I Bundeskanzler Christian Kern: "EU-Beitritt über Jahrzehnte unmöglich" / II Österreichs Außenminister Kurz: "Wir dürfen gegenüber Ankara nicht in die Knie gehen"

Diskurs aktuell
MERITO : Österreich kritisiert Türkei
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Inhaltsfolge
I Bundeskanzler Christian Kern: "EU-Beitritt über Jahrzehnte unmöglich"  /  II Österreichs Außenminister Kurz: "Wir dürfen gegenüber Ankara nicht in die Knie gehen"

INHALT
I Bundeskanzler Christian Kern: "EU-Beitritt über Jahrzehnte unmöglich"
Von Ralf Borchard, ARD-Studio Wien:

Der österreichische Kanzler Kern steht durch den Rechtsruck im eigenen Land unter Druck - und hat nun angeregt, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen. Von türkischen Politikern erntete er dafür heftige Kritik.
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Die Regierung in Wien fordert eine härtere Haltung gegenüber der Türkei und stellt sich damit gegen die weiter abwartende und vorsichtig kooperative Linie in Berlin und Brüssel. Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern fordert, beim nächsten EU-Gipfel den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu diskutieren: "Die Beitrittsverhandlungen, wie sie jetzt laufen, sind eigentlich nur noch eine diplomatische Fiktion. Wir wissen, dass die demokratischen Standards in der Türkei bei weitem nicht ausreichen", kritisierte er im TV-Interview. "Aber mindestens so gravierend ist auch die wirtschaftliche Frage, weil die Volkswirtschaft der Türkei so weit weg von einem europäischen Durchschnitt ist, da gibt es solche wirtschaftlichen Disparitäten, dass wir einen Beitritt schon aus einfachen ökonomischen Gründen wahrscheinlich kaum rechtfertigen könnten."

"Beitritt ist Ding der Unmöglichkeit"
Die EU müsse ihre Türkei-Politik ganz grundsätzlich überdenken, so Kern im ORF. "Ich denke, dass wir da alle miteinander gut beraten sind, zu sagen, wir drücken da jetzt einmal den Reset-Knopf und überlegen in welche Richtung das gehen kann. Ich halte einen Beitritt der Türkei auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte, für ein Ding der Unmöglichkeit."
Weil die Türkei eine realistische Perspektive der Heranführung brauche, müsse man sich einen neuen Weg überlegen, forderte Kern. Den Zorn Ankaras fürchtet der österreichische Kanzler nicht. Das Flüchtlings-Abkommen mit der Türkei sei nicht an die EU-Beitrittsverhandlungen gekoppelt. Und am Ende sitze eher die Europäische Union am längeren Hebel: "Wir sind gegenüber der Türkei kein Bittsteller. Wir sind einer der größten Investoren. Der türkische Tourismus hängt an uns", erinnert Kern.

Einschätzung: "Stopp der Verhandlungen? Danach sieht es momentan nicht aus"
ARD-Korrespondent Ralph Sina: Um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stoppen, ist ein einstimmiger EU-Beschluss notwendig. Die EU-Kommission müsste den Abbruch der Beitrittsverhandlungen, wie er von Österreichs Bundeskanzler Kern gefordert wird, vorschlagen. Alle 28 Staats- und Regierungschefs der EU müssten auf einem Gipfel diesem Abbruch zustimmen. Danach sieht es momentan nicht aus. Bundeskanzlerin Merkel spricht sich lediglich gegen die Eröffnung neuer Kapitel in den Beitrittsverhandlungen aus. Und Außenminister Steinmeier betont: Das Kappen von Verbindungen wäre die denkbar schlechteste Idee. Erst wenn die Türkei die Todesstrafe einführt, sind nach Ansicht der Staats- und Regierungschefs und der EU-Kommission die Beitrittsverhandlungen sofort beendet. Dann müsste die Türkei aber auch auf viel Geld verzichten. Denn für die Teilnahme an den Beitrittsverhandlungen erhält die Türkei mehrere Milliarden Euro als Heranführungshilfe von der EU.

"Ich war immer skeptisch"
Zuvor hatte schon der österreichische Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil den Flüchtlings-Deal mit der Türkei in Frage gestellt. "Ich war immer sehr skeptisch, was diese Vereinbarung und diesen Deal mit der Türkei betrifft. Und ich habe immer gesagt, das ist ein Zeitfenster für Europa. Es bedarf einer entsprechenden effektiven Außenschutzgrenzsicherung."
So hat Österreich Ungarn Unterstützung bei der Sicherung des Grenzzauns zu Serbien zugesagt. 20 österreichische Polizisten sind bereits an der ungarisch-serbischen Grenze, auch über die Entsendung österreichischer Soldaten nach Ungarn wird verhandelt.

Türkische Reaktionen auf Aussagen Kerns
Die Forderung von Österreichs Kanzler Christian Kern nach einem Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wird von türkischen Politikern scharf kritisiert: Dass Kern in "Türkei-feindliche Diskurse" verfalle, sei "besorgniserregend", sagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.
Europaminister Ömer Celik erklärte: "Wenn ich ehrlich sein soll, finde ich es äußerst störend, dass diese Art von Ansatz so sehr Ähnlichkeit mit dem Ansatz der Rechtsextremisten in Europa aufweist."

SPÖ unter Druck von rechts
Die EU-Staaten müssten endlich selbst mehr für die Sicherung ihrer Außengrenzen tun und abgelehnte Asylbewerber konsequenter abschieben, so Doskozil: "Das ist die dringendste Aufgabe der Europäischen Union, hier Rückführungsabkommen und Rückführungen durchzuführen."
Die Aussagen Kerns und Doskozils - beide Sozialdemokraten - haben auch eine innenpolitische Komponente: Zum einen will die SPÖ nicht hinter dem Koalitionspartner ÖVP zurückstehen. Auch ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz hatte mehrfach eine härtere Türkei-Politik gefordert. Und beide Koalitionsparteien fühlen sich von der rechtspopulistischen FPÖ unter Druck gesetzt. Der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer hofft, Anfang Oktober die Wiederholung der Präsidenten-Stichwahl in Österreich zu gewinnen.

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II Österreichs Außenminister Kurz: "Wir dürfen gegenüber Ankara nicht in die Knie gehen"
Sebastian Kurz, Jahrgang 1987, ist seit 2013 österreichischer Außenminister. Zuvor war der Politiker der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) Integrationsstaatssekretär. Kurz gehört zu den beliebtesten Politikern seines Landes.

Ein Interview von Florian Gathmann

Österreichs Außenminister Kurz
Berlin und Brüssel beharren auf dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei - Österreichs Außenminister fordert einen Alternativplan. Die Abhängigkeit von der türkischen Regierung sei gefährlich.
Trotz der Entwicklungen in der Türkei setzen EU und Bundesregierung weiter auf das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei - auch die jüngsten Drohungen aus Ankara führten bisher zu keinem Umdenken. An dieser Vogel-Strauß-Politik gibt es aber zunehmend Kritik: Österreichs Außenminister Sebastian Kurz warnt im SPIEGEL-ONLINE-Interview vor einer "Abhängigkeit, die gefährlich ist". Der Politiker der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) fordert stattdessen einen Alternativplan zur Lösung der Flüchtlingskrise.

SPIEGEL ONLINE: Genau wie die EU hält auch die deutsche Bundesregierung an dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei fest, als wäre nichts geschehen. Wie finden Sie das?

Kurz: Wir können uns nicht zurücklehnen und darauf hoffen, dass der Deal mit der Türkei hält. Denn wenn wir so agieren, begeben wir uns in eine Abhängigkeit, die gefährlich ist. Wir dürfen aber nicht erpressbar werden. Ich wünsche mir ein Europa, das stark und eigenständig ist - und es schafft, die Flüchtlingskrise selbst zu lösen.

SPIEGEL ONLINE: Wie soll das gehen?

Kurz: Wir müssen endlich unsere Außengrenzen richtig schützen. Ich habe schon im Mai davor gewarnt, dass wir uns nicht in die Abhängigkeit der Türkei begeben sollten und das Abkommen mit Ankara nur der Plan B sein kann. Angesichts der Drohungen aus der Türkei wird jetzt noch deutlicher, dass wir diesen Plan A brauchen.

SPIEGEL ONLINE: Also nochmals: Wie soll Plan A aussehen?

Kurz: Zunächst brauchen wir eine wirkliche Grenz- und Küstenwache der EU. Gleichzeitig müssen wir es ermöglichen, dass mit Resettlement-Programmen eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen legal in die EU darf. Aber es muss eben klar sein, dass jegliche illegale Migration unterbunden wird. Die Rettung im Mittelmeer darf kein Ticket nach Mitteleuropa bedeuten.

SPIEGEL ONLINE: Heißt konkret?

Kurz: Wer an den Außengrenzen aufgegriffen wird, muss in Hotspots auf Inseln versorgt werden und im Idealfall in sein Herkunftsland oder ein sicheres Transitland gebracht werden - so wie es Australien erfolgreich praktiziert. Außerdem müssen wir künftig noch viel mehr investieren, um die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. So können wir verhindern, dass sich mehr und mehr Menschen mit dem Ziel Europa auf den Weg machen und damit die Situation außer Kontrolle gerät.

SPIEGEL ONLINE: Sprechen Sie über diesen Vorschlag mit dem deutschen Außenminister und der EU-Außenbeauftragten?

Kurz: Definitiv. Ich habe den Vorschlag ja schon vor Monaten gemacht, damals wurde ich dafür heftig kritisiert - inzwischen ist das anders. Unter den Außenministerkollegen wächst die Unterstützung. Wenn wir als Europa unsere Außengrenzen nicht schützen, wird es mittelfristig keine offenen Grenzen innerhalb der EU mehr geben können. Aber ich will weiter in einem offenen Europa leben.

SPIEGEL ONLINE: Soll die EU mit Blick auf die Lage in der Türkei den Flüchtlingsdeal einfach von sich aus kündigen?

Kurz: Das ist nicht notwendig. Aber wir müssen als Europa stark sein. Wir dürfen gegenüber Ankara nicht in die Knie gehen, sondern müssen unsere Grundwerte verteidigen. Für die Visaliberalisierung gibt es beispielsweise klare Kriterien, davon dürfen wir nicht abweichen. Die Türkei entwickelt sich gerade immer weiter von Europa weg.

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