwemmt, kahl geschoren wie die namenlose
Frau, die nur das Gedächtnis seines Namens besitzt. Aber auch Dostojewskis
Kellerlochkreatur beklagt die Abstraktion – eine Abstraktion, die
nicht vom Denken kommt, sondern aus dem Übermaß an Nichtgedachtem,
aus einem Exzess des Konkreten, das jede Bestimmung verliert wie
im Wahnsinn, wie im Schmerz: »Nichts ist mehr schmerzhaft, krankhaft«,
schreibt Bataille (1943:57) über Dostojewskis Kellerlochkreatur weiter,
während Sie sich im zweiten Keller von Resnais, dem von Nevers, nur
noch fragt: »Wie ist solcher Schmerz zu ertragen?« Inmitten ihres Wahns
gibt sie selbst eine Antwort. Zwar heilt die Zeit keine Wunde, aber die
Wunden vernarben in der Materialität der Zeit: Schließlich kommt die
Zeit, in der »der Schatten schon weniger rasch bis zu den Mauerecken
des Zimmers vordringt« (Duras 1970:53ff). Mit der Zeit verändert die Sonne
ihren Lauf und die Schmerzen werden geringer: ein banaler und linearer
Fortschrittsoptimismus, ohne den unsere Zivilisation nicht wäre – ohne
das Vertrauen darauf, dass mit der Zeit die Wunden heilen, das Vergessen
einsetzt und der Wahn zur Vernunft gebracht wird. Doch das bedeutet
umgekehrt, wie Bataille (1943:71) aus der Perspektive der Verwundung unmittelbar
nach der Dostojewski-Stelle schreibt, dass »jede Art von ErrunProlog
17
genschaft mit Sicherheit die Leistung eines der Bedrohung entfliehenden
Menschen« sei. Aus der Perspektive dessen, wovon sich der Fortschritt
entfernt, verdeckt jede Institution, »jede Art von Errungenschaft« die
Situation, die sie hervorbrachte: So wie jede Narbe Flucht und Vergessen
ihrer Wunde ist, vergisst die Geschichte ihr Fundament, verachtet das
Rationale das Kreatürliche und heilt die Vernunft den Wahn.
Dieser Logik des Fortschritts entsprechend, erhebt sich im Hauptteil
von Toute la mémoire du monde, gedreht ein Jahr vor der Handlung von
Hiroshima mon amour im Japan des Jahres 1957, die stolze Bibliothek
über die düsteren Verliese des Kellers. Die vertikale Ordnung der Kultur
steht den Verwüstungen des barbarischen winterlichen Hochwassers so
souverän gegenüber wie die lichten Höhen der Wissenschaft den Entdifferenzierungen
des Wahns: Zeitgleich zu Bachelard installiert Resnais’ Film
eine vertikale Phänomenologie des Gedächtnisses, in der die aufgerichtete
Ordnung der Regale oben gegen das Chaos unten steht, die Rationalität
transparenter Vitrinen gegen die Undurchsichtigkeit des Haufens, die
Mühen der Konservierung gegen die Fallengelassenheit der Verwesung,
der geordnete Zugriff der Kataloge gegen die chaotischen, namenlosen,
unadressierbaren Papierstapel – denn ohne Katalog sei »diese Festung«
der Bibliothek »wie ein Land ohne Straßen«, wie der Kommentar des
Films von Rémo Forlani weiß.
Man kann diesen Film mit seiner aufklärerischen Verteilung von
Licht und Dunkel als Feier einer Kultur verstehen, die sich über dem
immer drohenden Zerfall und das stets lauernde Chaos errichtet. Doch
weil diese Ordnung oben eine künstliche und repressive ist, die auf der
Verdrängung ihrer Herkunft unten aufbaut, ist Deleuzes (1997:263−277)
Deutung von Resnais’ Kino als eines Gehirnkinos, das im Gegensatz zum
Körperkino von Cassavetes, Godard und Rivette stehe, nicht nur falsch
(schließlich führt Resnais auch den drohenden körperlichen Zerfall des
›Gehirns‹ vor). Andererseits ist es vollkommen richtig, wenn Deleuze
(1997:266) die »infernalische Organisation der Vernichtungslager«, über
die Resnais ein Jahr vorher 1955 sein Dokumentarfilm-Monument Nuit et
bruillard gedreht hatte, nicht mit dem Kellerraum von Toute la mémoire
korrespondieren lässt, sondern umgekehrt mit der »kosmisch-spirituellen
Atmosphäre der Nationalbibliothek«. Schließlich bildete Toute la mémoire
du monde eine Trilogie gemeinsam mit dem Lagerfilm Nuit et bruillard
und Les statues meurent aussi: Die Barbarei der Lager erscheint hier nicht
als Gegenteil der Kultur der Bibliothek, sondern als ihr Komplement, so
wie das Vergessen der Fundamente von der Bibliothek ebenso infernalisch
organisiert wirkt wie die Lager selbst, weswegen der Wahn der Lager
auch ein anderer ist als der Wahn des Kellers von Nevers.
Weil die Barbarei nicht das Andere der Kultur ist, das sie verdrängen
muss, sondern ihr Komplement, auf dem sie aufbaut, sagt auch der Kom18
Prolog
mentar von Forlani in Toute la mémoire, dass der »langsame Kampf gegen
den Tod« am Ende aussichtslos sei, weil die Ordnung des Gedächtnisses
gegen die eigene Angst aufgerichtet werde: »Diese vollgestopften Kellerräume
machen den Menschen Angst, Angst unter Schriftbergen begraben
zu werden. Um ihre Freiheit zu bewahren, bauen sie Festungen.«10
Erinnern wir uns: Weil Menschen Systeme, Bibliotheken, Kulturen
errichten, »um entkommen zu können«, weil »jede Art von Errungenschaft
mit Sicherheit die Leistung eines der Bedrohung entfliehenden Menschen«
sei, wie Bataille geschrieben hatte, ist die Flucht vor der eigenen Angst
von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Festung des Gedächtnisses
wird ebenso zum »Gefängnis« wie der Gefangenen im Keller von Nevers
ihre Erinnerung – schließlich halte man auch »in Paris die Wörter in der
Nationalbibliothek gefangen«, wie der Film verkündet. Und tatsächlich
zeigt der Film die Architektur der Bibliothek auch als Gefängnis, mit Blicken
durch Eisengitter, über die Wärterfüße gehen. Aus diesem Gefängnis
gibt es kein Entrinnen, solange das spätere Leben der Gefangenen auf
der Verdrängung seiner Ursprünge aufbaut, auf jenen »vollgestopften
Kellerräumen«, die älter sind als die Bibliothek. Daher steht am Beginn
des Films auch nicht die Bibliothek, sondern die Schicht, die vor ihr war;
nicht die Ordnung der etablierten Institution, sondern die Dekomposition
eines »Erdreichs«, das Benjamin 25 Jahre vorher (in einem nicht in der
B.N. lagernden Manuskript) als »Medium« bezeichnet hatte, »in dem
die alten Städte verschüttet liegen« (GS IV 400).
Die verschüttete alte Stadt von Resnais ist eine Nekropole der Dokumente,
ein Erdreich ungeordneter Papiere, das in einer Art Archäologie
der Bibliothek vorgeführt wird. Ausgegraben wird hier die ältere
Schicht, die von der Bibliothek selbst verdeckt wird. Das namenlose und
unerforschbare Archiv unten ist die Bedingung und das Fundament jeder
Forschung, jeder Bibliothek, jeder Kultur, die so feierlich in der Etage
darüber vorgeführt werden – womit der Gegensatz, den Toute la mémoire
du monde zwischen Vorspann und Hauptteil aufbaut, zwischen Keller
und Dach, Nacht und Tag, Unterirdischem und Überirdischem, lesbar
wird als Gegensatz zwischen Archiv und Bibliothek, Archäologie und
Geschichte, Codieren und Repräsentieren.
Aber weshalb ist das Archiv in diesem monumentalen Film in düsteren,
unzugänglichen Kellerräumen untergebracht, die Bibliothek aber unter
dem Himmel der Kuppeln, die von den göttlichen oder gurskyhaften
Einstellungen der Kamera ins Bild gesetzt werden? Warum lässt der
Film die Dokumente im Archiv vermodern, während die Bibliothek sie
10
Original: »Les hommes ont peur d’être ensevelis sous tous les écrits alors, pour préserver
leur liberté, ils construisent des forteresses.«
Prolog 19
akribisch konserviert? Konserviert nicht auch ein Archiv? Lesen wir zur
Annäherung an diese Fragen einen kleinen Text eines weiteren Schriftstellers
im Archiv, Michel Butors Die Stadt als Text. Zunächst erscheinen
Bibliothek und Archiv bei Butor (1992:12) wie zuvor bei Foucault noch
Seite an Seite: »Bibliotheken, Archive, Behörden, was für Lagerstätten!
Alle Räume der Hochhäuser sind vollgestopft mit Papier oder Mikrofilmen.
« Es geht Butor in seinem Text also ebenso wie Resnais in seinem
Film um das, »was sich in den Räumen anhäuft«; doch beginnt er sich
bereits von der Bibliothek zu entfernen, wenn er einen »verborgenen Text«
ins Spiel bringt, »der auf den Blättern eines noch nicht aufgeschlagenen
Buches schläft, in den Kellerräumen der Lager«. Nicht allein wegen der
»Kellerräume der Lager«, auch aufgrund des »verborgenen Texts« lässt
sich Resnais’ Gegensatz zwischen den gelesenen Büchern der Bibliothek
und den gelagerten Papieren eines Archivs auch bei Butor wiederfinden:
Auch Butor begeistert sich wie Resnais für Dokumentenfriedhöfe in verborgenen
Gewölben, in denen sie darauf warten, von der Institution der
Bibliothek gerettet und aus ihrem Verlies befreit zu werden. Aber warum
sind die von Resnais gezeigten Akten im Keller untergebracht und Butors
Bibliothek in »Hochhäusern« – und das in einer Zeit, als die gigantischen
Büchertürme der neuen Bibliothèque Nationale in Tolbiac noch gar nicht
existierten? Warum sind die Dokumente im Archiv »verborgen«, in der
Bibliothek aber lesbar?
Bibliotheken existieren, weil ihre Dokumente von Öffentlichkeiten
genutzt werden, während Archive abseits jeder Öffentlichkeit vor sich hin
schlummern. Die zentrale Aufgabe der Archive besteht in der Sammlung
ihrer Dokumente, nicht in ihrer Verfügbarmachung. Daher die relative
Unzugänglichkeit und Abgeschiedenheit vieler Archive, die sich oft unter
der Erde oder vor den Toren der Stadt befinden, von wo ihre Dokumente
nur im Ausnahmefall herbeizitiert werden, während die Lektüre beim
Buch die Regel darstellt. Die Dokumente im Archiv müssen einfach nur
existieren, weshalb sie in den meisten Fällen schlicht aufbewahrt werden
– ganz anders als die Bibliothek, die alles, was sie hat, auch verfügbar
haben muss, und deren Bestände nichts sind, wenn sie nicht adressierbar
sind. Ein Buch in der Bibliothek ist identisch mit seiner Signatur, seinem
Code, seiner Adresse, wenn Adressen mit Friedrich Kittler Dinge sind,
die andere Dinge erscheinen lassen11 – einmal am falschen Ort einsortiert,
ist es für immer unauffindbar und damit inexistent. Tatsächlich ist die
Adressierbarkeit und Nachverfolgbarkeit der Bücher in der Bibliothek
ein zentrales Thema des Films, der sich ausführlich der Herstellung
11
Friedrich Kittler, Die Stadt als Medium, in: Mythos Metropole, hg. von Gotthard Fuchs,
Frankfurt am Main 1995, 238.
20 Prolog
der Metadaten in der Bibliothek widmet: der Katalogisierung und der
Herstellung von Karteikarten für die Katalogkästen, der Ersetzung eines
ausgeliehenen Buchs durch seinen Code auf einer Karte, der allein auf
seine Existenz hinweist. Hier ist das Buch seine eigene Adressierung;
derart maschinell erscheint diese Bibliothek im Film, dass man nach der
Maschine fragt, die hier eigentlich beschrieben wird.
Nichts davon in Resnais’ Archiv, das eine Hölle der Unauffindbarkeit
und Unadressierbarkeit inszeniert: Kein Metadatum weit und breit,
nur Stapel und Haufen von Papieren, die sich im Raum ausbreiten.
Ihre Singularität macht sie selten; selten wie einen Ursprung oder einen
Code, die ebenfalls jenem »Prinzip der Verknappung« folgen, »das die
Daten unserer Kultur einfacher und formaler macht« (Kittler 2002:36).
Während die Bücher der Bibliothek auch im Katalog, in der Datenbank
oder im Internet ›existieren‹, sind Resnais’ Papiere in ihrem Archiv und
nur dort. Jedes Papier ist, wo es ist, von keiner Kopie reproduzierbar,
von keiner Karteikarte informierbar oder adressierbar. Wenn man etwas
sucht, muss man das Archiv besuchen, wenn man ein Papier benötigt,
muss man es suchen wie die Stecknadel im Heuhaufen. Dieses Drama
der Unadressiertheit, der Wahnsinn der Immanenz – das jeder kennt,
der schon einmal Papierstapel nach einzelnen Dokumenten, Wohnungen
nach verschwundenen Gegenständen, Müllhaufen nach weggeworfenen
Dingen oder Volksfeste nach kleinen Kindern durchsuchte – wird heute
dadurch abgeschafft, dass alles, Gegenstände, Kinder und Tiere, Adressen
erhalten, Mikrochips, die sie unverlierbar und auf immer auffindbar
machen. Während die vor sich hin verwesenden Papiere im Archiv
ausschließlich ›bei sich‹ sind, in der Immanenz ihrer materiellen Dichte
und nirgendwo sonst, sind die vernetzten Dinge und Menschen in der
Bibliothek immer irgendwo anders. Sie geben sich ihr Gesetz nicht selbst,
sie sind keine »Monumente« im Sinne Foucaults, sondern fadenscheinige
»Dokumente«, transparent und durchsichtig auf etwas anderes als die
Materialität ihrer eigenen Präsenz. Ist es ein Zufall, dass das Dokument
bzw. die Dokumentation auch in Duras’ (1970:8) Szenario von Hiroshima
mon amour nicht gut wegkommt?
Doch kümmern sich nicht auch Archive mittlerweile um die Adressierung
ihrer Bestände? Und kann man nicht auch Archive besuchen, die ihre
Bestände ebenso verfügbar halten wie Bibliotheken? Gewiss ist die von
Resnais gezeigte Situation metaphorisch und vielleicht mythisch. Gewiss
ermöglichen viele Archive heute ebenso den Zugriff auf ihre Bestände
wie Bibliotheken – mit einem Unterschied: Während Bibliotheken in den
meisten Fällen Dokumente ordnen, die in sich bereits eine Ordnung haben
– Titel, Autoren, Daten –, bringen Archive diese erst mühsam hervor.
Die Bibliothek sortiert ihre Bestände nach ihren bestehenden Adressen,
das Archiv adressiert zuallererst Dokumente, deren Dasein von ihm abProlog
21
hängt: Ein wiedergefundenes Buch kann in der Regel wieder eingeordnet
werden, ein loses Papier aus einer Verwaltungsakte nur ausnahmsweise.
In diesem Sinn bringt das Archiv seine Akten überhaupt erst hervor
wie die Archäologie ihre Artefakte; Akten sind im Archiv oder sie sind
nicht – es ist nicht nur nicht in der Welt, was nicht in den Akten ist; die
Akten sind auch nur in der Welt, wenn sie an ihrem Ort im Archiv sind.
Zuletzt, und aller modernen Transparenz zum Trotz, ist der Gegensatz
zwischen der Verfügbarkeit der Bibliothek und der Verschlossenheit
vieler Archive natürlich auch eine Frage der Macht. Bibliotheken sammeln,
damit Öffentlichkeiten Bestände konsultieren können, von deren
volkspädagogischem Nutzen die Sammelnden sich überzeugt haben – und
niemand wird bestreiten, dass die komplizierte Nutzung von Bibliotheken
mit ihren unzähligen Regeln, Regularien und Verordnungen auch einen
disziplinierenden Effekt besitzt. Archivgut jedoch wird, jedenfalls wenn
man vom Normalfall eines Staats- oder Behördenarchivs ausgeht, nicht
in erster Linie für Öffentlichkeiten gesammelt, für die es auch nicht
zugänglich gehalten werden muss, sondern von Staaten und Behörden,
um sie zu regieren und um ihre Macht darauf zu stützen. Es besteht
zum großen Teil – jedenfalls zumindest genau zu dem Teil, von dem die
Öffentlichkeit ausgeschlossen wird – aus wirksamer Vergangenheit, wirksamem
Material, das Staaten oder Behörden noch in Benutzung haben,
um ihre Macht ausüben zu können. Aus diesem Grund war die Frage
der Archive für Jahrhunderte auch nicht wie die der Bibliothek die Frage
der Zugänglichkeit, sondern umgekehrt die der Abschließung und Sicherung
– die Frage, wie man das heiße Material vor anderen Mächten oder
dem Mob in Sicherheit bringen könnte. Weil die Macht in der Moderne
immer auch eine Frage der Archive war, war ihr Zusammenbruch in den
meisten Fällen gleichbedeutend mit der Öffnung der Archive – weswegen
die Zugänglichkeit, mit der viele Archive heute in Zeiten allgemeiner
Transparenz für sich werben, nicht nur eine junge Erfindung darstellt,
sondern auch eine Verschleierung ihrer eigentlichen Funktion.
Der unterschiedlichen Natur des Verhältnisses von Bibliothek und
Archiv zur Öffentlichkeit entspricht die Differenz der von ihnen gesammelten
Dinge: Tatsächlich sammeln Archiv und Bibliothek vollkommen
verschiedene Sachen. Die Bibliothek sammelt Werke, das heißt in sich
geordnete Artefakte und Datenspeicher, die für ein Gedenken gemacht
wurden. Das Archiv hingegen sammelt unprozessierte Objekte, die keineswegs
für ein Gedenken gemacht wurden, ›rohe‹ Daten, ›unmittelbare‹
Vergangenheit, das Reale. Ihre Akten beherbergen Zusammenhänge des
Lebens; ebenso wie die derzeit exzessiv gesammelten Internet-Daten ist
auch das klassische Archivgut nicht für ein Gedenken, sondern für ein
Leben gemacht, dem alle Daten angehören, ja das alle Daten ist: Ebenso
wie mein Konsum- und Kommunikationsverhalten sich nicht nur im
22 Prolog
Internet abzeichnet und repräsentiert, sondern mein Leben ist, sind auch
Prozessakten und Beschlüsse, Vermerke und Notizen Zeugnisse unmittelbar
gelebten Lebens: Es ist ein Unterschied, ob man das Formular einer
Straftat aus dem Kommissariat in Händen hält oder dessen literarische
oder historische oder wissenschaftliche Verarbeitung. Die wissenschaftliche
Bibliothek ist der Raum des Ausgearbeiteten, Differenzierten und
Prozessierten, während das Archiv oft Rohes, Unfertiges und Entdifferenziertes
enthält – nach dem die Macht aber umso dringlicher verlangt, als
es das ungeschöntere Material ist: Der Inhalt der Archive verhält sich zu
den Werken der Bibliothek wie der Blick in die Müllbehälter einer Kultur
zu ihren Meinungsumfragen (Murphy/Rathje 1994); während der Blick in
den kulturellen Abhub das Reale offenbart, das sonst verborgen bleibt,
zeigt die Bibliothek dieses Reale nur unter tausend Verschleierungen und
Verhüllungen. Als Raum des Realen enthält das Archiv alles, was Mächte,
Staaten und Behörden wissen wollen. Weil man alles mögliche wissen
wollen kann, und weil man wie die NSA nie weiß, was man in Zukunft
wissen wollen könnte, können Mächte eigentlich alles sammeln, weshalb
alles ins Archiv wandern kann – und jede Macht entscheidet stets aufs
Neue, was sie dem Leben entzieht, um sich selbst am Leben zu erhalten.
Eher »Monument« als »Dokument« im Foucaultschen Sinn, dokumentieren
Daten und Akten nichts anderes – sie sind selbst wirksame Teile
ehemaliger Gegenwarten, die auch in Zukunft noch Wirkung entfalten
können, Teile von Wirkungsketten, in deren Ablauf Staaten bestehen:
Zeitbomben, die jeder Zeit alles verändern und hochgehen lassen können,
Operationen und Vorgänge, wegen denen man einmal ins Gefängnis
wandern könnte – Zeugnisse, die mein Leben von außen bestimmen und
von denen ich aber brutal ausgeschlossen bin, gesammelt von Staaten
und Behörden, die ihre Maschinerie nicht mit ihnen füttern, sondern die
in ihren Akten und Daten bestehen. Ganz anders die Bibliothek, die wie
die B.N. »Dokumente«, also Werke sammelt: Bücher und Karten, Steine
und Stiche, Medaillen und Manuskripte werden aufgehoben, weil sie
einer vorher bestimmten kulturellen Ordnung entsprechen, weil sie einen
gewissen ›Wert‹ besitzen (wie die abgefilmten Statuen in der Bibliothek)
oder die Zeit ›repräsentieren‹ (wie die stolz im Film präsentierten, in der
Bibliothèque Nationale aufbewahrten Meisterwerke). Die Bibliothek erwartet
Besucher, die von diesen Dingen nicht ausgeschlossen sind, sondern
von ihnen vorausgesetzt werden, die sich im Glanz dieser Werke spiegeln
in der zeitlichen Form einer Geschichte, die alles repräsentiert, was Menschen
sehen wollen. Ganz anders die Archive, die gern Öffentlichkeiten
ausschließen, weil sie beherbergen, was man ohnehin vor ihnen verbergen
sollte und ›was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt‹ ist.
Niemand hat den Gegensatz zwischen Bibliothek und (Gerichts-) Archiv,
Dokument und Monument, intentionalem Werk und nichtintendierProlog
23
ter Akte stärker gemacht als Arlette Farge: »Die Akten [erinnern] in keiner
Weise an mittelalterliche Manuskripte und ihre Buchmalereien. Akten sind
einfach eines der Mittel der Monarchie, sich zivil- und strafrechtlich zu
verwalten […]. Die Polizei erstellt Protokolle und füllt damit die Ordner.
[…] Das Gerichtsarchiv des 18. Jahrhunderts besteht aus all dem: aus
angehäuften Klagen, Prozessen, Verhören, Untersuchungen und Urteilen,
ein loses Blatt nach dem anderen. […] Das Archiv ähnelt weder den gedruckten
Texten und Dokumenten […], weder den Briefwechseln noch
den Zeitungen und nicht einmal den Autobiographien. Es unterscheidet
sich durch seine Materialität. Denn es ist maßlos, überschäumend. […]
Seine Lektüre provoziert sofort einen Effekt des Wirklichen, den kein
Druckwerk hervorrufen kann, mag es auch noch so unbekannt sein. Ein
Druckwerk ist ein Text, der willentlich veröffentlicht wurde. Es ist so
aufgebaut, dass eine Vielzahl von Personen es lesen und verstehen kann.
[…] Ob maskiert oder nicht, immer ist es voller Intentionen, deren einfachste
und offensichtlichste jene ist, von anderen gelesen zu werden. Kein
Vergleich zum Archiv; zur nackten Spur von Leben – Leben, die nicht
ein einziges Mal danach verlangten, sich dergestalt zu erzählen, sondern
dazu verpflichtet wurden, da man sie eines Tages mit den Realitäten
der Polizei und der Unterdrückung konfrontierte. […] Ist das Ereignis
einmal eingetreten, dann werden ihre Reden notiert, und selbst wenn sie
in jenem Moment strategisch sein mögen, so findet man in ihnen doch
nicht dieselben intellektuellen Operationen wie in einem Druckwerk.
Sie geben etwas preis, was niemals ausgesprochen worden wäre, hätte
sich nicht ein Ereignis zugetragen, das die Gesellschaft störte. Sie geben
gewissermaßen das Nicht-Gesagte preis. […] Das Archiv schreibt nicht
die Seiten der Geschichte.«12
Kurz: Das Archiv codiert, die Bibliothek repräsentiert, weshalb sich
beide auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen befinden. Als Preisgabe
des »Nicht-Gesagten« bringt das Archiv auch dessen Zeitlichkeit hervor;
manchmal handelt es sich um radikal abweichende Zeitlichkeiten, so
wie beim Archäologen der Seele, der die Zeitlichkeit des nichtgesagten
Unbewussten entborgen hatte oder beim klassischen Archäologen, dessen
Datierungen jede andere Zeitlichkeit sprengen können. Im Archiv finden
sich die Daten, die vorgängig steuern, was nachträglich als Geschichte
12 Farge 2011:7ff. Vgl. zur Nichtintentionalität von Foucaults Monument: »Als Monumente
haben die dokumentarischen Überlieferungen der Vergangenheit keinen intentionalen
Gehalt. Sie repräsentieren nicht mehr symbolisch eine historisch verschüttete Erfahrung,
sondern sind empirisch vorfindbare Gebilde von Textelementen. Als solche stellen
sie den Theoretiker nicht unter den Zwang, die in einem Schriftstück verschlüsselten
Intentionen retrospektiv zu deuten, sondern konfrontieren ihn mit der Aufgabe, die
verstreuten Texteinheiten unter funktionalistischen Gesichtspunkten zu ordnen und zu
klassifizieren.« Honneth 1985:138f.
24 Prolog
verbucht und repräsentiert wird – weshalb sich das Archiv zur Bibliothek
verhält wie der Gang ins Stasi-Archiv zur Lektüre einer Tageszeitung. Im
Archiv findet man nicht nur die Beschlüsse zur Gründung und Nutzung
einer Bibliothek, sondern auch die Akten der Kalenderverordnung und
Zeitrechnung, auf denen alle ihre Datierungen beruhen; es sammelt Prozesse,
die die Gestalt dessen verändert und geformt haben, was anschließend
in der historischen Zeit erscheint – Zeugnisse neuer Zeitlichkeiten
wie Geburtsurkunden oder Gerichtsurteile: Ereignisse, die zwar zeitlich
festgehalten werden und in der historischen Zeit erscheinen wie ein
Neugeborenes, die sich aber keiner historischen Entwicklung verdanken,
sondern der Materialität der (biologischen) Zeit wie eine Schwangerschaft.
Auch eine Liebe erscheint zwar in der Zeit und hat ihren historisierbaren
Verlauf – der sich jedoch unbewussten Regimes, Schemata oder
»Tableaus« verdankt, die Kaja Silverman (2005:39) in ihrer Analyse von
Hiroshima, mon amour ausgräbt: Die historisch erscheinende Begegnung
von Hiroshima wird gesteuert von jenen archivischen Kellersequenzen
die – erstmals im Leben der Heldin – das »Nicht-Gesagte« veröffentlichen,
was nie zur Sprache gelangt war.
Dieser Gegensatz zwischen Verborgenheit und Verfügbarkeit, Unerwünschtheit
und wishful thinking, Archäologie und Geschichte lässt sich
bereits an den von Resnais und Butor vorgeführten Medien absehen, die
von Archiv und Bibliothek gesammelt werden: Resnais zeigt ein Archiv,
das vor der überbordenden Materialität seiner Papiere birst – aufbewahrt
in einem »brutalen«, »rohen Zustand«, »ohne Buchbindung, ohne Broschüre,
einfach wie Strohballen gesammelt und zusammengebunden« (Farge
2011:8). Von diesen Papieren ist höchst fragwürdig, ob sich aus ihnen jemals
jener immaterielle Text wird herstellen lassen, aus dem die Bibliothek von
Butor besteht. Dieser Text der Bücher ist insofern immateriell, als er sich
übertragen lässt und nicht an seinem Medium haftet, wie das aktuelle
Medium des eBooks zeigt. Ganz anders die Akten in Archiven, die nicht
nur ein einziges Mal existieren, sondern deren alleiniger Wert an diesem
singulären Objekt hängt wie bei einer Unterschrift, einer Urkunde oder
einem Siegel. Weil der Wert dieser Zeugnisse an ihrer Einmaligkeit und
Echtheit hängt wie der Genuss einer Speise, gibt es noch heute die Notwendigkeit
der amtlichen Beglaubigung – bei jeder beglaubigten Urkunde
geht es weniger um deren Inhalt als um ihre Echtheit; beglaubigt wird
kein Inhalt wie beim kopierten Buch, sondern allein eine Authentizität,
weswegen das beglaubigte Papier, anders als der Text, weniger in der
ontologischen Ordnung der Lesbarkeit als in der der Sichtbarkeit existiert:
Man sieht ein Siegel, während man einen Text liest. Weil der Wert des
bezeugten Papiers an seiner Singularität hängt, an diesem einzelnen Ding,
ist es nicht nur unmöglich zu vervielfältigen – die Originale im Archiv
sind auch oft unbenutzbares und unlesbar. Sie sind, wie das Gedächtnis
Prolog 25
bei Benjamin, »nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangnen,
vielmehr das Medium« (GS IV 400). Die Zeugnisse sind so buchstäblich
schwermütig wie jene athenischen Bleirollen, auf die Cornelia Vismann
in einem ihrer letzten Texte hingewiesen hat: ein vollständig erhaltenes,
aber völlig unbenutztes Bleirollenarchiv mit ungewissem Zweck und
Auftrag, mitten auf der Agora in Athen: »Das unbenützte Archiv ist das
perfekte Archiv. Sein Versprechen der Unveränderlichkeit hält es ein. Es
hat sich gegen die Zeit verschlossen.«13
Doch wenn das »perfekte Archiv« das unbenutzbare und unveränderliche
ist – warum wird das Archivgut im Film von Resnais dann
der Veränderung der Verwesung ausgesetzt? Widerspricht der modrige
Charakter seines Kellerarchivs nicht dem Aufbewahrungsauftrag jedes
Archivs? Gewiss könnte man einwenden, hier handle es sich um einen
Film, also um Inszenierung und Atmosphäre; und tatsächlich ist die Einstiegssequenz
in diesen Film keineswegs dokumentarisch, obwohl es ein
›Dokumentarfilm‹ über die Bibliothèque Nationale ist – schließlich wird
kein identifizierbarer Keller und kein konkretes Archiv gefilmt. Resnais
führt das Archiv als Möglichkeitsbedingung jeder Erinnerung vor, jedes
Dokuments und jeder Geschichte: als transzendentales »Medium des
Erlebten«, ohne welches das Erlebte nicht erscheinen würde und welches
nach Benjamin als bergendes »Erdreich das Medium ist«, in dem unsere
Vergangenheit lagert. Gewiss. Um entbergbar zu werden, braucht es erst
einmal eine Materie, aus der entborgen werden kann. Realistischer ist
jedoch das Argument, dass die Abgeschiedenheit (je-)des Archivs tatsächlich
Verfallserscheinungen wie die gezeigten produziert – dass über die
Inszenierung der Materialität der Zeit und der sichtbaren Unberührtheit
des Archivs auch eine ontologische Aussage über diese Institution getroffen
wird: Das Archiv sieht in diesem Film nicht nur entlegen und abgeschlossen
aus; in dieser Abgeschlossenheit besteht das Sein vieler Archive, weswegen
sie tatsächlich dem von Resnais gezeigten ähneln: Wenn Archive nicht
tatsächlich Bunker der Erinnerung wären, die den Zumutungen jeder Zeit
trotzen, würden wir es gar nicht als ›Archiv‹ identifizieren.
Doch warum soll man sich überhaupt für solche abgeschlossenen
Unorte interessieren, für verschimmelndes Papier und unverwesbare
Bleirollen – für Dokumente, die niemand mehr liest und die vielleicht
unlesbar sind? Und um was für eine Wirkung ohne Lesbarkeit oder
Adressierbarkeit handelt es sich hier? Butor (1992:12) klärt uns darüber
auf, dass der Text in den Archiven nicht verwest, sondern schläft, dass
es sich um einen nokturnen Text handelt, auf dem jeder Text des Tages
13 Cornelia Vismann, Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft, in: Ebeling/Günzel 2009, 100. Vgl.
Rosalind Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, Cambridge
England 1986, 82f.
26 Prolog
aufbaut, so, wie die Bibliothek auf dem Fundament des Archivs steht:
»Dieser schlafende Text ist von nicht geringer Bedeutung. Entscheidend
ist, dass man ihn eines Tages wird konsultieren können. Nichts geht
mehr, sollte er vollständig verschwunden sein. Kein Gesetz könnte mehr
angewandt werden.« Auch das Archiv konserviert also, selbst bei Resnais,
auch wenn sein Film weniger die Erhaltung als die Lagerung der Akten
zeigt. Doch dieses Zeigen ist nicht nur Inszenierung, sondern Strategie:
Indem die Papiere unaufbereitet gezeigt werden, weist der Film darauf
hin, dass die Aufgabe des Archivs weniger in der Verfügbarmachung
seiner Dokumente liegt als in ihrer Sammlung, weniger in ihrer Lektüre
als in ihrem Dasein. In ihrem Dasein?
Der Begriff verrät, dass sich das Archiv ontologisch auf einer anderen
Ebene befindet als die Bibliothek und ihre Sammlung, so wie sich das
Sichtbare auf einer anderen Ebene befindet als das Lesbare, wie die zahllosen
Ästhetiken der Präsenz es derzeit beteuern. Nähern wir uns diesen
›Präsenzen‹ zunächst über ihre Zeitlichkeit, schließlich installiert der Film
über seine Spannung zwischen Archiv und Bibliothek, unten und oben
auch eine zeitliche Ordnung zwischen Vorgängigkeit und Nachträglichkeit
– zwischen dem, was man nachher oben lesen und nachlesen kann,
und dem, was vor jeder Lektüre unten im Keller da sein muss. Aber nicht
nur Resnais, auch Butor wirft ontologische Fragen der Zeitlichkeit auf,
wenn er alte Texte schlafen lässt und sich für ihre Konsultierbarkeit in
der Zukunft interessiert – die in Resnais’ Gedächtnisgewölbe keineswegs
sichergestellt erscheint. Doch Butors »schlafender Text« entfaltet seine
Wirkung im Archiv trotz seines oder vielleicht sogar gerade in seinem
Schlummer; sie hängt nicht an seiner Lektüre, er entfaltet seine Wirkung
auch, wenn er nicht gelesen wird. In beiden Fällen, bei Resnais und
bei Butor, ist die Wirkung des Archivs schon vor der Lektüre da, vor
jedem Gelesenwerden und vor jeder Bibliothek – aber nach dem In-die-
Welt-Kommen der Papiere: Die Papiere müssen zwar in der Welt sein,
aber nicht gelesen werden. Und tatsächlich vermehrt sich im Zeitalter
der Digitalisierung die Anzahl der Dokumente stündlich, die vielleicht
gelesen, aber nicht im Original konsultiert werden; ja vielleicht wurde
schon der Großteil der von Bibliotheken gesammelten und von Resnais
gezeigten Bücher nie gelesen, nie berührt. Sie sind einfach nur da. Und
das ist natürlich auch das Schicksal, das in Zeiten von google books den
meisten Büchern droht: zum unberührten Original zu verkommen, das,
einmal eingescannt, eigentlich weggeschmissen werden kann.
Doch selbst in der digitalen Kultur hängt alles daran, dass dies nicht
geschieht, dass es Originale und deren Authentifizierung gibt, dass es
Archive unter den Bibliotheken gibt. Doch warum bewahrt die digitale
Kultur Bücher und andere Dokumente überhaupt noch auf, wenn sie in
tausend Reproduktionen und Kopien, Scans und Clouds existieren? Wie ist
Prolog 27
diese gespenstische Situation endloser Bücher- und Dokumentenfriedhöfe
zu verstehen, die heute vielleicht mehr noch als vor sechzig Jahren dem
von Resnais geschilderten Zustand gleicht? Was machen die Papiere und
Bücher, wenn sie einfach nur da sind? Wofür müssen sie einfach nur da
sein, aber nicht gelesen werden? Butor behauptet tatsächlich, sein »schlafender
Text« entfalte keine Wirkung, weil er gelesen wird, weil das und
das in ihm steht, sondern einfach, weil er da ist, weil er gelesen werden
kann. Bei Butor und Resnais geht es – wie in jedem Archiv, in jeder Archäologie
und wie im gesamten Diskurs um das ›kulturelle Gedächtnis‹
–, nicht allein um Nachträglichkeiten, nicht allein um das Konservieren,
Speichern und Sammeln der Vergangenheit (was das größte Missverständnis
des Diskurses um das ›kulturelle Gedächtnis‹ und das Archiv
darstellt): In Resnais’ Kellern werden die Papiere weniger konserviert als
codiert. Diese Papiere speichern nichts mehr, sie sind keine Instrumente,
sondern, mit Benjamin gesprochen: Medien, in die wir versenkt sind wie
eine Bibliothek in ihr Fundament. Und auch bei Butor geht es um Texte,
die ihre Wirkung immer schon entfaltet haben, die »konsultiert werden
können«: also um Möglichkeitsbedingungen.
Bedingungen von Möglichkeiten sind in unserer Kultur Sache von
Apriori, also dem, was gemäß der lateinischen Formel »vom Früheren
her« kommt – wie tiefere Schichten oder Fundamente, die immer schon
da sind wie ein Erdreich, das untergehende Städte aufnimmt. Auch die
Papiere im Gewölbe kommen ihrer Lektüre zuvor wie das Archiv der
Bibliothek – sie sind also Sache von Apriori. Dabei kann es im Fall des
Gedächtnisgewölbes um kein formales Apriori der Erkenntnis gehen
wie bei Kant – Toute la mémoire du monde zeigt Papiere, die nicht im
Kopf, sondern in der Welt sind, geäußert und niedergeschrieben. Aber
sie erscheinen zugleich als nicht lesbar und können also keine historische
Wirkung entfalten. Die vermodernden Papiere bilden also keine
Apriori der Erkenntnis, aber zugleich auch keine Aposteriori, um in der
kantischen Diktion zu bleiben, der sie merkwürdig entschlüpfen. Es war
denn auch nicht Kant, der ein Apriori für diese seltsame Zeitlichkeit nach
der Erkenntnis aber vor der Geschichte entwickelte – sondern Foucault
mit seinem Begriff des »historischen Apriori« (AW 183ff): Das historische
Apriori fasst das, was nach der Erkenntnis kommt, was nicht mehr im
Kopf ist, sondern in der Welt; aber noch nicht in der Welt im Sinne einer
empirischen Geschichte, der Geschichte von Lektüren, Wirkungen und
Deutungen, sondern irgendwo versenkt im materiellen Wissenssystem
einer Epoche, die von diesem Apriori wie von einer Codierung ferngesteuert
wird (Ebeling 2006): Das ist das historische Apriori, dem Foucault
eine »schrille Wirkung« (AW 184) bescheinigte: »Eine rein empirische
Figur« wie die oberirdische Bibliothek; aber gleichzeitig verborgen wie
ihr unsichtbares Fundament, nicht gelesen, nur lesbar, nicht sichtbar,
28 Prolog
sondern alles Sichtbare fernsteuernd. »Immer bereits da und niemals ganz
gegeben« (EA 85), schreibt Foucault in seiner Einleitung in die Kantische
Anthropologie, die sich heute eher wie eine Einleitung in seine eigene
Archäologie liest.
Was »immer bereits da und niemals ganz gegeben« ist, ist die Fernsteuerung
einer Kultur und ihres Wissens – eine Fernsteuerung, die Foucault
später Archiv nennen wird. Foucaults Archiv ist »immer bereits da
und niemals ganz gegeben«, es ist »gleichzeitig nicht sichtbar und nicht
verborgen« (AW 158), wie die spätere Formulierung in der Archäologie
des Wissens lautet. Denn auch die Papiere im Archiv sind »gleichzeitig
nicht sichtbar und nicht verborgen«, »immer bereits da und niemals ganz
gegeben«: Einerseits sind sie »nicht verborgen«, sondern »immer bereits
da« wie ein Keller und ein Fundament, auf dem alles aufbaut – der aber
andererseits auch »nicht sichtbar« ist, »niemals ganz gegeben«, weil er in
der Erde versenkt ist und unter einem Gebäude verschwindet, wie auch
die Texte in ihm nicht mehr lesbar sind und sich nicht mehr zum Lesen
geben. Der Film stellt also nicht nur Bachelards Opposition aus Keller
und Dach her – die Opposition zwischen Keller und Dach ist zugleich die
zwischen Archiv und Bibliothek, Archäologie und Geschichte: Das Archiv
befindet sich wie Derridas Krypta (1979) unter der Bibliothek, von wo
aus es das gesamte kulturelle Wissen – beispielsweise einer Bibliothèque
Nationale – fernsteuert. Gleichgültig wie hoch die Büchertürme und wie
viel in ihnen gesammelt ist – gesteuert und codiert werden diese sichtbaren
Sammlungen von unsichtbaren Vorschriften, Kalkülen und Algoritmen.
Wie das Unbewusste verschanzt sich dieses Archiv im Keller, im Fundament,
wo es in seiner Unsichtbarkeit umso wirkungsvoller operiert.
Die ersten Bilder dieses Films zeigen definitiv keinen Raum einer
Bibliothek, die a posteriori, also nachträglich, die Effekte des Wissens
einsammelt und konserviert. Die Zeitlichkeit dieses Films – oder besser
gesagt: seines Vorspanns oder Prologs – ist selbst von der Art des Vorspanns,
ist selbst vor dem Film, vor dem eigentlichen Beginn des Films,
der nicht aufhört, nicht zu beginnen. Seine Zeitlichkeit ist archivisch, weil
ein Archiv apriorisch die Funktionen des Wissens steuert, seinen Verlauf
vorher bestimmt und das »Gesetz dessen« enthält, »was gesagt werden
kann« (AW 187), wie die berühmte Formel Foucaults lautet. Nicht zufällig
spricht auch Butor von einem Gesetz und davon, dass der schlafende Text
die Anwendung des Gesetzes sicherstellt: »Kein Gesetz könnte mehr angewandt
werden.« Wieso kommt Butor ausgerechnet aufs Gesetz und auf
seine Anwendung in der Zukunft, wenn er vom kulturellen Gedächtnis
spricht? Was hat das kulturelle Gedächtnis mit dem Gesetz zu tun? Butor
kommt zum Gesetz, weil er nicht von der Bibliothek spricht, sondern vom
Archiv – von einem Archiv, das nicht nur Gesetze sammelt, sondern das
als solches, als das Dasein seiner gesammelten Papiere, auch das »Gesetz
Prolog 29
dessen« betrifft, was in seiner Kultur »gesagt werden kann«. Das Archiv
ist also ins Wissen so eingebaut wie das Apriori ins Erkennen: Ebenso
wie bei Kant das Apriori das Gesetz des Erkennbaren verzeitlicht, ist das
historische Apriori, das Archiv, das, was die Anwendung des Gesetzes
in der Zukunft regelt.
Das Gesetz, seine Anwendung in einer Zukunft beruht darauf, dass
es es gibt – dass es irgendwo lagert, irgendwann aufgeschrieben wurde,
selbst wenn es vermodert. Man muss es gar nicht erst lesen. Es ist immer
schon da. Das erste Gesetz wird nie gelesen, nie konsultiert. So wie wir
bald auch keine echten Bücher mehr konsultieren werden. Wir arbeiten,
wenn wir mit Gesetzen arbeiten, aber auch, wenn wir mit anderen Büchern
oder Texten arbeiten, kaum noch mit Originalen oder Urschriften,
sondern mit Abschriften, Kopien, Zitaten, Scans – und verlassen uns
darauf, dass es irgendwo steht, irgendwo liegt, irgendwo tatsächlich ist:
immer schon da, auch wenn niemals ganz gegeben. Das ist das vorgängige
Archiv, das also nicht mehr die Aufgabe einer nachträglichen Speicherung
der Vergangenheit hat, sondern das die Vergangenheit nur speichert, um
mit seiner Hilfe die Zukunft steuern zu können. Nichts ginge mehr, wie
Butor schreibt, wenn dieses Vertrauen in die Echtheit der Gesetze und
ihre Abrufbarkeit erschüttert würde.
Kurz: Die Beziehung zwischen Archiv und Wissen ist nicht von der
Art, dass erst ein Wissen entsteht, das nachträglich im Archiv gesammelt
wird; Wissen bildet sich überhaupt erst um oder mit Archiven und Archivierungen
– und zwar nicht, weil Wissen Speicher braucht, um es zu
konservieren, sondern weil das Wissen (beispielsweise einer Bibliothek,
aber auch eines Bewusstseins) immer auf älteren Fundamenten aufbaut,
die uns sagen, wie wir mit ihm verfahren sollen und was wir überhaupt
mit ihm sollen. Schließlich fällt unsere Idee von Wissen ebenso wenig
vom Himmel wie seine Inhalte; denn »die Zeichen sprechen nicht, wenn
die Signaturen sie nicht zum Sprechen bringen« (Agamben 2009:76).
Kurzum: ›Wissen‹ wird nicht nachträglich mit einem Gesetz versehen,
wie man ein Buch in die Ordnung einer Bibliothek einsortiert; Wissen ist
immer gleichursprünglich mit dem Gesetz – mit seinem Gesetz, das uns
sagt, was wir mit dem Wissen anfangen sollen oder dass wir überhaupt
Wissen bilden sollen. Aus diesem Grund gibt es in unserer Zivilisation nur
dort, wo es ein Gesetz gibt und wo es Gesetzestexte gibt, auch Wissen.
Das Wissen bringt seine vorgängigen Codierungen, Befehle und Anweisungen
immer schon mit. Aus diesem Grund darf man das Wissen oder
die Bibliothek, wie der Diskurs des ›kulturellen Gedächtnisses‹, nicht metaphorisch
als ›Archiv‹ verstehen, man muss es von tatsächlichen Archiven
aus denken: Archive sind keine ›Speicher‹ von Wissen, Wissen entsteht
erst durch archivarische Operationen: Das Archiv ist nichts, was später
zum Wissen hinzukommt, um es zu konservieren, sondern dasjenige, was
30 Prolog
zuallererst da sein muss, damit Wissen überhaupt sein kann. Das Archiv
ist ins Wissen eingebaut wie der Grundstein in ein Gebäude – und kehrt
diese Beziehung zwischen Wissen und Archiv um, ihre Funktion, ihre
Hierarchie, ihre Zeitlichkeit, wie Butor (1992:13) am Ende schreibt: »Die
Funktion der Stadt als Speicher von Texten ist so wichtig, dass man sich
fragen kann, ob darin nicht ihre wichtigste Wurzel liegt. Archäologische
Untersuchungen lehren uns, dass überall auf der Erde die ersten großen
Städte zur gleichen Zeit entstanden sind wie die Schrift, welches auch
immer deren Ausprägung war. Deshalb ist es vielleicht nicht so, dass sich
Text an einem Ort angehäuft hat, weil sich viele Menschen dort befunden
haben, sondern umgekehrt, weil sich Text gesammelt hat, lassen sich die
Menschen dort nieder, um ihm gewissermaßen zu dienen. Der Sitz der
Obrigkeit ist weniger der Ort der Regierung, des Oberbefehlshabers, des
Oberpriesters als vielmehr der Archive.«
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