SWR2 Wissen: Stefan Fuchs: 'Das Elsässische in der Literatur' . Schreiben in einer sterbenden Sprache

Diskurs aktuell
Das Elsässische - Europäische Vision ?
-da-swr2wissen16-2fuchs-das-elsaessische

ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
Sendung: Donnerstag, 11.02.2016, 08.30 – 09.00 Uhr, SWR 2 Wissen
Redaktion: Anja Brockert . Regie: Maria Ohmer . Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Auszeichnung für < SWR2 Wissen: Stefan Fuchs: 'Das Elsässische in der Literatur' >
Begründung:
? Integration* des Elsass in die Großregion Alsace-Lorraine-Champagne-Ardennes ?
*Der Begriff 'Integration' entspricht dem Zynismus des nationalistisch & zentralistisch geführten Frankreichs in Europa.
Ziel soll vielmehr ein Europa von Autonomen Regionen** sein, die sich aus sprachlich-geliederten Topoi gliedern: Utopie - heute ja, da ein repressives neoliberales, zugleich grossspuriges**, verstrittenes Regime herrscht, für morgen aber eine Vision von Europa mit Sprach/Bild/Tonkultur-Regionen und Menschen mit Grundeinkommen in ganz Europa angesagt ist .
Quintessenz: kultur-punkt / m+w.p.
Ein Muster für - nach  2 Generationen  hartem Vertragsdiskurs - ein autonome Region in Europa ist  Südtirol ...
http://archiv.kultur-punkt.ch/lebensraum/manifest13-8gesundheit-suedtirol.htm
http://archiv.kultur-punkt.ch/kulturreisen/bibliotels10-6.htm
*
ÜBERBLICK
Das Elsässische schien nach 1945 vom Aussterben bedroht. Die Nationalsozialisten hatten die Mundarten der Region zu einer Art germanischer Ursprache stilisiert. Viele Elsässer wollten nach dem Krieg die Erinnerungen an die Schreckensherrschaft vergessen und endlich das sperrige Erbe der deutsch-französischen Doppelkultur abschütteln. Französisch war die Sprache der Wahl. Doch in den politischen Turbulenzen der 1960er- und 1970er-Jahre erlebt die Mundart eine unerwartete literarische Renaissance. Liedermacher wie Roger Siffer, Dichter wie André Weckmann und Claude Vigée entdecken im vermeintlich überlebten elsässischen Dialekt eine revolutionäre Sprengkraft. Mit ihm gelang ihnen eine radikale Kritik der Moderne, die auf beiden Seiten des Rheins verstanden wurde. Heute ist mit der von Paris verabschiedeten Gebietsreform für viele Elsässer die Identität und Sprache ihrer Heimat erneut in Bedrängnis geraten. Sie befürchten, dass die Integration des Elsass in die Großregion Alsace-Lorraine-Champagne-Ardennes von der Doppelkultur nicht viel übriglassen wird.

MANUSKRIPT
Regie: Historische O-Töne Cut 1-3 zu Collage blenden
Cut 1: [Piratensender Radio Verte Fessenheim]
Do isch Radio Verte Fessenheim zwische 100 un 104 MHZ direkt usm Kaiserstuhl… Seppi kum jetzt, se sende widder…
Cut 2: [Hist. O-Ton, Nai hämmer gsait!]
Achtung, Achtung, die Bürgerinitiativen von Kaiserstuhl und Breisgau rufen auf zum Sternmarsch gegen das geplante Atomkraftwerk in Whyl und gegen das Bleiwerk in Marckolsheim.
Cut 3: [Hist. O-Ton Meinrad Schwörer, Alemannische Rede Marckolsh.]
Mr sähnä wider ámool, daß-mr zámmá ghäärá. Un mit nit anders bringä-mr des besser zuám Üsdruck wiá mit unserá eigená Sprooch, mit-erä Sprooch, wu sälli in Paris nit verschdehn, wu-si in Bonn nit verschdehn un wu sálli in Minchá au nit verschdehn, aber wu miir üs-em alemannischá Räum alli vrstehn!
Regie: Musikakzent Gipsy Jazzgitan
Ansage:
Das Elsässische in der Literatur. Schreiben in einer sterbenden Sprache.
Eine Sendung von Stefan Fuchs.
Cut 4: [J.-J. Rettig]:
En Märckelse hets äängfänge/ Märckelse lej t ärn Rhin/ en Märckelse hän mer s guldene kalb gstoche/ en Märckelse hän mer d demokrätie entdeckt/ en Märckelse hän mer d granze gsprangt/ en Märckelse hets äängfänge/ Märckelse em Elsass.
Regie: Ende Musikakzent
Zitator:
In Marckolsheim hat es angefangen/ Marckolsheim liegt am Rhein/ In Marckolsheim haben wir das goldene Kalb gestochen/ In Marckolsheim haben wir die Demokratie entdeckt/ In Marckolsheim haben wir die Grenzen gesprengt./ In Marckolsheim hat es angefangen/ Marckolsheim im Elsass.
Sprecherin:
Ein Dialektgedicht über die „Entdeckung“ der Demokratie im oberelsässischen Marckolsheim. Geschrieben hat es der Schriftsteller André Weckmann. Seine Zeilen wurden zu einem Fanal des ökologischen Widerstands am Oberrhein in den siebziger Jahren und Ausdruck seiner tiefen Verwurzelung in der alemannischen Mundart. Der Realschullehrer Jean-Jacques Rettig gehört zur Gründergeneration der elsässischen Umweltschutzbewegung und war einer der führenden Köpfe des ökologischen Protests in Marckolsheim. Weckmanns Gedicht ist für ihn noch heute untrennbar mit der alemannischen Protestbewegung im Elsass und in Baden verbunden.
Cut 5: [J.J. Rettig]:
Ich mein es war gestern! Er hat uns den das erste Mal auf‘m besetzten Bauplatz in Marckolsheim vorgetragen. (..) da gab’s eine wirkliche Zusammenarbeit zwischen den Bürgerinitiativen, aber auch zwischen der Basisbevölkerung beiderseits des Rheins. Da haben Leute, die keine richtigen Kontakte mehr hatten, (..) entdeckt, dass Badener und Elsässer, Deutsche und Franzosen etwas anderes gemeinsam unternehmen können, wir kämpfen nicht mehr für die Herren da oben, wie es hieß, sondern wir kämpfen für uns, für unsere Heimat, für die kommenden Generationen.
Sprecherin:
Zu Beginn der siebziger Jahre wollen Politiker in Deutschland wie in Frankreich den Oberrhein in eine Art zweites Ruhrgebiet verwandeln. Marckolsheim wird dabei als Standort für ein Bleichemiewerk auserkoren. Im Herbst 1974 besetzen Bürgerinitiativen aus dem Elsass und dem Kaiserstuhl den Bauplatz. Denn die zu erwartenden Emissionen bedrohen Grundwasser und Weinberge auf beiden Seiten des Rheins. Und wie zuvor schon im französischen Fessenheim sorgen die Pläne für den Bau eines Atomkraftwerks wenige Kilometer entfernt, im badischen Wyhl, zusätzlich für Empörung. Es ist der Startschuss für eine die Grenzen sprengende Solidarisierung, die als „Alemannische Internationale“ in die Geschichte der europäischen Umweltbewegung eingehen wird. Die Mundart am Oberrhein spielt von Anfang an eine entscheidende Rolle.
Cut 7: [A. Mayer]:
Für mich selber war es erst mal erstaunlich. Ich sprach zuhause Alemannisch, aber im öffentlichen Raum hat man Hochdeutsch gesprochen und ich kam auf den Platz und es wurde Alemannisch gesprochen. Das heißt die Elsässer Elsässer-Dütsch, die Badener Badisch und die Schwyzer Schwyzerdütsch. Das war eine ganz neue tolle Erfahrung. Es war nicht gewollt, oder geplant, oder organisiert. Sondern es war einfach eine alemannische Selbstverständlichkeit. Wie sollt‘ ma sonscht schwätze als Alemannisch?
Sprecherin:
Axel Mayer ist heute Geschäftsführer des „Bund für Umwelt und Naturschutz“ in Freiburg. Mit der Besetzung des Bauplatzes in Marckolsheim begann auch sein Engagement für die Umwelt. Fast nostalgisch erinnert er sich an die grenzüberschreitende Protestbewegung gegen Atomkraftwerke und Chemiefabriken mitten im „Paradiesgärtlein“ zwischen Kaiserstuhl und Vogesen.
Cut 8: [A. Mayer:]
Das war noch die gute alte, offene, ehrliche Umweltverschmutzung. Das war ein Bleichemiewerk, das hätte nach Werksangaben 12 bis 13 Tonnen zum Kamin abgegeben. Hauptwindrichtung, Richtung Baden, Richtung Kaiserstuhl, Richtung Reben und es gab vergleichbare Werke in Norddeutschland, dort sind die Kühe auf der Weide tot umgefallen.
Sprecherin:
Die Menschen auf beiden Seiten des Rheins verstanden sofort, was ihnen drohte. Der Unmittelbarkeit der Gefahr entsprach die Unmittelbarkeit des Widerstands, der sich in der Mundart artikulierte. Für den 1924 im unterelsässischen Steinburg geborenen Dichter André Weckmann stellte die „Alemannische Internationale“ auch eine historische Chance dar, die Mundart zu bewahren.
Zwei Jahrzehnte nach Kriegsende war ihr Gebrauch im Elsass bereits stark rückläufig. Für eine kleine Gruppe elsässischer Autoren wurden Texte in der Mundart jetzt zum authentischen Ausdruck des Widerstands gegen die als menschfeindlich empfundene, technokratisch geprägte Moderne.
Regie: Musikakzent Iannis Xenakis ab 3:10, kurz frei dann unter Cut 9
Cut 9: [A. Mayer]:
Es hocke drej herre am rhin/ un spiele rhur uf französisch und uf ditsch/ mit nem zaichebrätt dr eint/ mit millioneschecks dr zweit/ mit gummiknittel dr dritt/ es spalte drej herre am rhin mit goldige äxt kern vum atom/ dr hauklotz isch min land/ es hocke drej herre am rhin, wann kejje mr se nin?
Regie: Ende Musikakzent
Zitator:
Es hocken drei Herren am Rhein/ und spielen Ruhr auf Französisch und auf Deutsch/ mit ‘nem Zeichenbrett der eine/ mit ‘nem Millionenscheck der zweite/ mit ‘nem Gummiknüppel der dritte/ Es spalten drei Herren am Rhein Atomkerne mit goldenen Äxten/ der Hauklotz ist mein Land/ Es hocken drei Herren am Rhein, wann endlich werfen wir sie hinein?
Sprecherin:
André Weckmanns elsässisches Mundartgedicht „Rheingold“ bleibt auch in Axel Mayers Kaiserstühler Dialekt authentisch. Tatsächlich existiert ein „Alemannisch“ im Sinne einer sprachlichen Norm nicht. Es ist eine der großen Freiheiten der Mundart gegenüber den Standardsprachen, dass sie in unzähligen gleichberechtigten lokalen Varianten existiert. Der Deutschlehrer und Johann-Peter-Hebelpreisträger André Weckmann wird in den siebziger Jahren mit Gedichten wie „Rheingold“ zum führenden Vertreter eines elsässischen Revivals der Dialektdichtung. Der Geist des ökologischen Widerstands ermöglicht ihre Erneuerung und politische Zuspitzung.
Während der Annexion des Elsass durch Nazi-Deutschland war André Weckmann zwangsrekrutiert worden. Gegen seinen Willen musste er am Russlandfeldzug in der Uniform der deutschen Wehrmacht teilnehmen. Er desertierte und hielt sich bis Kriegsende in den Vogesen versteckt. Bereits seine frühen Texte setzten sich in den fünfziger Jahren kritisch mit der Kulturpolitik Frankreichs auseinander. Der Vorwurf: sie ziele ganz bewusst darauf, das Elsässische aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.
Cut 10: [C. Fichter]:
Sein ganzes Werk ist ein Akt des Widerstands in dem Sinne. Wenn er schreibt er, schreibt er aus seiner Seele heraus und seine Seele ist ganz eng mit dieser elsässischen Utopie verbunden. Er hätte sich sicher eingesetzt für die Leute, die aus Syrien kommen, er war immer wieder dabei, wenn etwas zu tun war für die Menschlichkeit. Er interessierte sich nicht nur für das Elsässische an sich, das Elsass war interessant insofern als es ein Medium der Utopie funktionieren konnte.
Sprecherin:
Der Straßburger Germanist und Übersetzer Charles Fichter sieht den von der katholischen Theologie der Befreiung geprägten André Weckmann in der Tradition
René Schickeles. Der elsässische Expressionist hatte sich auf die Fahnen geschrieben, die elsässische „Triphonie“, die Dreisprachigkeit in Deutsch, Französisch und Mundart zu erhalten. Zwischen den Weltkriegen war sie für Schickele zum Inbegriff einer damals völlig utopisch erscheinenden Aussöhnung zwischen dem romanischen und dem germanischen Kulturkreis geworden.
In der Nachkriegszeit symbolisiert die den Dialekt einschließende Dreisprachigkeit für André Weckmann eine geglückte Verbindung von Lokalem und Globalem, von Überlieferung und Moderne, von Natur und Mensch. In einem seiner programmatischen Texte stellt er die Frage:
Zitator:
Was ist nun diese „Alemannische Internationale“? Eine Idee, die es uns erlaubt, aus unserer Eingeengtheit herauszubrechen, ohne aber deshalb einer entwurzelnden Globalisierung zu verfallen. Reflexion über neue demokratische Formen des freiheitlichen Gemeinschaftslebens in harmonischer Osmose von Mensch und gewachsener Umwelt: dies wäre alemannische Konvivialität und praktizierter Humanismus. Eine Utopie? Vielleicht. Wollen wir’s nicht dennoch miteinander versuchen?
Cut 11: [C. Fichter]:
Weckmann macht zwei Sachen. Er kritisiert die rasche Modernisierung und das Kapital, die Konsumgesellschaft. Aber zugleich beschreibt er immer wieder die Dörfer, wie sie sind und nicht als Idylle. Die Dörfer wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. Bei ihm gibt es manchmal etwas Idyllisches, aber die Hauptsache ist die Kritik.
Sprecherin:
Charles Fichter hat selbst die Auswirkungen der kleinen elsässischen Kulturrevolution im Umfeld der „Alemannischen Internationalen“ erlebt.
Cut 12: [C. Fichter]:
Ich war damals, als es diese kulturelle Bewegung gab, in Marseille. Anfang der 70er Jahre, als ich wegzog aus Straßburg, geschah da nichts. Sogar diejenigen, die den Dialekt fördern wollten, waren eher noch konservativ. Als ich zurückkam, sagte man, da gibt’s einen Dichter, Weckmann, und der hat gesagt, das Elsass hat einen Linksruck bekommen. Die Scholle ist plötzlich links. Das habe ich nur verstanden, als ich dann Weckmann gelesen habe.
Zitator:
Die Heimat ist nicht nach links gerückt. Sie war vielmehr schon immer eine zutiefst linke Vorstellung. Wie sie auch eine christliche Vorstellung im reinsten, ursprünglichsten Sinne des Wortes ist. Sie steht für den Kampf um die Würde der Menschen, für die Freiheit der Menschen, die dem Zwang zur Assimilation ausgesetzt sind. Heute kommt der Kampf gegen die soziale und ökonomische Ausbeutung, gegen die Zerstörung der gewachsenen Lebensgrundlagen hinzu.
Sprecherin:
André Weckmann steht nicht allein mit dieser literarischen Wiederentdeckung der elsässischen Heimat und ihrer Mundart aus dem Geist des Widerstands. Der Germanist und Dichter Adrien Finck macht in den siebziger und achtziger Jahren seinen Lehrstuhl an der Universität Straßburg zum Zentrum einer Rückbesinnung auf das verdrängte kulturelle Erbe des Elsass. Autoren wie Raymund Matzen oder Conrad Winter machen die Mundart zum authentischen Ausdruck des elsässischen Lebensgefühls, das seit Jahrhunderten von der schmerzhaften Erfahrung der Entwurzelung geprägt ist. Das Elsässische ist ihnen Gegengift gegen den Missbrauch der selbstproklamierten „Hochsprachen“ Französisch und Deutsch. Sie empfinden sie als Befehlssprachen und Sprachen der Unterdrückung. Das gilt auch für den 1921 in Bischwiller geborenen Claude Vigée. 1942 musste er als Jude aus dem Elsass fliehen. In den siebziger Jahren lebt er noch immer im Exil in Israel.
Cut 13: [C. Fichter]:
Claude Vigée ist eine sehr interessante Figur als Dichter, als Schriftsteller. Er hat auch Dialektgedichte geschrieben, das war in Israel in den siebziger Jahren. Da gab es Bombenangriffe und er fühlte sich bedroht und dann sind sehr viele Gedichte von ihm plötzlich entstanden. Sein Gedichtband heißt „Schwàrzi sengessle flàckere ém wénd“, also „Schwarze Brennnesseln flackern im Wind“ und Weckmann hat auch dieses Motiv der Brennnesseln in seinem Werk, ohne dass der eine von dem anderen sich inspiriert hätte. Aber die Brennnesseln als Motiv des Widerstands, des Unkrauts, der Unordnung aber der positiven Unordnung.
Sprecherin:
Die elsässischen Autoren glaubten für einen kurzen Augenblick, man könne so auch die Isolation des Künstlers überwinden, die typisch für die Kunst der Moderne ist. Sie hofften, der Einsatz der Mundart als ästhetisches Instrument könnte ihre Texte wieder den Menschen näher bringen, die den Dialekt noch im Alltag sprachen. Tatsächlich machten in den heroischen Tagen der ökologischen Protestbewegung „Folksänger“ wie Roland Engel, Roger Siffer, François Bumbt, René Egles und Francis Keck die Dichtung in Mundart einem größeren Publikum zugänglich. Aber selbst für André Weckmann, den prominentesten Vertreter der literarischen Renaissance des Elsässischen, erwies sich die Vorstellung einer durch die Mundart erneuerten Volksdichtung als Illusion.
Cut 14: [C. Fichter]:
Da gibt es immer wieder diese Spaltung bei Weckmann zwischen dem Intellektuellen und dem Volk. Er ist ein Volksdichter ohne Volk. Er ist immer wieder auf der Suche nach einem Volk, aber im Grunde genommen hat er kein Volk. Es ist kein volkstümlicher Dichter.
Regie: Musikakzent Alexander Desplat –Morning Tears
Cut 15: [C. Fichter]:
Schàng, dsunn schint schun làng/ schun fuzéhundert johr/ zü làng schun schintse schàng/ mr stecke di ene bàbeldurm/ átomkiéldurm ám rhin/ dássd kláin wursch wi e roder wurm/ un weck di dert in/ dsunn schint schun làng/ schàng, schint dsunn noch làng/ Un wilàng noch gets schàng/ wilàng, wilàng?
Regie: Ende Musikakzent
Zitator: Schon fünfzehnhundert Jahre Hans/ scheint die Sonne hier/ zu lange scheint sie Hans/ in einen Turm von Babel stecken wir dich/ AKW-Kühlturm am Rhein/ dass klein du wirst wie ein roter Wurm/ dann wecken wir dich dort ein/ Hans die Sonne scheint schon lang/ wie lange wird die Sonne noch scheinen sag/ und wie lange wird’s dich noch geben Hans? Wie lang, wie lang?
Sprecherin:
André Weckmanns lapidar mit „Chinesisch“ überschriebenes Mundartgedicht beklagt den fortgesetzen Dornröschenschlaf des Elsass. Jahrhunderte dauernde Erstarrung und Passivität sind die dunkle Rückseite des „fetten Landes“ zwischen Rhein und Vogesen, wie es Weckmann erlebt. Den Grund sieht er in dem, was er die „Verangsthasung“ der Elsässer nennt. Ihre geschichtlich weit zurückreichende Verunsicherung, die jeden Widerstand lähmt. Sie macht die Menschen besonders anfällig für eine Zwangsmodernisierung, die alle Unterschiede einebnet, der die Natur und schließlich auch die Mundart zum Opfer fallen.
Zitator:
Die Motorsäge jault. Der Buchenast ist zäh. Die Bäume hier hat mein Papa gepflanzt. Nun müssen sie weg. Der Bodenzusammenlegung wegen. Weg mit den Hecken, Schlehe und Weißdorn, Holunder und Brombeere. Weg mit den Blindschleichen, den Ringelnattern, den Feldhasen. Hier wird Mais wachsen wie in den USA, bis zum Horizont, hier wo jetzt noch Buchen und Birken stehen, wo der Schlehdorn blüht, wo der Hase durch den Wegerich hoppelt, wo die alten Obstbäume sich in Weiß und Rot kleiden.
Sprecherin:
Der radikale Umbau der elsässischen Landschaft für eine industrielle Landwirtschaft ist für alle Autoren dieser elsässischen Protestbewegung eng verbunden mit dem schleichenden Tod der Mundart. Die Klage um die verfemte, vergehende, verlorene, schließlich vergessene Sprache ist allgegenwärtig in ihren Texten. Schon 1963 stimmt Germain Muller im Straßburger Kabarett „Barabli“ den „Schwanengesang“ des Elsässischen an. 1979 erinnert Adrien Finck mit seinem Gedicht „Letzte Elsässische Deutschstunde“ an die lange deutschsprachige Tradition im Elsass, die jetzt abrupt zu Ende gehe. Conrad Winter beklagt 1981 in seinem Lyrikband „In dieser Sprache“ den Verlust der sprachlichen Heimat.
Cut 16: [D. Huck]:
1945 hat man festgestellt, dass Französisch immer als dritte Sprache kommt. Über 90% der Elsässer sagten: Na klar! Unsere Sprache ist Elsässisch. Dann kommt Hochdeutsch und dann Französisch. Irgendwie war das ein Problem. Man glaubte, dass es nur über den Weg ging, dem Hochdeutschen, aber auch dem Dialekt, dass man die aus dem Weg räumen musste, weil man nicht dachte, dass man mit zwei Sprachen leben könnte. Es ist eine monolinguistische Wahnvorstellung, dass man, wenn man mit der einen Sprache leben will, mit Französisch leben will, dann kann man nicht eben das andere behalten.
Sprecherin:
Der Germanist Dominique Huck [Hück] leitet das Zentrum für elsässische und lothringische Dialektologie an der Universität Straßburg. Er beschreibt die besondere kulturelle Situation in der Nachkriegszeit. Unter dem harmlos klingenden Slogan
„Parler Français c‘est chic!“, „Französisch sprechen ist chic!“ bekämpfte der französische Zentralstaat“ das deutschsprachige Erbe im Elsass.
Cut 17: [D. Huck]:
1945 schreibt Émile Baas, wie könnte man sich vorstellen, dass Leute aus den Dorf anders sprechen könnten als im Dialekt. Oder dass man auf der Straße anders sprechen könnte als im Dialekt. Für ihn ist das etwas Unvorstellbares. Dreißig Jahre später ist das so!
Sprecherin:
Mit der politischen Zeitenwende von 1968 entdecken Intellektuelle und Künstler in ganz Frankreich die Verarmung, die durch die staatlich verordnete sprachliche Monokultur eingetreten ist. Das Französische hatte man als einzig akzeptierte Sprache der Republik sogar in der Verfassung festgeschrieben. Bretonen, Korsen, Basken und Okzitanier begannen jetzt dagegen aufzubegehren. Sie bestehen auf ihren regionalen Unterschieden. Anders aber als die anderen kulturellen Minderheiten in Frankreich stehen die Elsässer seit Jahrhunderten zwischen zwei Nationalstaaten, die sich spinnefeind gegenüberstehen. Unter diesen Umständen wurde jeder Versuch, das deutschsprachige Erbe des Elsass zu erhalten, von der französischen Republik als Angriff auf die nationale Einheit empfunden und entsprechend sanktioniert.
Regie: Musikakzent Stockhausen Luzifers Tanz ab 2:30, kurz frei dann unter Cut 12
Cut 18: [D. Huck]:
redd wiss/ nêger/ wiss ésch scheen/ wiss ésch nôwel/ wiss ésch gschît/ wiss ésch franzeesch/ frànzeesch ésch wiss/ wiss un chic/ elsasser/ elsassisch degaje/ net/ zall ésch brimidîv/ vûlgêr/ pfùi! (..) drum redd wiss/ wiss wi z bariss,/ un dunk dini nêgersprôch/ en formôl/ un schank se em müséum/
Regie: Ende Musikakzent
Zitator:
Red‘ weiß/ Neger/ weiß ist schön/ weiß ist vornehm/ weiß ist gescheit/ weiß ist französisch/ französisch ist weiß/ weiß und chic/ Elsässer/ Elsässisch dagegen/ nicht/ das ist primitiv/ vulgär/ pfui!// darum red‘ weiß/ weiß wie in Paris/ und tunk deine Negersprache/ in Formalin/ und schenk sie einem Museum.
Sprecherin:
André Weckmanns Gedicht „Speak White“ macht die rassistischen Züge deutlich, die für ihn das Regime des französischen Zentralstaats über seine östlichste Provinz kennzeichnen. Formale literarische Experimente, mit denen sich Lyriker wie der zur Konkreten Poesie gehörige Hans-Carl Artmann der Mundart zugewandt hatten, sind seine Sache nicht. Er bleibt immer ein politisch engagierter Dichter.
Zitator:
Dialekt ist für die Elsässer keine Modesache, Dialekt ist Atem und Pulsschlag, Schwiele und Schweiß, Lied und Schrei. Im Dialekt haben wir lange geschwiegen. Im Dialekt wird jetzt gesprochen.
Sprecherin:
Die elsässische Regionalliteratur wird in den siebziger und achtziger Jahren zum Ausdruck des schmerzlichen Lebensgefühls, das viele Elsässer bis heute empfinden und dessen Intensität im benachbarten Baden kaum zur Kenntnis genommen wird. Schon in den zwanziger Jahren hatte der elsässische Dichter René Schickele seine Landsleute mit Indianern in einem Reservat verglichen. Eine lange Geschichte kultureller Diskriminierung erst durch das deutsche Kaiserreich, dann durch die französische Republik erklärt, warum der Gebrauch der Mundart im Elsass eine so zugespitzt existentielle Dimension besitzt.
Regie: [Musik: Roland Engel: Grabschrift für ein Land]:
Sie han se uf de Bode gschmisse wie e Pack Lumpe/ (..) So isch se gsin wie m'r se gfunde han/ Verstampft un voll Narwe/ Dann hann m'r se gepfläjt/ Wie gewissehafte Krankeschweschterle/ Jetzt macht se/ Wieder mit/ Muesch wieder mit're rechne/ Sie isch m'r tief in's Herz gewachse/ Die alt elsässisch Sproch.
Zitator:
Wie einen Packen Lumpen haben sie sie auf den Boden geschmissen/ Da haben wir sie gefunden. Zertrampelt und voller Narben. Dann haben wir sie gepflegt, wie gewissenhafte Krankenschwester/ Jetzt macht sie wieder mit/ Jetzt muss man wieder mit ihr rechnen/ Sie ist mir so sehr ans Herz gewachsen, / - diese alte elsässische Sprache.
Sprecherin:
Für ein paar Jahre keimte die Hoffnung, die Mundart könne quasi durch die Hintertür der Literatur gerettet werden. Heute, dreißig Jahre später, sind die düsteren Ahnungen der Dichter um Adrien Finck und André Weckmann Wirklichkeit geworden. Gerademal neun Prozent der Kinder beherrschen heute im Elsass noch die Mundart. Und auch über Deutschkenntnisse verfügt nur noch eine Minderheit. Allen Anstrengungen kultureller Fördereinrichtungen wie dem „Elsässischen Sprachenamt OLCA“ zum Trotz ist die auf den drei Sprachen beruhende Identität der Elsässer ins Mark getroffen. Die „Europäische Charta der Minderheitensprachen“ hat Frankreich bis heute nicht ratifizieren wollen.
Cut 19: [J. Schmittbiel]
Vor vierzig Jahren konnten die Alemannen auf der linken Seite des Rheins noch ihre Sprache sprechen, und so hatten sie auch einen leichteren Kontakt zur rechten Seite. Der Durchschnittselsässer, der heute mit einem Badener kommunizieren will spricht Englisch..
Sprecherin:
Der Straßburger Übersetzer und Autor Joseph Schmittbiel gehört heute zu den entschiedensten Verfechtern einer elsässischen Autonomie. Er unterhält den Blog „Hewwemi.net“, was man mit "haltet mich nicht zurück, meine Meinung zu sagen“ übersetzen könnte. Dort versucht er, seine Landsleute auf Französisch und in der Mundart aufzurütteln, ihnen die tragische Geschichte des Elsass näherzubringen. Mit der 2014 von den Pariser Sozialisten beschlossenen Gebietsreform aber, sagt Schmittbiel, verschwinde das Elsass praktisch von der Landkarte.
Cut 20: [J. Schmittbiel]:
Sie müssen sich vorstellen in Berlin, im Bundestag hat die SPD allein die Mehrheit, und an einem Juliabend des Jahres 2014, in der Nacht entscheiden 50 SPD-Abgeordnete, dass von nun an Bayern, Baden-Württemberg und Hessen nur noch ein Bundesland werden. Genau das ist passiert, das heißt 50 Sozialisten in Frankreich haben entschieden, dass vom 1. Januar 2016 an die Gebietskörperschaften von Lothringen, Champagne-Ardennen und Elsass verschwinden sollen.
Sprecherin:
Die elsässische Regionalpartei „Unser Land“ ist die einzige politische Kraft, die sich noch aktiv für die Mehrsprachigkeit einsetzt. Bei den Regionalwahlen vom 6. Dezember und 13. Dezember 2015 hat sie den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde in der neuen Großregion nicht geschafft, obwohl sie in beiden elsässischen Departements zur drittstärksten Kraft wurde. Manche im Elsass glauben, der Verlust der Sprache sei unvermeidlich. Die Lebensbedingungen haben sich dramatisch verändert. Die Landwirtschaft wurde industrialisiert, Straßburg ist zu einer internationalen Metropole geworden. Da habe die eng mit den traditionellen Lebensbedingungen verbundene Mundart keinen Platz mehr.
Cut 22: [J. Schmittbiel]:
Aber die Luxemburger und die Schweizer, die reden ihren Dialekt und bei ihnen hat sich die Gesellschaft auch modernisiert und industrialisiert und die Landwirtschaft ist zurückgegangen. Aber die Sprache ist immer noch da. Warum? Weil sie die politischen Strukturen haben, um diesen Dialekt zu verteidigen, um es den Kindern beizubringen und ihnen zu zeigen, dass das kein Rückweg in irgendeine Vergangenheit ist, sondern dass es ganz einfach zum Leben gehört.
Sprecherin:
War es die Sprachpolitik der französischen Republik, der die Mehrsprachigkeit seit den Zeiten der Revolution ein Gräuel ist? War es die politische Okkupierung von Heimat und Dialekt erst durch die Nationalsozialisten, heute durch den rechten Populismus im Stil des Front National? Wo immer man die Gründe für das absehbare Aussterben der Mundart sucht - für die Autoren um André Weckmann war das Verlöschen des Elsässischen immer der Verlust des Kostbarsten. Mit aller Kraft kämpften sie dagegen an. Adrien Fincks Gedicht „Damit etwas übrigbleibt“ klingt heute wie der Abgesang auf eine Literatur, die vor mehr als tausend Jahren mit Otfrid von Weißenburg begann.
Cut 23: [J. Schmittbiel]:
I red a Sproch wu ma boll nimma redt/ Un vor eb’s z‘ spot isch sàg i noch wia àlles heisst/ un schrieb’s uf/ àss ebbis üewrigblibt/ in Geischt verwándelt/ in Schrift/ Erinnerung/ i schrib `s uf a Blett/ scho kunnt d’r Wind/ fliag/ Gedichtla fliag
Regie: Ende Musikakzent
* * * * *
Literaturangaben:
André Weckmann:
„märckelse“, in: „Schang d’sunn schint schun lang“; Association Jean-Baptiste Weckerlin, Strasbourg 1975
André Weckmann:
„rhingold“, „, in: „Schang d’sunn schint schun lang“; Association Jean-Baptiste Weckerlin, Strasbourg 1975
André Weckmann:
„Dialekt als Waffe“ in: A. Finck, A. Weckmann, C. Winter: „In dieser Sprache – Neue deutschsprachige Dichtung aus dem Elsass“, Hildesheim 1981)
André Weckmann:
„Das Elsass als Heimat betrachtet“ in: A. Finck, A. Weckmann, C. Winter: „In dieser Sprache – Neue deutschsprachige Dichtung aus dem Elsass“, Hildesheim 1981)
André Weckmann:
„Chinesisch“, „, in: „Schang d’sunn schint schun lang“; Association Jean-Baptiste Weckerlin, Strasbourg 1975
André Weckmann:
„Wie die Würfel fallen“; Morstadt Verlag, Kehl 1985
André Weckmann:
„Speak White“ in: A. Finck, A. Weckmann, C. Winter: „In dieser Sprache – Neue deutschsprachige Dichtung aus dem Elsass“, Hildesheim 1981)
Adrien Finck:
„Àss ebbis üewrigblibt“; in: Adrien Finck: „Nachrichten aus dem Alemannischen.“ Olms, Hildesheim 1979