Hanna Sukare: Staubzunge . Roman

Online-Publikation: Oktober 2016 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
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176 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag ISBN: 978-3-7013-1232-0; €18,00 (E-Book: €14,99)
Otto Müller Verlag, Salzburg; http://www.omvs.at; http://www.omvs.at/de/literatur-und-kritik/Sukare, Hanna

Charakteristika
- Die meisten suchen etwas. Das Ziel ihrer Suche ahnen sie nur.
-Was suche ich? Die Antwort auf eine Sehnsucht – wonach?

Inhalt
Wenn Matthias Röhricht von seinem Job in einem großen Konzern spricht oder zu jeder Dienstreise eine andere Assistentin mitnimmt, vermutet man nichts von seiner streng religiösen Erziehung. Als Erwachsener tut der Sohn eines evangelisch-freikirchlichen Pastors und einer Flüchtlingsfrau aus Polen so, als habe er mit seinen Eltern nichts zu tun. Das Dogma, die Gewalt und das Schweigen, die er als Kind erlebt hat, versucht er zu vergessen. Auch seine Schwester Adele lebte jahrelang distanziert von den Eltern. Sie nähert sich ihrer Mutter Jad erst wieder, als diese ihre Erinnerung verliert und nicht mehr weiß, dass Adele ihre Tochter ist. Der Tod der Mutter wird für die beiden zur Zäsur. Matthias zieht sich aus allen bisherigen Beziehungen zurück. Adele beginnt rastlos Orte aus Jads Vergangenheit zu suchen und verfällt einer Suchsucht nach der eigenen Zugehörigkeit.
Neben einer Erzählerin berichten vier Frauen über Matthias Röhricht und seine Herkunftsfamilie: Röhrichts Frau, seine Schwester, eine Tante und eine Cousine. Sie weiten die Geschichte von Matthias und Adele zu einer Geschichte der Schmerzpunkte des 20. Jahrhunderts. Krieg, Rassismus, Flucht und Vertreibung melden sich in den Nachgeborenen in Form von Unruhe, seelischer Erstarrung oder Phantomschmerz. Die Geschichte mit dichten, poetischen Bildern erzeugt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Autorin

Autorin
Hanna Sukare,  geboren 1957 in Freiburg (i.Br.). Kindheit in der Breisgauer Bucht und in Heidelberg, lebt seit der Jugend meist in Wien. Studierte Germanistik, Rechtswissenschaften, Ethnologie. 1991/92 Forschungsaufenthalt in Lissabon. Hanna Sukare war unter anderem als Journalistin, Redakteurin (Falter, Institut für Kulturstudien) und Wissenschaftslektorin tätig und beschäftigte sich in wissenschaftlichen Studien mit dem gesellschaftlichen Fundus des Fremden.
Seit 2001 ist sie freie Autorin. 2004 Einladung zum Autorinnenforum Berlin/Rheinsberg. 2006 Nominierung ins Finale der Floriana, oberösterreichische Biennale für Literatur. 2007 Publikation im Rahmen des schwäbischen Literaturpreises. 2008 bis 2011 zahlreiche Recherche-Reisen nach Polen, u.a. auch für den Dokumentarfilm Klassentreffen.

Interview
Hanna Sukare im Gespräch im Radio Poland 
"Ein Gespräch über die komplizierte Geschichte des 20. Jahrhunderts, aber auch über die Zukunft Europas!"
mp3 > http://eu.thenews.pl/3/263/Artykul/255800,Literatur-Hanna-Sukare-

Stimme - Jury-Begründung
- Hanna Sukare gewinnt mit ihrem Debütroman Staubzunge den Rauriser Literaturpreis 2016 für die beste Prosa-Erstveröffentlichung in deutscher Sprache!!!
Begründung der Jury (Uwe Schütte, Liliane Studer, Anton Thuswaldner): 
- „Hanna Sukare ist es auf überzeugende Weise gelungen, in einer dichten, stilsicher geformten Sprache einen Roman zu schreiben, der in seiner Schilderung einer Familiengeschichte weit über das eigentliche Thema hinausgreift. In Staubzunge wird zugleich das Portrait eines ganzen Jahrhunderts gezeichnet, das von historischen Verwerfungen und Traumatisierungen gekennzeichnet ist. In sensibler Weise erkundet das aus unterschiedlichen Erzählperspektiven und Sprechweisen komponierte Buch die Vorgeschichte der Elterngeneration, deren Versagen in ihrer Vorbildrolle nicht plakativ angeklagt wird, sondern die Haupterzählerin zu Recherchen veranlasst, in deren Gefolge sie die aus der Tragödie der Geschichte resultierenden Schädigungen zu begreifen lernt. Gerade aber auch durch das Unausgesprochene, das in der Erzählprosa von Sukare stets mitschwingt, gewinnt ihr Buch eine Tiefendimension, die Staubzunge zu einem herausragenden Erzählwerk und einem literarisch außerordentlichen Debüt des Jahres 2015 macht. Das Geschichtsmodell der Hanna Sukare sieht vor, dass niemand verschont bleibt. Jede Zeit schlägt Menschen ihre Wunden, und die erholen sich dann ein Leben lang nicht davon.“

Fazit
Geistig - mit äusserst wachen, poetischen Blick nimmt Hanna Sukare die traumatisierenden Ereignisse des 20. Jahrhundert ins  Visier. Zugleich dringt dieser in die Tiefen der Romanfiguren hinein, wie exemplarisch in der Figur Deli: ' Im Traum sei er über eine weite Schneeebene geflogen...Frauen lenkten das Gespann, sie flohen vor Waffen und Menschen. Er verstehe den Traum nicht.' Sukare suggeriert so, dass es nicht der Verstand ist, der das Trauma zum Schutz des Ichs verdrängt und doch während des poetischen Narrativen zugleich entbirgt. Das ist die besondere dichterische Stärke von Hanna Sukare. m+w.p16-10