SWR2 Wissen: Aula Ralf Caspary mit Karsten Brensing : Faszination Tiere - wie sie fühlen und denken .Über Affen, Meisen und Delfine

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SWR2 Wissen: Aula Ralf Caspary mit Karsten Brensing : Faszination Tiere - wie sie fühlen und denken .Über Affen, Meisen und Delfine
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VORSPANN-AUSZUG:

Zur  DIALEKT KULTUR von Tier - Mensch  und zum  SOZIALEN GEHIRN
Was man mit dem Orca getestet hat, ist die Fähigkeit für vokales Lernen. Und da gibt es tatsächlich gar nicht so viele Tiere, die das können. Man weiß es bei den Orcas schon sehr lange, dass sie dazu fähig sind, weil man vor 20 Jahren bei ihnen so etwas wie einen Dialekt entdeckt hat. Das ist auch eine Form der Kultur. Und dieser Dialekt ist mit großer Wahrscheinlichkeit angelernt. Der Beweis steht zwar noch aus, aber vermutlich ist es eine angelernte Tradition, auf eine bestimmte Art und Weise die Geräusche zu erzeugen.


ZUM SOZIALEN GEHIRN
Caspary:
Jetzt haben wir noch einen Aspekt abzuarbeiten, das ist die Kooperationsfähigkeit von bestimmten Tieren: das Verhalten in der Gruppe, die Zusammenarbeit. Es gibt ja in der Philosophie eine Richtung „philosophy of mind“. Das ist das Konzept eines „social brain“, eines sozial agierenden Gehirns. Das ist doch in der Tierforschung auch so?
Brensing:
Ganz genau. Es ist eine Hypothese, und viele Forscher gehen davon aus, dass die Größe und Komplexität unseres Gehirns nicht durch unsere Umwelt geformt wurde, sondern durch unser immer komplexer werdendes Sozialleben. Dass wir also letztlich unsere Gehirne haben, um unser Sozialleben zu managen, und nicht, um Flugzeuge zu bauen oder so, sondern das ist nur ein Nebenprodukt oder ein Abfallprodukt sozusagen Die Idee, die dahintersteckt, ist, dass man sich Netzwerke von Tieren angeschaut hat. Wenn das Tier in einer Herde lebt, spielt das Individuum keine so große Rolle. Bei einem Fisch-Schwarm ist das beispielsweise so. Niemand würde Fisch Nr. 324 vermissen, wenn der plötzlich fehlt. Anders ist es, wenn das Tier in einem Netzwerk lebt, wo es jedes Individuum kennt. Das hat man bei Delfinen in Australien sehr gut erforscht, die haben Tausende von Bekannten und darunter haben sie Freunde, mit denen sie klarkommen müssen. Sie müssen wissen, auf wen sie sich verlassen können und auf wen nicht. Das müssen sie sich merken und in ihrer Biografie wegspeichern, weil das von großem Vorteil ist, wenn später mal ein Problem auftaucht. Und deswegen gilt die Hypothese, dass die komplexen Gehirne letztlich dazu da sind, um unser Sozialleben zu managen.
Caspary:
Wir sehen das ja an uns Menschen. Ich schätze, dass wir zu 90 Prozent versuchen herauszufinden, wie andere zu uns stehen?
Brensing:
Absolut. Es gibt dazu ein tolles Experiment aus Leipzig von Professor Tomasello, der das Verhalten von Menschen und Schimpansen in der Gruppe untersucht hat. Dabei ist herausgekommen, dass Menschen sich selbst gerne unterordnen. Ein Schimpanse würde das nie machen.
Caspary:
Was heißt das: unterordnen?
Brensing:
Es war ein Experiment mit Kindergartenkindern. Ein Kind kennt einen Trick, wie es ein Bonbon bekommen kann. Was macht das Kind mit dem Wissen? Nimmt es sich einfach das Bonbon und lutscht es vor den anderen und ist damit aus der Gruppe ausgegrenzt, weil es ja das einzige Kind ist mit dem Bonbon. Oder stellt es seinen Wunsch zurück? Ein Schimpanse würde sich sofort das Bonbon nehmen. Wir Menschen nehmen uns zurück und holen das Bonbon erst, wenn wir uns unbeobachtet fühlen.
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Sendung: Sonntag, 4. März 2018, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2018; https://www.swr.de/swr2/programm/
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

AUTOR
Karsten Brensing studierte Biologie und Meeresbiologie und befasste sich besonders mit der Erforschung und dem Schutz von Delfinen. 10 Jahre leitete er das Deutschlandbüro der internationalen Wal- und Delfinschutzorganisation. Heute ist er selbständig, schreibt Bücher und hält Vorträge über Tier- und Naturschutz.
Bücher (Auswahl):
– Das Mysterium der Tiere – Was sie denken, was sie fühlen. Aufbau-Verlag, 2017.
– Persönlichkeitsrecht für Tiere – Die nächste Stufe der Evolution. Herder-Verlag, 2013.
 
ÜBERBLICK
Buckelwale im Nordatlantik haben eine ausgeprägte Liedkultur entwickelt, Krähen verfügen über große Intelligenz in Sachen Physik, Hunde legen Wert auf Ehrlichkeit, Orang-Utans benutzen Sexspielzeug - in den letzten Jahren haben viele Experimente der Verhaltensforschung überraschende Ergebnisse zutage gefördert, die zeigen: Wir dürfen Tiere nicht unterschätzen. Warum, das erzählt der Meeresbiologe und Verhaltensforscher Dr. Karsten Brensing.
Viele überraschende Experimente der Verhaltensforschung zeigen: Wir dürfen Tiere nicht unterschätzen. Der Meeresbiologe und Verhaltensforscher Karsten Brensing erklärt, warum.
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Auch Tiere haben Kultur
Beispiel:
Junge und erwachsene Kohlmeisen
Wenn Meisen kommunizieren, greifen sie auf einen "Satzbau" zurück: Sie reagieren auf Laute ihrer Artgenossen nur dann, wenn sie in der Reihenfolge erklingen, wie die Vögel sie auch selbst nutzen. 
 

Sendung: Sonntag, 4. März 2018, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2018
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Faszination Tiere – wie sie fühlen und denken“. Am Mikrofon: Ralf Caspary.
Buckelwale im Nordatlantik haben eine ausgeprägte Liedkultur entwickelt, Krähen verfügen über große Intelligenz in Sachen Physik, Hunde legen Wert auf Ehrlichkeit, Orang-Utans benutzen Sexspielzeug - in den letzten Jahren haben viele Experimente der Verhaltensforschung überraschende Ergebnisse zutage gefördert, die zeigen: Wir dürfen Tiere nicht unterschätzen, in kogntiver wie auch in emotionaler Hinsicht.
Das beschreibt der Meeresbiologe und Verhaltensforscher Dr. Karsten Brensing in seinem neuen Buch „Das Mysterium der Tiere“, erschienen im Aufbau-Verlag.
Ich habe mit Brensing über die Experimente und die Ergebnisse gesprochen.
INTERVIEW:
Caspary:
Welche Tierart hat Sie in Bezug auf Kompetenzen besonders fasziniert?
Brensing:
Diese Frage ist schwierig zu beantworten, weil es eine Fülle von kognitiven Leistungen bei Tieren gibt. Meisen haben mich beispielsweise total beeindruckt, weil ich denen gar nicht soviel zugetraut habe. Die können z.B. ausgesprochen gut voneinander lernen. Dass Tiere lernen, ist eigentlich nichts Besonderes, das brauchen sie fürs Überleben. Aber Meisen können voneinander lernen. Und diese Fähigkeit braucht man, um beispielsweise eine Kultur zu entwickeln. In einem Experiment mit Meisen haben Forscher den Vögeln beigebracht, einen bestimmten Mechanismus zu öffnen, um an Futter ranzukommen. Dann haben sie diese Meisen freigelassen. Im Freiland hatten die Forscher verschiedene Futterstationen mit dem gleichen Mechanismus aufgebaut. Sie konnten beobachten, wie das Wissen von den Meisen, die den Mechanismus gelernt hatten, auf die ungeübten Tiere übergegangen ist. Anhand einer Netzwerkanalyse konnte ganz hervorragend gezeigt werden, dass sie das voneinander gelernt haben. Und das Besondere ist, dass die Tiere im näheren Netzwerk schneller gelernt haben und die anderen, im etwas weiteren Netzwerk etwas später. Das war ein tolles Experiment.
Caspary:
Das heißt, wir haben es hier mit dem Element einer sozialen Intelligenz zu tun?
Brensing:
Das ist eine Intelligenz, die man im Sozialen braucht, und es ist eine wichtige Form des Aneignens von neuem Verhalten, nämlich das Imitieren, sich von anderen etwas abgucken. Das tun nicht so viele Tiere. Deswegen war ich auch bei den Meisen überrascht. Die haben mich aber auch auf andere Weise überrascht. Ich habe mich viel mit Sprache bei bei Delfinen und Primaten beschäftigt. Und überall hat man zeigen können, dass sie so etwas wie Sätze und Grammatik verstehen und auch nutzen. Aber eben nur im Experiment in Gefangenschaft. Im Freiland konnten die Experimente bisher nie wiederholt werden. Doch bei Meisen konnten japanische Forscher das jetzt nachweisen.
Caspary:
Heißt das, Meisen haben eine bestimmte Grammatik, ein bestimmtes Muster, das immer wiederkehrt?
Brensing:
Meisen haben tatsächlich einen Satzbau. Sie nutzen verschiedene Laute. Man hat ja in letzter Zeit ohnehin mehr und mehr gelernt, dass viele Tiere kontextspezifische Laute haben. Das ist so etwas wie ein Vokabular. Dieses Vokabular kann gelernt, es kann aber auch angeboren sein. Und wenn man dieses Vokabular anwendet, dann würde man ja denken, dass es einem Tier egal ist, in welcher Reihenfolge die Vokabeln benutzt werden. Doch bei Meisen konnte man zeigen, dass sie Signale nur in der Reihenfolge erkennen, wie sie sie auch selbst nutzen, und dann darauf reagieren. Auf eine veränderte Reihenfolge reagieren sie nicht.
Caspary:
Was für ein Experiment in der Verhaltensforschung hat sie wirklich beeindruckt?
Brensing:
Am meisten beeindruckt hat mich wahrscheinlich das Spiegel-Experiment, mit dem gezeigt werden soll, dass Tiere Selbstbewusstsein haben. Auf einen Spiegel können Tiere ganz unterschiedlich reagieren. Die meisten reagieren überhaupt nicht, andere dagegen sehr sozial. Ein Kanarienvogel beispielsweise oder ein Wellensittich, der in seinem Käfig sitzt und mit einem kleine Spiegel dort interagiert und schnäbelt. Dann reagiert er sozial, denn er denkt zumindest, dass das, was er dort sieht, ein Stück weit einem Artgenossen entspricht und verhält sich entsprechend. Ganz ähnlich ist das bei Kampffischen. Wenn man denen einen Spiegel in ihr Territorium reinhält, dann kämpfen sie gegen dieses Spiegelbild bis zur Erschöpfung. Das ist das Sozialverhalten gegenüber einem Spiegel. Eine Steigerung ist, wenn das Konzept des Spiegels verstanden ist und er benutzt wird, um etwas zu sehen. Schweine können das beispielsweise ganz prima. Wenn die in einem Spiegel Nahrung sehen, dann laufen die nicht zum Spiegel und von dort aus zur Nahrung, sondern sie wissen ganz genau, wenn ich das da und da in diesem Winkel sehe, dann muss das Futter ja dort stehen – und gehen ohne Umweg zur Futterstelle. Dann gibt es noch Formen, die man so interpretiert, dass die Tiere ein Selbstbewusstsein haben. Viele Affenarten gucken mit größter Freude ihr Hinterteil an, wenn man ihnen einen Spiegel gibt. Nun könnte man denken, sie könnten sich jederzeit das Hinterteil eines anderen Affen anschauen, warum also gerade ihren eigenen? Und genau das ist der Punkt: Warum ihren eigenen? Warum interessieren sie sich für Bereiche an ihrem Körper, an die sie sonst nicht herankommen. Der Gipfel des Experimentes ist der sogenannte Rougetest: Einem Schimpansen wird ein Fleck auf die Stirn gemalt. Wenn das Tier in den Spiegel schaut und ohne Umschweife sofort den Fleck von seiner Stirn weg reibt, dann geht man davon aus, dass das Tier ein Selbstbewusstsein hat.
Caspary:
Selbstbewusstsein heißt: Wenn ein Schimpanse sich an den Rougefleck auf seiner Stirn fasst, weil er weiß, dass er im Spiegel sich selbst sieht, hat irgendwie eine Art Konzept über sich selbst?
Brensing:
Ganz genau. Das muss er haben, sonst würde man das Verhalten nicht erklären können.
Caspary:
Bei Kleinkindern funktioniert das erst ab einem bestimmten Alter, glaube ich.
Brensing:
Genau. Mit 1 ½ oder 2 Jahren können das die meisten Kinder in unserer westlichen Welt ganz sicher. Kinder, die ohne Spiegel aufwachsen, ein paar Monate später – das ist eine reine Gewöhnungssache.
Caspary:
Sie bearbeiten in Ihrem Buch vier Aspekte: Das Konzept der Kulturen, also warum haben bestimmte Tierarten in verschiedenen Regionen verschiedene Kulturen ausgearbeitet, Sie analysieren nochmal so etwas wie kognitive Kompetenzen,
emotionale Kompetenzen, so etwas wie das Rätsel des Selbstbewusstseins, darüber haben wir gesprochen. Und dann geht es bei Ihnen auch nochmal vertiefend um soziales Verhalten, Verhalten in der Gruppe, Verhalten im Schwarm, um so etwas wie soziale Intelligenz. Ich fange mal bei Kulturen an: Bestimmten Affenarten, die in unterschiedlichen Regionen leben, haben ganz verschiedene Stile der Essenszubereitung entwickelt. Das scheint auch, wie Sie gesagt haben, für Meisen zu gelten?
Brensing.
Ja. Das Thema Kultur ist seit etwa 10 Jahren im Fokus der Forschung. Zuerst hat man sehr viel an möglichem kulturellen Verhalten entdeckt oder wollte es entdecken. Dann ging die wissenschaftliche Diskussion los, man wurde auch immer strenger in den Kriterien und beispielsweise ist bei Schimpansen etwas aufgetreten, was man für eine Kultur gehalten hat, was dann aber wieder revidiert werden musste. Denn Kultur ist alles, was man sich einerseits gegenseitig beibringt, was im sozialen Kontext an Wissen und Verhalten erworben wird, aber es darf eben nicht durch Umweltbedingungen ausgelöst sein. Und da gibt es einen Fall – Sie kennen das vielleicht – ,dass Schimpansen mit Essstäbchen in Ameisenhügel stechen. Manche benutzen lange Stäbchen, andere kurze. Ursprünglich hielt man das für ihre jeweilige Kultur. Bis man festgestellt hat, dass die Stäbchenlänge mit der Aggressivität der Ameisen korreliert. Das war eine einfache, natürliche Erklärung, warum die einen lieber längere Stäbchen genommen haben als die anderen. Und damit war die Kulturhypothese wieder aufgelöst, weil man eine andere Erklärung dafür gefunden hat. Aber es gibt genügend Beispiele bei Schimpansen, wo man davon ausgehen kann, dass es sich um Kultur handelt. Es gibt noch mehr Beispiele. Bei Vögeln kann man davon ausgehen, dass es so etwas wie Kultur gibt, wenn die Tiere voneinander lernen. Es ist im Prinzip eine Vorform der Kultur, wenn eine Tradition entsteht. Das steigert sich immer weiter, wird immer komplexer, bis zu dem, was die Wissenschaft „kumulierte Kultur“ nennt. Dazu gehört z.B. unsere Schrift, durch die wir noch etwas von Menschen lernen können, die vor 2.000 Jahren schon gestorben sind.
Caspary:
Ist das nicht problematisch, in Bezug auf Tiere von Kultur zu sprechen. Wir könnten zu dem Fehlschluss kommen, das auf unsere menschliche Kultur zu beziehen. Wir verstehen ja unter Kultur sprachliche Symbolwelten, überhaupt das Leben in Zeichenwelten, in Abstraktionen. Das sollte man bei Tieren vermeiden, oder?
Brensing:
Nein, ganz und gar nicht. Zum einen passt die Verwendung des Begriffs Kultur sehr gut, weil es etwas ist, was wir sehr hoch schätzen. Wenn man sich die Verwendung von Symbolen ansieht, dann ist das, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht, die sozial erworbene Konvention, Symbole für bestimmte Dinge zu verwenden. Dann passt dieses Verhalten in das Schema: Man hat es von anderen Individuen gelernt, man hat es nicht selbst erfunden, das Lernen oder die Fähigkeit ist nicht durch äußere Umstände zustande gekommen. Das ist meiner Meinung nach der viel bessere Kulturbegriff als der, den wir auch heute noch in vielen Lexika lesen, nämlich dass die Kultur der Natur gegenübersteht.
Caspary:
Bei welcher Tierart hätten Sie nie gedacht, dass die so etwas wie Kultur hat?
Brensing:
Bei Fischen. Es gibt nicht viele Beispiele für Kultur bei Fischen, und das ist dann auch eine sehr einfache Form der Kultur. Aber tatsächlich hat man mal einen Versuch bei Korallenrifffischen gemacht. Die leben sehr territorial. Zur Paarung treffen sie sich nur zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort. In einem Experiment hat man die ganze Population aus einem Korallenriff raus gefangen und die Charakteristika dieses Gebietes genau untersucht, wo die Fische sich gepaart haben. Die Fische wurden in ein anderes Korallenriff gesetzt. Und man nahm an, dass sie sich ein Gebiet heraussuchen, das ihrem früheren Paarungsort physikalisch ähnelt. Und was ist passiert? Das Gebiet wurde wahrscheinlich willkürlich herausgesucht, aber alle Tiere haben sich offensichtlich darauf verständigt, an welchem neuen Ort sie sich von jetzt an treffen würden.
Caspary:
Ich würde auch sagen, wenn wir jetzt zu dem anderen Aspekt kommen: kognitive und emotionale Intelligenz, da gab es ja auch seitens der Verhaltens- und anderer, vielleicht neurowissenschaftlicher Forschung sehr große Fortschritte. Ich erinnere mich z.B. an den Biologen Güntürkün, der Experimente mit Krähen macht. Er hat gezeigt, dass Krähen so etwas wie physikalische Konzepte in ihren „Köpfen“ haben. Die arbeiten damit, wenn sie bestimmte Probleme lösen müssen, also z.B. wenn sie ans Futter kommen wollen. Bei der kognitiven Intelligenz – reden wir da in erster Linie über diese Problemlösungskompetenz?
Brensing:
Es gibt viele kognitive Probleme, die ein Lebewesen lösen muss. Und die Verhaltensbiologie versucht im Prinzip, das Ganze auseinander zu nehmen, also die einzelnen Aspekte einzeln zu testen. Das einfachste Konzept, das fast alle Tiere haben, ist die sogenannte Objektpermanenz. Das ist der erste Schritt zum Denken überhaupt. Objektpermanenz heißt: Ich bilde mir in meinem eigenen Kopf, in meinen Gedanken ein Abbild dessen, was mich gerade beschäftigt. Ich habe also einen Gedanken davon. Und das ist der erste Schritt. Wenn ich beispielsweise ein Raubtier bin und meiner Beute hinterher jage, die plötzlich hinter einen Baum verschwindet, dann ist sie nicht aus meinen Gedanken verschwunden, sondern ich kann sie in meinen Gedanken festhalten und weiß, verdammt, die Beute muss doch hier noch irgendwo sein, auch wenn ich sie jetzt nicht sehe. Also: Objektpermanenz ist der erste Schritt zum Denken.
Caspary:
Auch wiederum bei Kindern ein ganz wichtiger Baustein.
Brensing:
Genau. Im Prinzip machen wir ja nichts anderes in unserer Individualentwicklung, als diese Schritte nachzuvollziehen, so wie wir das im Mutterleib machen und der Evolution folgend auch kurz aussehen wie ein kleiner Frosch. So funktioniert das kognitiv auch. Wir wandern sozusagen den Pfad der Entwicklung ab. Aber um zur Objektpermanenz zurückzukommen: Man nimmt das weiter auseinander und schaut sich an, ob Tiere logisch denken können, ob Tiere nach dem Ausschlussverfahren argumentieren und denken können. Das heißt z.B.: Wenn ich eine Schachtel habe, in der Fressen drin sein könnte, aber ich weiß es nicht, dann rüttele ich an der Schachtel. Logisches Denken bedeutet, wenn ich mir überlege, in der Schachtel bewegt sich etwas, dann muss ja was drin sein. Wenn ich jetzt ein Tier darauf trainiert habe, zwei Schachteln zu kennen und zu wissen, dass immer in einer der
beiden Schachteln etwas drin ist, und ich rüttele mit der leeren Schachtel und das Tier geht dann zu der vollen Schachtel, dann weiß man, dass das Tier logisch denken kann und nach dem Ausschlussprinzip handelt. Und so geht das immer weiter. Es kommt abstraktes Denken hinzu, wenn man also Kategorien hat und von der Kategorie auf etwas anderes zurückschließen kann. Dazu hat man Experimente mit Entenküken gemacht. Das Witzige daran ist, in den Experimenten mussten die Entenküken Muster erkennen, die wir auch in unserem Assessment-Center verwenden, um Menschen zu prüfen, ob sie für den Job geeignet sind. Gerade bei diesem Test fallen unwahrscheinlich viele Leute durch, weil sie nicht darauf trainiert sind. Und diese Entenküken können das nach ein paar Minuten. Das ist unglaublich.
Caspary:
Was für Muster waren das?
Brensing:
Entweder Kreuze, Dreiecke oder Kugelformen. Und je nachdem, wie die miteinander kombiniert worden sind, entsprechen sie einer bestimmten Kategorie oder eben nicht. Das lässt sich schwer beschreiben. Das muss man sehen.
Caspary:
Aber die Entenküken konnten das?
Brensing:
Ja, die konnten das. Und die verlernen das auch wieder. Das ist ein ganz toller Mechanismus in der Natur: Wenn ich etwas nicht mehr brauche, dann verlerne ich es. Wenn ich beispielsweise mit meinen Kindern Memory spiele, die sind jetzt fünf Jahre alt, habe ich gegen sie keine Chance. Die haben so ein gutes fotografisches Gedächtnis. Als Erwachsene haben wir das verlernt. Wir brauchen das nicht mehr, weil wir wahnsinnig gute Fähigkeit haben, Kategorien und Konzepte zu bilden. Damit sind wir viel besser dran als mit einem fotografischen Gedächtnis. Die Gedächtnisleistung, die hier aufgebracht werden muss, ist gigantisch. Also suchen wir, wie in der Elektronik, immer nach Kompressionsverfahren, nach einfachen Denkmodulen, mit denen wir dieselbe Leistung erbringen können. Und Kinder können das eben nicht.
Caspary:
Objektpermanenz und Mustererkennung sind also wichtig. Wie sieht es aus mit so etwas wie Antizipation der Zukunft? Das macht ja das menschliche Gehirn permanent. Ich denke z.B., in 15 Minuten ist unser Gespräch zu Ende, dann gehe ich zurück in mein Büro, dann mache ich folgendes etc.?
Brensing:
Das können auch Tiere. Es ist natürlich schwierig, die Zukunft zu planen, das geht in Richtung strategisches Denken. Aber auch hier gibt es beeindruckende Tests und Beobachtungen: Jagen mit Ködern beispielsweise. Wenn ich einen Köder verwende, dann muss mir klar sein, dass ich mit dem Köder irgendetwas erreiche. Ich muss also die Zukunft antizipieren. Ich muss in irgendeiner Form in die Zukunft planen, ich habe eine Strategie. Dazu gibt es unzählige Experimente, mit Delfinen beispielsweise. In einem etwas älteren Experiment hat man einen Mechanismus aus Plexiglas, in dem ein Fisch drin war. Wenn man ein paar Gewichte auf den Mechanismus draufgelegt hat, dann ist er nach unten gedrückt worden und der Fisch fiel raus. Das haben Taucher den Delfinen vorgemacht und haben ein Gewicht nach dem anderen drauf
getan. Die Delfine haben sich das abgeguckt und das imitiert. Etwas zu imitieren, ist eine kognitiv hohe Leistung. Und dann hat man das Experiment verändert und Gewichte in einer Entfernung von 50 Metern ins Wasser gelassen. Und dann war die große Frage: Schwimmt dieser Delfin erst hin und her, um jedes Gewicht einzeln zu holen, oder schnappt er sich alle auf einmal und spart sich dadurch Wege? Und tatsächlich haben sie genau das gemacht. So wusste man, die haben das Konzept verstanden, sie können in die Zukunft planen, sie wissen, wenn ich nur ein Gewicht mitnehme, muss ich noch mehrmals hin- und herschwimmen. Also nehme ich doch gleich alle auf einmal mit. Es gibt unzählige Experimente, die das auf ähnliche Weise testen.
Caspary:
Sie interessieren sich besonders für Sprache bei Tieren. Kürzlich haben wir in unserer Sendung SWR2 Impuls über den „sprechenden“ Orca berichtet, Sie haben wahrscheinlich davon gehört. Was zeigen solche Experimente?
Brensing:
Das ist Tier Nummer vier, von dem wir das wissen.
Caspary:
Tier Nummer vier, das die menschliche Sprache imitiert?
Brensing:
Ja, ganz genau. Letztlich ist es ganz egal, ob sie ein menschliches Wort nachahmen. Die zugrunde liegende Fähigkeit ist entscheidend. Und die nennt man vokales Lernen. D.h. ich bin dazu in der Lage, mir etwas, das ich gehört habe, zu merken und wiederzugeben. Ohne diese Fähigkeit ist keine Sprache denkbar. Eine Kuh beispielsweise wird nicht sehr viel mehr machen als „Muh“. Die lernt nicht plötzlich, „i-a“ zu machen. Und ein Hund kann auch nicht „miau“ machen. Diese Tiere sind nicht zum vokalen Lernen fähig. Die können auch niemals eine Sprache entwickeln, es sei denn, sie erwerben im Laufe der Zeit noch diese Fähigkeit.

Was man mit dem Orca getestet hat, ist die Fähigkeit für vokales Lernen. Und da gibt es tatsächlich gar nicht so viele Tiere, die das können. Man weiß es bei den Orcas schon sehr lange, dass sie dazu fähig sind, weil man vor 20 Jahren bei ihnen so etwas wie einen Dialekt entdeckt hat. Das ist auch eine Form der Kultur. Und dieser Dialekt ist mit großer Wahrscheinlichkeit angelernt. Der Beweis steht zwar noch aus, aber vermutlich ist es eine angelernte Tradition, auf eine bestimmte Art und Weise die Geräusche zu erzeugen.

Caspary:
Dieses Thema beschäftigt die Forschung schon seit Jahrzehnten. Immer wieder wurden Versuche gemacht nachzuweisen, dass bestimmte Tierarten so etwas wie Sprache beherrschen könnten, mit Symbolen umgehen könnten. Gibt es dazu neue Ergebnisse?
Brensing:
Das Neue ist, dass man versucht, die Erkenntnisse, die man im Experiment gewonnen hat, z.B. dass Delfine eine Grammatik verstehen, ein großes Vokabular haben können, im Freiland zu wiederholen. Der nächste Schritt ist zu testen, ob man mit Tieren im Freiland auch so etwas wie eine Kommunikation herstellen kann. Dazu findet ein Projekt zu Delfinen auf den Bahamas statt, und ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommt. Eine Forscherin, die die Delfine dort schon über Jahrzehnte
kennt, so dass die Tiere auch keine Scheu mehr vor ihr haben, hat eine Art Pfeif-Automaten gebaut, der so ähnlich arbeitet wie unsere Spracherkennungsprogramme. Er entschlüsselt sozusagen die Delfin-Pfiffe, über die sie sich ja größtenteils unterhalten, und gibt das Ergebnis als Feedback zurück. Und die Forscherin kann wiederum über bestimmte Tastenkombinationen zurückpfeifen. Sie versucht, dieses Wissen, das wir aus Tieren in Gefangenschaft gewonnen haben, ins Freiland zu übertragen.
Caspary:
Wäre das prinzipiell der nächste Schritt in der Forschung, dass sie wieder ins Freiland geht?
Brensing:
Bestimmte Erkenntnisse sind eigentlich dann akzeptiert, wenn sie im Freiland gewonnen werden können. Wenn ich etwas in Gefangenschaft nachweise, beispielsweise die Grammatik bei Schimpansen oder Delfinen, gilt das noch nicht als Beweis. Ein anderes Beispiel: Ich habe viel im Naturschutz gearbeitet, und eine Sache, die europaweit von Bedeutung war, waren Versuche von einem sehr guten Freund von mir, der Beschallungsversuche gemacht hat. Er wollte herausfinden, ab wann ein Geräusch zu laut ist und für Tiere gefährlich sein kann, wann sie einen Gehörschaden bekommen. Diese Experimente hat man zwar verwendet, aber es wurde immer wieder kritisiert, dass man ja nicht sicher sein konnte, dass das Tier schon vorher einen Gehörschaden gehabt hat. Also verlegt man den Versuch ins Freiland, weil das dann doch der endgültig schlüssige Beweis ist.

Caspary:
Jetzt haben wir noch einen Aspekt abzuarbeiten, das ist die Kooperationsfähigkeit von bestimmten Tieren: das Verhalten in der Gruppe, die Zusammenarbeit. Es gibt ja in der Philosophie eine Richtung „philosophy of mind“. Das ist das Konzept eines „social brain“, eines sozial agierenden Gehirns. Das ist doch in der Tierforschung auch so?
Brensing:
Ganz genau. Es ist eine Hypothese, und viele Forscher gehen davon aus, dass die Größe und Komplexität unseres Gehirns nicht durch unsere Umwelt geformt wurde, sondern durch unser immer komplexer werdendes Sozialleben. Dass wir also letztlich unsere Gehirne haben, um unser Sozialleben zu managen, und nicht, um Flugzeuge zu bauen oder so, sondern das ist nur ein Nebenprodukt oder ein Abfallprodukt sozusagen Die Idee, die dahintersteckt, ist, dass man sich Netzwerke von Tieren angeschaut hat. Wenn das Tier in einer Herde lebt, spielt das Individuum keine so große Rolle. Bei einem Fisch-Schwarm ist das beispielsweise so. Niemand würde Fisch Nr. 324 vermissen, wenn der plötzlich fehlt. Anders ist es, wenn das Tier in einem Netzwerk lebt, wo es jedes Individuum kennt. Das hat man bei Delfinen in Australien sehr gut erforscht, die haben Tausende von Bekannten und darunter haben sie Freunde, mit denen sie klarkommen müssen. Sie müssen wissen, auf wen sie sich verlassen können und auf wen nicht. Das müssen sie sich merken und in ihrer Biografie wegspeichern, weil das von großem Vorteil ist, wenn später mal ein Problem auftaucht. Und deswegen gilt die Hypothese, dass die komplexen Gehirne letztlich dazu da sind, um unser Sozialleben zu managen.
Caspary:
Wir sehen das ja an uns Menschen. Ich schätze, dass wir zu 90 Prozent versuchen herauszufinden, wie andere zu uns stehen?
Brensing:
Absolut. Es gibt dazu ein tolles Experiment aus Leipzig von Professor Tomasello, der das Verhalten von Menschen und Schimpansen in der Gruppe untersucht hat. Dabei ist herausgekommen, dass Menschen sich selbst gerne unterordnen. Ein Schimpanse würde das nie machen.
Caspary:
Was heißt das: unterordnen?
Brensing:
Es war ein Experiment mit Kindergartenkindern. Ein Kind kennt einen Trick, wie es ein Bonbon bekommen kann. Was macht das Kind mit dem Wissen? Nimmt es sich einfach das Bonbon und lutscht es vor den anderen und ist damit aus der Gruppe ausgegrenzt, weil es ja das einzige Kind ist mit dem Bonbon. Oder stellt es seinen Wunsch zurück? Ein Schimpanse würde sich sofort das Bonbon nehmen. Wir Menschen nehmen uns zurück und holen das Bonbon erst, wenn wir uns unbeobachtet fühlen.

Kognitiv ist das gar keine so komplexe Leistung, sondern diese Fähigkeit ist vielleicht sogar durch eine Laune der Natur entstanden. Aber sie hat uns tatsächlich zu so einer erfolgreichen Art gemacht hat. Denn die Fähigkeit, sich der Gruppe unterzuordnen, macht uns zu einem sehr kooperationsfreudigen Wesen. Auch bei Tieren gibt es bestimmte Formen der Kooperation, aber nicht in der Intensität wie bei uns Menschen. Deswegen versuche ich immer wieder, den Leuten zu erklären, dass wir uns auf der individuellen Ebene, wie wir denken und fühlen, gar nicht so sehr vom Tier unterscheiden. Der große Unterschied zwischen uns und Tieren ist schlichtweg die Tatsache, dass wir aufgrund unserer Kooperationsbereitschaft und der Fähigkeit, uns der Gruppe unterzuordnen, eben Straßen oder Flugzeuge bauen können.
Caspary:
Aus diesen ganzen Forschungen resultiert doch eine ganz neue Sicht auf das Tier, oder?
Brensing:
Auf jeden Fall. In der Vergangenheit war unser Bild vom Tier doch sehr mechanistisch. Entstanden ist es durch eine Strömung in der Verhaltensbiologie, dem sogenannten Behaviorismus, der nur das Verhalten eines Tieres von außen betrachten konnte. Heute können wir ja „in“ das Denken „reingucken“, und wir haben sehr kluge Experimente, die viel mehr Rückschlüsse auf das, was in den Köpfen der Tiere vorgeht, zulassen. Das Wissen über das Tier, das wir auf Grundlage der neuen Methodik entwickelt haben, hat es aber leider noch nicht in die Gesellschaft und in unsere Gesetzgebung geschafft. Das beruht immer noch auf diesem überalterten behavioristischen Weltbild und muss nachgebessert werden. Wenn wir heute fair und moralisch integer mit Tieren umgehen wollen, dann müssen wir dieses neue Wissen integrieren.
Caspary:
Das wird wirklich spannend, wie wir in Zukunft auf die Ergebnisse der Verhaltensforschung reagieren und welche ethischen Konsequenzen wir daraus ziehen.
Brensing:
Darauf bin ich auch sehr gespannt.
Caspary:
Vielen Dank für das Gespräch. Karsten Brensing war das, wir sprachen über sein neues Buch „Mysterium der Tiere“, erschienen im Aufbau-Verlag.
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