Reportagen, packender Recherchen, mit Geschichten, Berichten, Essays und Poesie

-da-Lettre international-aktuell-109
Lettre International 2/2015-Nr. 109
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Lettre International GmbH, Berlin

Inhalt
Heute erscheint das Sommerheft von Lettre International, Nr. 109, mit einem Reigen spannender Reportagen, packender Recherchen, mit Geschichten, Berichten, Essays und Poesie. Wir spüren einen unserer Vorfahren auf, den Neandertaler, analysieren das Rätsel menschlicher Grausamkeit, untersuchen in Technik und Psyche zwei Flugzeugkatastrophen jüngster Zeit, skizzieren den Widerstand der Frauen in Afghanistan und veröffentlichen exklusiv Seymour M. Hershs aufsehenerregende Recherche zur Tötung Osama bin Ladens. Wir vergleichen die Revolutionen, Diktaturen und Demokratisierungsprozesse in Osteuropa und im arabischen Raum, bewegen uns im Universum der Ironie und den Kommunikationsräumen von Twitter, erinnern an den Zweiten Weltkrieg und an seine psychischen Folgen, interpretieren Houellebecqs „Unterwerfung“. Goethe seinerseits hat Teutschland am Herzen, aber nichts mit dem Nationalstaat am Hut, Walter Benjamin bewundert André Gide, Günter Grass läßt sein Gebiß knirschen, Antonio Tabucchi reist in einer letzten Geschichte zu den Menschen Nordportugals, wir erinnern uns an Poesie und Prosa der Fußballweltmeisterschaft 2014, reisen zum peruanischen Amazonas, erleben Ekstase in Psyche und Musik, es spuken Ungarns Phantome und sizilianische Schriftsteller packen aus. Der spanische Photograph Juan Manuel Castro Prieto läßt die Teufelstänzer tanzen und liefert phantastische Bilder vom peruanischen Karneval in Puno.
HOMO SAPIENS
Hannes Böhringer forscht unseren Vorfahren nach, überlegt: Wer wir waren und konstatiert: „Ich bin ein Neandertaler“. Der Naturgeschichte fällt es schwer, den Menschen zu definieren und vom Tier zu unterscheiden. Aufrechter Gang? Feuerbeherrschung? Sprache? Gemeinsinn? Werkzeuge? Bestattung? Kunst? Die Schwäche der Evolutionstheorie ist zugleich eine Stärke. Scharfe Abgrenzungen werden durchlässig. Der Neandertaler diente zunächst als Bindeglied zwischen Mensch und Affe, er war eine Art Waldmensch, homo silvestris, ähnlich einem Orang-Utan. Somit kränkt die Evolutionstheorie zunächst das vom Fortschrittsbewußtsein genährte Überlegenheitsgefühl des Menschen mit dem Nachweis, daß dieser nichts anderes sei als ein weiterentwickeltes Tier. Doch je tiefer die Forschung in die Naturgeschichte des Menschen vordringt, umso größer wird die Hochachtung für unsere Vorfahren und ihre technischen, künstlerischen und kulturellen Leistungen. Von Menschenaffen und Affenmenschen, modernen Menschen und Superman.
GRAUSAMKEIT UND FREIHEIT
Der Philosoph Marcel Hénaff spürt dem Rätsel der Grausamkeit nach. Es gibt Formen der Gewalt, die auf Überlebensanforderungen reagieren, und andere, die mit Gerechtigkeit und Würde verbunden sind. Gewalt existiert als Widerstand gegen Unterdrückung und als solche, die die Ausübung des Rechts begleitet. Und es gibt Gewalt, die mit Zerstörung und Erniedrigung einhergeht. Bei de Sade finden wir pure Gewalt und brutale Aggression, deren Motiv durch Herrschaftslust gespeist wird. Das historische Andauern nackter Grausamkeit wirft eine der großen Fragen der menschlichen Gattung auf: Warum kann die Grausamkeit trotz aller Verbote, religiöser oder moralischer Gebote, trotz aller Erfahrungen bestehen bleiben? Warum ist das sprechende Tier, das kultivierte und technische Tier auch ein grausames? Grausamkeit gehört zu den Ausdrucksformen der menschlichen Freiheit. „Die Grausamkeit fängt mit dem Willen an, den Gegner durch physischen Schmerz leiden zu lassen und ihn über den Sieg hinaus durch Erniedrigung in Verzweiflung zu stürzen. Die Grausamkeit zeigt den leidenschaftlichen Willen an, die Menschlichkeit des anderen zu vernichten (…) Der Folterknecht begibt sich in den Bereich einer Faszination, die zum Schweigen verdammt. Er weiß, daß er seine eigene Menschlichkeit negiert. Nicht einmal die Vergebung seiner Opfer könnte sie ihm zurückgeben. Er fährt im Grauen fort, um jede Möglichkeit einer anderen Welt zu verhindern und um auch dann weiter existieren zu können, wenn er in sich selbst seinen eigenen Leichnam produziert hat. Er ist zu dem geworden, was er dem anderen aufzwingen wollte: weder Tier noch Ding noch menschliches Wesen …“ Über die Lähmung der Sensibilität, Empathie, Reziprozität und die ungesellige Geselligkeit des Menschen.
NACHFORSCHUNGEN, ENTHÜLLUNGEN
27 Jahre alt ist Farkhunda, eine tiefreligiöse, unverheiratete muslimische Theologiestudentin, als sie im März 2015 in Kabul von dreißig bis fünfzig Männern in Anwesenheit von Polizisten geprügelt, getreten, gesteinigt und anschließend unter den Augen von Tausenden Zuschauern verbrannt wird. In einer Moschee, in die sie zum Beten gegangen war, stritt sie sich mit einem Amulettverkäufer, der sie daraufhin lauthals der Koranschändung bezichtigte und einen Lynchmob aufstachelte. Geistliche und Vertreter der afghanischen Regierung billigten die Hinrichtung der angeblich Ungläubigen. Die amerikanische Journalistin Ann Jones, am Tag nach dem Mord vor Ort, sieht in dieser Gewalttat den Höhepunkt einer schwelenden kollektiven Identitätskrise Afghanistans und beschreibt ein traumatisiertes und deprimiertes Land, dem der tolerante, sufistische Islam aus der Zeit vor dem Krieg von den ultrakonservativ-islamistischen Mudschahedin, Warlords und Mullahs ausgetrieben worden ist. „Seit der US-geführten internationalen Intervention von 2001 bekamen starke Führer Aufwind, sie wurden finanziell reich und politisch mächtig. Gewalt und Brutalität zahlen sich also aus. Verbrechen sind an der Tagesordnung und bleiben zumeist ungesühnt.“ Seit langem herrscht eine Kultur der Straflosigkeit. Doch Farkhundas Tod zog einen öffentlichen Aufschrei ungekannten Ausmaßes nach sich. Jetzt ist die Zivilgesellschaft Kabuls auf die Straße gegangen, um zu zeigen, worum es tatsächlich geht: um einen Kampf zwischen den ultrakonservativen islamistischen Mullahs und Warlords, die sich nicht nur an den Glauben, sondern auch an die Macht klammern, auf der einen Seite und fortschrittlichen islamischen Männern und Frauen auf der anderen Seite, die Afghanistan in die moderne Welt führen wollen. Einige der Täter wurden vor Gericht gestellt und verurteilt. Ein Hoffnungszeichen für ein anderes Afghanistan?
Der US-amerikanische Journalist Seymour M. Hersh ist Pulitzer-Preisträger und der wohl berühmteste investigative Journalist der USA. Seine Enthüllungen des Massakers in My Lai während des Vietnamkrieges und der Folter im amerikanischen Militärgefängnis Abu-Ghraib im Irak erregten weltweite Aufmerksamkeit. Nun stellt er in einem aufsehenerregenden Text die Version der US-amerikanischen Regierung zum Tod Osama bin Ladens in Frage. Hershs explosiver Bericht liegt nun erstmalig und exklusiv in deutscher Sprache vor. Lebte Osama bin Laden bereits seit 2006 unter Aufsicht des pakistanischen Geheimdienstes in Abbottabad? Wurde sein Aufenthaltsort von pakistanischen Insidern für eine Millionenbelohnung an die USA verraten? Wie konnte das Einsatzkommando der Navy Seals unbehelligt in pakistanischen Luftraum eindringen? Wollte man Osama bin Laden unter allen Bedingungen liquidieren? Ist die Meldung, es habe ein Schußwechsel stattgefunden, frei erfunden? Fand man dort keinerlei wichtiges Material? Spielte der al-Qaida-Gründer schon länger keine operative Rolle mehr? Fand die Leichenentsorgung qua „Seebestattung nach islamischem Ritus“ überhaupt nicht statt? Nach Hershs akribischer Rekonstruktion ist die Version der US-Regierung eine Aneinanderreihung von Lügen, Schwindel, Widersprüchen und Vertuschungen des wirklichen Geschehens. Über den Zerfall einer schlecht konstruierten Legende.
EUROPAS BRODELNDE PERIPHERIEN
Gilles Kepel ist ein großer Kenner der arabischen und islamischen Kultur. Jacques Rupnik ist intim vertraut mit den Entwicklungsprozessen Ost- und Mitteleuropas. Ihr facettenreicher Dialog Explosive Nachbarn versucht, die jüngsten Entwicklungen in zwei Nachbarregionen nachzuzeichnen: östlich und südlich von Europa. Der Arabische Frühling, die ukrainische Revolution, die „bunten“ Revolutionen in der Ukraine und Georgien sind Gegenstand einer Betrachtung von Aufbrüchen und Rückentwicklungen, Aufständen, Bürgerkriegen, Staatsstreichen. Gehören die großen Umbrüche von 1989 und 2011 derselben Ordnung an? Ist der Arabische Frühling ein neues 1989 addiert mit Facebook, Twitter und Internet, ein 1989 2.0? Nach der Entzauberung des vielbeschworenen „Endes der Geschichte“ von Francis Fukuyama kommt angesichts der dramatischen Konflikte nun Samuel Huntingtons Modell des „Zusammenstoßes der Kulturen“ wieder in Mode. „Während der ersten Phase hatte alles großartig gewirkt: Die Araber sind wie wir, sie haben Facebook; Schluß mit bin Laden, Schluß mit al-Qaida, mit Terrorismus, Niqab (Gesichtsschleier), Kalaschnikow und Dschihad. In der zweiten Phase, die von 2012 bis zum Sommer 2013 reicht, gehen wir zu einer anderen Doxa über: Mit den Arabern ist nichts anzufangen, sie sind unrettbar anders, es gibt nur solche, die für die Muslimbrüder sind, für den Niqab, die Kalaschnikow, den Dschihad usw. Diese Deutung geht einher mit einem Fragmentierungsprozeß der Gesellschaften, in dem frühere Spaltungen in neuen Formen wiedererscheinen.“ Ein Vogelflug über die Nachbarzonen Europas
ALARM IM COCKPIT – TECHNIK UND PSYCHE
Nachdem 2009 der Air-France-Flug 447 von Brasilien nach Europa vom Radarschirm verschwand, dauerte es mehr als zwei Jahre, bis man den Voice-Recorder und die Blackbox der Maschine aus dem Atlantik bergen konnte. Der amerikanische Reporter William Langewiesche, seinerseits langjähriger Pilot, rekonstruiert das rätselhafte Unglück. Einst waren Flugkapitäne Helden und Herrscher der Lüfte, hing doch von ihrer Kunst des Fliegens in kritischen Situationen alles ab. Die Zeiten haben sich geändert. Moderne Flugzeuge fliegen heutzutage nahezu von selbst. Piloten braucht man nur noch für Start und Landung. Moderne Luftfahrttechnologie hat das Flugzeug zum technologischen Spitzenprodukt gemacht, computerisierte Selbststeuerungssysteme garantieren optimale Sicherheit. Umso unverständlicher der Absturz von AF 447. Langewiesche nimmt die Fährte auf, trifft Ermittler und Luftfahrtexperten, Piloten, Ingenieure, Konstrukteure von Boeing und Airbus und deckt auf, wie eine Reihe menschlicher Fehler das Superflugzeug zur Todesfalle werden ließ. Der menschliche Faktor: Ein nichtfiktionaler Thriller über Mensch, Maschine und die Revolutionierung der Luftfahrt.
Der griechische Dramatiker Dimítris Dimitriádis wurde vor zwanzig Jahren mit einem erschütternden Essay zu Griechenland bekannt: Ich sterbe als Land (Lettre Nr. 54/2001). Was heute als brillante Diagnose einer zur Bewegungslosigkeit verkommenen Gesellschaft gilt, war auch der Schmerzensschrei einer gequälten Kreatur. In seinem neuesten Essay verrät der Autor, welch unbändigen Schmerz ihm jenes Land zufügte, in dem er sich nicht zu seiner Homosexualität bekennen durfte, ein Leiden, das sich in Furor und Rachebedürfnis umwandelte. Eine derartig explosive innere Spannung von Verzweiflung und Aggression erkennt Dimitriádis auch in der suizidalen Aggressivität jenes Piloten, der 149 Passagiere mit sich in den Tod riß: Ich bin Andreas Lubitz – eine psychoanalytische Annäherung an das schockierende Ereignis.
SIEBZIG JAHRE NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
Die Schriftstellerin Susanne Fritz erkundet in einem autobiographischen Text, wie sich das Schicksal ihrer Mutter auf ihr eigenes Leben auswirkt, einer Mutter, die als Deutsche in Polen nach dem Ende der Naziherrschaft für vier Jahre als Jugendliche zwangsinterniert wurde und die die damit verbundenen traumatischen Erinnerungen nicht zur Sprache bringen konnte. Unaussprechliches war geschehen und Unaussprechliches sollte in den kommenden Jahrzehnten unsichtbar und machtvoll im Raum stehen. An dieses Unaussprechliche durfte auch die Tochter nicht rühren, die zur Schriftstellerin geworden war. Über die Weitergabe und das Weiterwirken von Kriegstraumata über Generationen hinweg bis in unsere Zeit: Fingerabdruck. Wie kam der Krieg ins Kind?
An das Kriegsende vor siebzig Jahren erinnert Kai Althoetmar in seiner historischen Reportage Gekreuzigte Insel. Am 6. April 1945, revoltiert auf der holländischen Nordseeinsel Texel ein Bataillon georgischer Ostlegionäre gegen die Wehrmacht. Die zwangsrekrutierten Georgier erheben sich gegen ihre deutschen „Waffenbrüder“. 400 deutsche Soldaten werden im Schlaf getötet; SS-Angehörige der Wehrmacht rächen sich erbarmungslos. Holländische Widerstandskämpfer schlagen sich auf die Seite der Meuterer. Es entbrennen erbitterte Kämpfe, die sogar die deutsche Kapitulation in Holland überdauern, bis am 18. Mai – zehn Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs – kanadische Soldaten die Insel befreien. 2 500 Menschen starben bei diesem Befreiungsversuch. Einige überlebende Georgier werden nach ihrer Rückkehr in ihrer sowjetischen Heimat als Verräter verurteilt, weil sie nicht „bis in den Tod gekämpft“ hatten.
KUNST, KONZEPTE, BILDERWELTEN
Kunst und Gesellschaft betrachtet der Philosoph Jean-Claude Pinson in Hobby und Dandy. Das demokratische Zeitalter ist Synonym für Geschmacksnivellierung und Amateurkunst; der wahre moderne Künstler hingegen, Zwillingsbruder des Dandys, jenes „letzten Vertreters des menschlichen Stolzes“ (Baudelaire), schützt sich vor dem Massengeschmack. Er empfindet das „brennende Bedürfnis, sich eine wirkliche Originalität zu erschaffen“. Die Demokratisierung nimmt dem aristokratischen Ringen um Distinktion und Exzellenz nichts von seiner Entschiedenheit. Der Künstler bleibt der Rivalität unterworfen, er strebt danach, besser zu sein als andere. Das Begehren nach dem Absoluten läßt ihn ein ideales Werk anstreben und jenen Ruhm, den ihm die Gesellschaft nicht geben kann. Ruhm ist nicht Erfolg; Ruhm verspricht Unsterblichkeit und hat den Tod zum Horizont. Ein Künstler wirkt für die Toten, für geflohene Götter, für einen unbekannten Adressaten. Kunst muß der Menschheit helfen, über die Gegenwart hinauszublicken, der Künstler lebt am utopischen Horizont der Gesellschaft, wo Kunst und Leben anfangen, sich zu vermischen – durch die Kunst, zu leben.
Heinz-Norbert Jocks trifft den zum Adorno-Preisträger 2015 gekürten Kunsttheoretiker und Ausstellungsmacher Georges Didi-Huberman. „On couche toujours avec des morts“ – „Man schläft immer mit Toten“, diese Zeile aus einem Chanson von Léo Ferré macht sich dieser zu eigen. Er erläutert das visuelle Unbewußte, seine Reisen in die Einsamkeit und sieht den Künstler als Inkarnation von Freiheit und Souveränität. Warhol, Pasolini und Godard stehen für eine solche Freiheit und absolute Souveränität. Darf diese aber als heiliges Ego zelebriert werden? Was bedeutet diese Freiheit der Kunst, wenn der Künstler nur als Despot und nur er allein frei ist? Welche Freiheit bleibt der Kunst im kommerziellen Totalitarismus? Über das Begehren von Bildern und Kunsterfahrung als Schwellenüberschreitung: Blickveränderungen.
Der Realismusbegriff in der Kunst gilt heute weithin als untaugliches, kontaminiertes künstlerisches Ideal. Historisch ging er einher mit einer Versperrung künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten, mit repressiver Staatskunst, doch verkörperte er auch Kampfes- und Enthüllungslust. Heute, so der britische Kunstphilosoph John Roberts, gilt es, die Debatte neu zu überdenken. Eine Zukunft des Realismus kann nicht in hysterischem Engagement oder einer Verdinglichung mimetischer Grenzen liegen. Doch könnte er immer noch Medium sein für die Darstellung von Klasse und Kollektivität, Avantgarde und Dekadenz, wenn er es vermag, Widersprüche lesbar und produktiv zu machen: Aporetischer Realismus.
DAS IRONISCHE LEBEN
Eine Spektralanalyse der Ironie unternimmt der spanische Philosoph Manuel Arias-Maldonado. „Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört von Ironie. Satt, phlegmatisch, bekleidet“: So würde eine neue, an die Ära des Hipsters angepaßte Version von Allen Ginsbergs Poem Howl beginnen. Der Hipster gilt als Archetyp eines Zeitalters, welches sich der Ironie verschrieben hat. Heute überflutet Ironie das Leben. Seine prägnanteste Ausdrucksform findet dieser Hype bei Twitter. Ironisch gefärbt sind dessen Nutzerprofile, Selbstdarstellungen, Botschaften. Dient diese Ironie dazu, Lügen, Heucheleien, Prahlereien, Snobismus bloßzustellen? Oder führt das ironische Dispositiv nicht vielmehr zu arroganter Überlegenheitsempfindung, Distanz und Coolness, zu emotionaler Lähmung? Brauchen wir eine postironische Rebellion, „um die Dinge wieder so sehen zu können, wie sie tatsächlich sind“, wie David Foster Wallace meinte? Eine Tour d’Horizon des Denkens der Ironie – bei Denkern und Schriftstellern wie Vladimir Jankélévitch, Thomas Pynchon, Richard Rorty und Eva Illouz, bei Usern und ihren Profilen. Ironie ist unsere Seinsbedingung, und Twitter ist ihr Prophet.
INTELLEKTUELLE, POLITIK UND GESCHICHTE
Michel Houellebecqs vieldiskutierte Unterwerfung ist für Claus Leggewie mehr als ein provokativer Roman, es ist eine Warnung vor dem Verrat. Verrat, das war für Julien Benda die Abwendung der Intellektuellen von kritisch-universalistischen Haltungen der Gerechtigkeit und Demokratie zugunsten politischer Leidenschaften linker wie rechter Provenienz. Der Blick auf die Neigung zu geistigen Unterwerfungen, geschmeidigen Kollaborationen, Servilität und Willfährigkeit der Repräsentanten der Fünften Republik ist Houellebecq nicht fremd. Sein Roman Unterwerfung erinnert mit Anspielungen und Travestien an historische Personen und Ereignisse der Vichy-Kollaboration unter der deutschen Besatzung, die vor Künstlern und Literaten nicht haltmachte. Die Kollaboration durch Regierende mit Sponsoren des fundamentalistischen Islam wie Saudi-Arabien, die Zusammenarbeit zwischen der politischen Familie des Front National mit Vertretern von Rußlands neoimperialer Politik könnten Vorzeichen sein für die Disposition zu neuem Verrat, neuen totalitären Versuchungen.
Matthias Hennig skizziert die Freundschaft Walter Benjamins und André Gides nach. Gide versteht sich als Prinzipal des Ungehorsams, hält lebenslang am Gestus der Revolte fest, praktiziert einen exaltierten Individualismus, will die Möglichkeiten des Menschen an sich selbst erkunden. Er lebt die Philosophie eines ewigen Aufbruchs, steter Metamorphose, ständiger Grenzüberschreitung, strenger Selbstanalyse und temporärer Selbstaufgabe. Er zelebriert das Reisen, das Unterwegssein, als Form der Selbstüberwindung: „Stirb und Werde“. Benjamin ist von Gide fasziniert; dieser ist für ihn die „repräsentativste Erscheinung des geistigen Frankreichs“. Er stellt ihn in eine Reihe mit anderen, die nach dem „wahren Leben“ suchen und einen subversiven Geist der Revolte kultivieren: Oscar Wilde und Friedrich Nietzsche: „Vielleicht hat der europäische Geist in seiner westlichen Gestalt, im Gegensatz zu seinem östlichen Gesicht in Tolstoi und Dostojewski, nie deutlicher als in dieser Dreiheit sich dargestellt.“
Der Historiker Philippe Videlier vernimmt, was an diesem Ort geschah: „Schreie von Kindern Schreie von Frauen Schreie von Vögeln Schreie von Blumen Schreie von Balken Schreie von Steinen Schreie von Ziegeln Schreie von Möbeln von Betten von Stühlen von Gardinen von Töpfen von Katzen und von Papieren.“ Jene, die den Künstler damals besucht haben, erlebten ihn zwischen Zorn und Melancholie. „Einen ganzen Monat konzentrierte er sich. Am 1. Mai, anderswo ein Tag des Glücks, hatte sich sein Geist dem Gebrüll der Tiere und dem sterbenden Pferd gewidmet. Am 2. Mai hatte er an die Frau gedacht. Am 11. Mai waren die wichtigsten Elemente seines Zeugnisses vorhanden. Übrig blieb, dem Ganzen eine Form zu geben.“ Die Endfassung wurde am 4. Juni 1937 abgeschlossen: Guernica
Nicht nur den buschigen Schnurrbart hatte Günter Grass mit Bismarck gemein: Er war eine Vaterfigur, die einem halben Jahrhundert ihren Stempel aufdrückte und das Bild der Bundesrepublik im In- und Ausland prägte. Der Schriftsteller Hans Christoph Buch erinnert sich daran, wie Grass sich in seinem Landhaus an der Algarve mit einem gebratenen Butt für eine Gefälligkeit revanchierte: „Das Knacken, mit dem er die Schwanzflosse des Butts zwischen den Kiefern zermalmte, nahm das Geräusch vorweg, das aus seinem Grab dringen soll, wenn Günter Grass, wie in seinem Testament angedroht, ‘posthum Nüsse knackt’.“
Was dachte Goethe vom Nationalstaat? Nach Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und Napoleons Eroberung Preußens entsteht aus dem Widerstand gegen die französische Vorherrschaft unter deutschen Dichtern und Denkern die Forderung nach einem modernen Nationalstaat nach englischem und französischem Vorbild. In seinen Reden an die deutsche Nation formuliert Fichte das politische Konzept, welches Autonomie, Einheit und Identität fordert. Es entsteht der deutsche Nationalismus. Goethe jedoch verweigert sich dieser Idee. Die deutsche Nation ist für ihn in der Dimension der Kultur zu suchen. Weimar wird ihm zum Gegenentwurf zum militanten Nationalstaat. Wenn Goethe das Wort „Nation“ gebraucht, denkt er an geistige Charakteristiken; die Politisierung der Nation ist seine Sache nicht. Die Nation kann Gemeinschaftsgefühle nur vortäuschen, sie ist nur eine überdimensionierte Fiktion von Gemeinschaft. Welches Alternativkonzept zur Nation der Nationaldichter Goethe im Sinn hatte, schildert Arne Eppers in Teutschland am Herzen.
„Was die Sprache anbelangt, kann man Wörterbücher erstellen, Glossare, Grammatikbücher, Zusammenfassungen, Handbücher zur Aussprache, phonetische Studien. Doch bevor man sie in die abstrakte Sphäre erhebt, … muß man sie sprechen hören. Menschen, Männer, Frauen und Kinder müssen sie sprechen, mit Hilfe von Stimmbändern, den Instrumenten der Lautbildung, sie mit der Stimmritze formulieren, die aus sterblichem Knorpel besteht, Menschen wie du und ich, die heute leben und morgen nicht mehr, die vergänglich sind, sterblich und verletzlich. So entstehen die Sprachen, dank derer, die sie sprechen.“ So macht man sich in Antonio Tabucchis unvollendeter Erzählung in den armen Nordosten Portugals auf, um Stimmen zu sammeln, während in Angola und Mosambik blutige Kolonialkriege toben: „Die Sprache treibt an der Oberfläche des menschlichen Elends, die Sprache ist leicht, besteht aus luftigen Worten, die Luft hat nichts mit dem Leiden des Körpers, mit Wunden und Blut zu tun. Die Sprache gehört dem Reich des Himmels an. Der Körper ist Elend, besteht aus Fleisch, Knochen, Blut, er schmerzt, wenn man ihn berührt. Die Sprache hingegen kann man nicht foltern. (...) Die Körper sterben, die Sprachen überleben, sie sind der luftige Teil unseres körperlichen Elends, denn wir sind aus Staub gemacht und zu Staub werden wir wieder werden, im Gegensatz zur Sprache, die Sprache ist Teil des Luftreichs“: Trás-os-Montes.
In seinem Poem Trauerlied des Brückenschlags – ein Gemälde läßt der chinesische Dichter Yang Lian das Bildnis von Peter Paul Rubens Die Amazonenschlacht lebendig werden:
„      ein Blick      der Sternennebel der Farben gewinnt wieder Struktur/
ein Blick      ein Mensch stürzt aus dem Sternennebel      ein Triller/
wie lange stürzt er noch      außerhalb des Rahmens schneit es/
ein Pupillenpaar bricht zusammen      Tag für Tag unter der Last des Schnees/
wir verpfänden unser Fleisch      für die Kunst eines Trauerlieds/
Die Amazonen  pflücken eine abgetrennte Hand von der Mauer der Zeit/
aus einem weiblichen Notenblatt ziehen sie die hellen Tage,/
an denen die Kinder in den Tod gehen“
GOOOOOOOOOOL! DIE WM 2014 – POESIE UND PROSA
Der Schriftsteller Alex Bellos meint, Brasilianer erinnerten sich vor allem an Fußballweltmeisterschaften. Ihr Selbstverständnis und kollektives Gedächtnis sei vom Fußball geprägt, und sie befaßten sich lieber mit Spielen und Festen als mit der Realität. Doch die Weltmeisterschaft 2014 sah ein anderes Brasilien: Die für das Spektakel gebauten Megaprojekte waren Anlaß für massenhafte Proteste, auf die Straße zu gehen. Die Glücksdroge des Spiels und das Gift der Ungleichheit und Korruption führten zu aufgebrachten Reaktionen. Nachdem die Demonstrationen nach Wochen schließlich unterdrückt worden waren, fanden die Spiele nun in ungeahnter Weise statt. Sie waren attraktiv, mitreißend und elektrisierend. Deutschland und Argentinien sorgten im Finale für das klassische Aufeinandertreffen europäischer und südamerikanischer Schule. Pasolini sah in dieser Gegenüberstellung noch die Antithese zwischen prosaischem und poetischem Fußball, aber dieser Gegensatz besteht nicht mehr. Heute prägt überall eine kompakte Prosa das Spiel, mit seltenen großartigen Intermezzi von Poesie, Zufall und Kaltblütigkeit. Die brasilianische Seleção brachte das Kunststück fertig, als ins Halbfinale eingezogener fünffacher Weltmeister zu den wenigen Großen zu zählen, aber auch zu den ganz Kleinen, denn sie erlitt eine Jahrhundertschlappe: 1:7 gegen die „Mannschaft“. Nie zuvor war ein Gastgeber so vernichtend geschlagen worden. Eine Katastrophe. José Miguel Wisnik über Brasilien, die Weltmeisterschaft 2014, den Untergang der Seleção, die Trauer eines Landes und den Glauben an eine Wiederauferstehung.
BRIEFE UND KOMMENTARE, PHANTOME, EKSTASE, GESCHICHTENSÄNGER, UNGEHEUER
Die Schatten der Vergangenheit erkennt Iván Sándor in Ungarns Phantome.
„Oft habe ich mich auf Jan Assmanns Begriffe der ‘heißen’ und ‘kalten’ Erinnerung bezogen. Die heiße Erinnerung blickt der Vergangenheit ins Gesicht und lernt aus ihr, während die kalte Erinnerung diese einfriert und der kleineren und größeren Gemeinschaft somit die Möglichkeit raubt, Lehren aus ihr zu ziehen. Assmanns These kann in unseren Tagen um die ‘manipulierte Erinnerung’ ergänzt werden. Diese konserviert nicht nur die Irrtümer und Fehler der Vergangenheit, sie kreiert auch falsche Mythen, Irrlehren und Phantomideen zu ihrer Leugnung. Sie verfährt ähnlich wie das System der Sündenbockbildung, das gegen die Juden eingesetzt wird, und läßt in Ungarn die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wieder aufleben.“
Pico Iyer schildert geistige und ästhetische Erfahrungen: Sprung der Ekstase. „Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, wie  die Ekstase über eine bloße innere Wandlung hinausgeht und was ihre Entrückung oder ihren Rausch von der Transzendenz unterscheidet. (…) Musik kann eine unkenntlich wandernde Religion sein, indem sie uns unseres Alltags-Ichs entkleidet und eingehen läßt in etwas, das weniger von Zeit und Individualität befleckt ist. (…) Bach geleitet einen zu einer inneren Kapelle, in der man erst ein flackerndes Licht in sich und um sich herum gewahrt; Beethoven versetzt uns mit seiner 9. Sinfonie in eine Bewegung, bei der etwas aus uns herauszuströmen beginnt, in solchem Überfluß, daß man es am liebsten auf die Straße mitnehmen möchte.“
In Geschichtensänger schildert Fabio Stassi Begegnungen mit Vincenzo Consolo, der letzten Verkörperung der Tradition des sizilianischen Romans: „Consolos Schaffen war die kohärente, quasi auf genetischem Wege fortgesetzte Reflexion italienischer Angelegenheiten, wie sie die sizilianischen Schriftsteller anstellten – seit der Enttäuschung über das Risorgimento und die Gründung des Einheitsstaates bis hin zur Ermordung der Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Eine Stellungnahme dies, inmitten von Vizekönigen, alten und jungen, Pardelkatzen, geistlichen Exerzitien und Wildolivenbäumen, die anmutet wie ein umgekehrtes Rezitativ, wie eine unerbittliche Glosse über die jahrhundertealten Gebrechen und Defekte der Nation.“
Santiago Roncagliolo stößt vor in die Urwaldregion Ucayali. Inmitten dieser überbordenden Natur haben sich Menschen niedergelassen, die sich aus einer Elendsexistenz im Dschungel hierher geflüchtet haben, um zu überleben. Ihre Dörfer sind von dichtem Wald umgeben. Hühner, Fische, Früchte und Gemüse greift man sich aus der Natur. Doch um die Behausungen herum herrschen die Dunkelheit und der Terror des Waldes. Verirrt man sich darin, findet man den Rückweg nicht. Grelle Irrlichter blenden. Wird man ohnmächtig, werden einem die Organe entnommen. An den Wänden klettern zehn Zentimeter große Spinnen. Überall kriecht Gewürm. Keinen Schritt kann man ins Freie tun, ohne sich dem Angriff eines Tieres auszusetzen: Leben mit dem Ungeheuer.
KORRESPONDENZEN AUS KOPENHAGEN, MOSKAU, NEU-DELHI
Suzanne Brøgger schreibt aus Kopenhagen über den Bedarf an Sündenböcken, über flügellahmen Humanismus und das Ende des Kulturradikalismus. Urvashi Butalia berichtet aus Neu-Delhi über das kostbare Erlebnis, als Inderin die Grenze nach Pakistan überschreiten zu dürfen; sie erfährt eine wachsende Sehnsucht nach Frieden auf beiden Seiten der Grenze. Ein Kindheitserlebnis des heutigen russischen Präsidenten mit einer in die Ecke getriebenen und verzweifelt zum Angriff übergehenden Ratte ist für Michail Ryklin aus Moskau der Schlüssel zu Putins gnadenloser Vorstellung vom Leben: Immer Stärke zeigen, denn Schwäche wird nie verziehen: In die Ecke getrieben.
KUNST UND PHOTOGRAPHIE
Die Jungfrau von Candelaria, auch Mamacha genannt, steht im Mittelpunkt der Feierlichkeiten, die ihr zu Ehren jedes Jahr im Februar in Puno stattfinden. Die peruanische Hauptstadt der Folklore, der Musik, des Tanzes übertrifft sich an Ausdrucksformen in einem karnevalesken Rausch aus Anlaß eines der größten religiösen Feste des Landes. Prachtvolle Prozessionen, kostümierte Tänzer und Musiker streifen durch die überfüllten Straßen. Es herrscht ungezügelte Lebensfreude, hier kommt der Maskentanz Diablada zur Aufführung, der Tanz der Teufel, ein Kampf zwischen Gut und Böse. Figuren aus diesem Spektakel inszeniert der spanische Photograph Juan Manuel Castro Prieto, dessen Erkundungsreisen ihn immer wieder nach Peru führen, wo seine zwischen Traum und Wirklichkeit, Phantasie und Realismus oszillierende Neugier stets neue Nahrung findet. Das Photoportfolio von Eva-Maria Schön präsentiert Photogramme: Aus der Hand
VORSCHAU – DIE BRETTER, DIE DIE WELT BEDEUTEN
Das am 24. September erscheinende Herbstheft von Lettre International, Nr. 110, wird sich in einem reichhaltigen Themenschwerpunkt Theater, dem Schauspiel und dem Musiktheater widmen und Stimmen von Akteuren, Regisseuren und Beobachtern Raum geben. Großzügige Spielplananzeigen erhalten Sonderrabatte! Bitte sprechen Sie uns an, z.B. per Email: anzeigen@lettre.de
Wir wünschen Ihnen heitere Sonnentage bei bester Lektüre! Bleiben Sie uns gewogen.
Mit besten Grüßen,
Lettre International
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