SWR2 Wissen: Aula - Jürgen Wertheimer: Kassandra und die Ignoranten . Der Umgang mit Krisen in postfaktischen Zeiten
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Krisen - Kassandra - Whistleblower
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SWR2 Wissen: Aula - Jürgen Wertheimer: Kassandra und die Ignoranten . Der Umgang mit Krisen in postfaktischen Zeiten
Sendung: Sonntag, 6. August 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
https://www.swr.de/swr2/programm
Online-Teaser*:
Oft wehren wir Symptome drohender Krisen bereits im Vorfeld ab. Grund genug, um über diesen fatalen Mechanismus nachzudenken. Jürgen Wertheimer über die Prophetin Kassandra.
*) Ein Teaser / Aufmerker
(von englisch tease „reizen, necken“) oder Anriss(text) ist in der Werbe- und Journalismussprache ein kurzes Text- oder Bildelement, das zum Weiterlesen, -hören, -sehen, -klicken verleiten soll. Es steht häufig auf der Frontseite oder der ersten Seite eines Mediums und weist dort auf den eigentlichen Beitrag hin)
Charakteristika
Kassandra - Aufklärer, Außenseiter „Whistleblower“ Verräter, Nestbeschmutzer und Verbrecher...
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
AUTOR
Prof. Dr. Jürgen Wertheimer studierte Germanistik Komparatistik, Anglistik und Kunstgeschichte an den Universitäten München, Siena und Rom, promovierte (summa cum laude) und habilitierte sich an der LMU München, wo er auch zum Privatdozenten ernannt wurde. Er folgte einem Ruf an die Universität Bamberg und 1991 an die Universität Tübingen. Dort hat er den Lehrstuhl für Internationale Literaturen/Neuere deutsche Literatur inne.
Bücher (Auswahl):
- Vertrauen. Ein riskantes Gefühl (zusammen mit Niels Birbaumer). Ecowin. 2016
- Don Quijotes Erben. Die Kunst des europäischen Romans: Stationen des europäischen Romans. Konkursbuchverlag. 2013.
- Die Venus aus dem Eis: Wie vor 4.000 Jahren unsere Kultur entstand (zusammen mit Nicholas Conard). Btb-Verlag. 2013.
ÜBERBLICK
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Kassandra, Tochter des trojanischen Königs, besaß die prophetische Gabe, zukünftiges Unheil vorauszusehen - allerdings verbunden mit dem Fluch, niemals Gehör zu finden. Diese mythische Figur wurde im Verlauf der Jahrhunderte nicht zufällig wieder und wieder aktualisiert und interpretiert. Sie steht für unseren Umgang mit der Wahrheit, die wir zugleich suchen und umgehen. So wehren wir auch Symptome drohender Krisen bereits im Vorfeld ab. Grund genug, um über diesen fatalen Mechanismus nachzudenken. Jürgen Wertheimer, Professor für Internationale Literatur an der Universität Tübingen, über die literaturgeschichtliche Bedeutung der Prophetin Kassandra.
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Kassandra und die Ignoranten – Der Umgang mit Krisen in postfaktischen Zeiten“.
Kassandra, Tochter des trojanischen Königs, besaß die prophetische Gabe, zukünftiges Unheil vorauszusehen – allerdings verbunden mit dem Fluch, niemals Gehör zu finden. Diese mythische Figur wurde im Verlauf der Jahrhunderte nicht zufällig wieder und wieder aktualisiert und interpretiert. Sie steht für unseren Umgang mit der Wahrheit, die wir zugleich suchen und umgehen. So wehren wir auch Symptome drohender Krisen bereits im Vorfeld ab. Grund genug, um über diesen fatalen Mechanismus nachzudenken.
Jürgen Wertheimer, Professor für Internationale Literatur an der Universität Tübingen, über die literaturgeschichtliche Bedeutung der Prophetin Kassandra.
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Jürgen Wertheimer:
Das Schlimmste, was einem vorausschauenden Menschen geschehen kann, ist dass seine begründeten Warnungen als „Kassandrarufe" eingestuft und damit meist abgetan oder zumindest belächelt werden. Das dunkle Erbe der Seherin, deren Begabung in die Zukunft blicken zu können zum Fluch wird, spukt noch immer durch unser kollektives Halbbewusstsein und wird als bewährte Abwehrstrategie gegen unerwünschte Warner und Warnungen eingesetzt. Ohnmächtig muss die Geschlagene zusehen, wie sich das von ihr vorhergesehene und vorausgesagte Schicksal erfüllt. In seiner Ballade „Kassandra“ lässt Friedrich Schiller die Unglückliche verzweifeln und gegen ihre fatale Berufung aufbegehren:
"Warum gabst du mir zu sehen,
Was ich doch nicht wenden kann?/…/
Nur der Irrtum ist das Leben,
Und das Wissen ist der Tod.“
Apollos Fluch als Ursache dieses seherischen Debakels ist natürlich nur die mythologische Einkleidung für eine Eigenart unseres Verhaltens, die offenbar bereits in der griechischen Antike augenscheinlich war: unserer enormen Fähigkeit zur Unbelehrbarkeit bei allen entscheidenden Fragen.
Zugegeben, eine sehr generelle und nicht gerade aufbauende These. Doch vielleicht ist es gerade deshalb sinnvoll, sich mit dem Phänomen unserer offensichtlichen Unfähig- und Unwilligkeit, begründete Warnungen ernst zu nehmen, auseinanderzusetzen: Denn die Frage nach der prinzipiellen Unbelehrbarkeit unserer Spezies rührt an den Nerv unseres Selbstverständnisses. Und es ist sicher kein Zufall, dass die unglückliche Seherin bereits in der Ilias eine Zentralfigur ist. Die Königstochter Kassandra warnte ihre Landsleute eindringlich vor den Griechen – die Trojaner schenkten ihr keinen Glauben und zogen das todbringende Pferd in die Stadt. Die europäische Kultur und nicht nur sie scheint dieser ehrwürdigen Tradition bis in die Gegenwart treu geblieben zu sein.
Bisweilen spricht man schon vom „Kassandra-Syndrom“ und einem damit verbundenen „Alarmismus“. Tenor: das schwere Erbe düsterer Prophezeiungen führe uns zu notorischer Schwarzseherei, ja zur Lust an Katastrophenszenarien. Man täte gut daran wegzuhören, wenn sie ihre düster menetekelnde Stimme erhebt – und folgerichtig hört man in der Tat weg. Man hat, wie die Frauenzeitschrift „Elle“ so schön sagt, einfach keine Lust darauf, Kassandras „schweres Erbe anzutreten“. Und so verhallen selbst greifbare, ja sogar messbare Phänomene wie der sogenannte Klimawandel dennoch ohne gravierende Gegenmaßnamen. Manche verschließen sich den Fakten auch aus Prinzip.
Bereits Jean-Jacques Rousseau und Voltaire warnten Jahre vor dem verheerenden Erdbeben von Lissabon Mitte des 18. Jahrhunderts davor, die tektonisch gefährdeten Zonen immer intensiver zu bebauen – ohne jeden Erfolg. Serien von Eisbergwarnungen konnten die Titanic nicht von ihrer Fahrt in den Untergang abhalten. Sie hielt Kurs ins Verderben. Israelische Geheimdienste warnten jahrelang vor dem Entstehen eines „Islamischen Staats“. Nichts geschah von Seiten der Politik. Bei nahezu jedem Terroranschlag heißt es im Nachhinein, man hätte den späteren
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Täter lange schon im Visier gehabt – nichts geschah jedoch, um ihn vor der Tat zu neutralisieren.
Das Phänomen der Unbelehrbarkeit ist umso gravierender und paradoxer, als der Abwehr unerwünschter Vorhersagen seit der Antike ein boomender Markt von Orakeln, Propheten und Horoskopen gegenübersteht. Das Delphische Orakel erreichte geradezu staatserhaltende Dignität. Druiden und professionelle Seher wurden zu Kultfiguren. Ganz offensichtlich sind wir zukunftssüchtig und -scheu zugleich. Es ist sicher kein Zufall, dass mit Kassandra und Pythia gleich zwei Profis des vorausschauenden Gewerbes bereits am Anfang unserer kulturellen Entwicklung stehen. Denn wir suchen nicht nur Rat, wir sind förmlich süchtig danach. Wir sind sogar bereit dafür zu zahlen.
Wie wir mit den erworbenen oder aufoktroyierten Ratschlägen dann umgehen, ist eine andere, weit schwierigere Frage. Die Spannweite der Möglichkeiten reicht vom Ignorieren bis zum sklavischen Befolgen, von vehementem Zurückweisen bis zu blindem darauf bauen. Es ist sogar zu beobachten, dass oft dieselben Menschen, die angebrachte, faktengestützte Warnungen von sich weisen, gleichzeitig abstrusesten Hirngespinsten und wirren Verschwörungsphantasien absoluten Glauben schenken. Mir persönlich unvergesslich ist der Fall eines auf Pferdewetten spezialisierten, hochkompetenten Spielers, der sich dem Tipp eines fragwürdigen „Insiders“ anschloss, obwohl das Tier an diesem Tag – selbst für den Laien erkennbar – lahmte. Ein dreistelliger Verlust war die unmittelbare Folge.
Dass sich ein klug reflektierter Lernprozess, ein durchdachter Verhaltensplan an den Beratungsvorgang anschlösse, ist eher die Ausnahme. Stattdessen bevorzugen wir es, uns mit ganzen Serien banaler Halbwahrheiten zu umgeben: Wir sind geradezu darauf abonniert, als Kunden in den Supermärkten der Illusionen herumzuirren, uns dort auf Lebenszeit wohnlich einzurichten:
Kaum mehr eine Institution ohne externen Consulting-Appendix – vorzugsweise bedient man sich dabei solcher Agenturen, die dem jeweiligen Metier fremd bis feindlich gegenüberstehen. Und was den sogenannten „Schatz der Erfahrung“ betrifft, den findet man allenfalls auf der Mülldeponie der Besserwisserei. Verschleudert nach dem Motto: Jeder hat das Recht auf seine eigenen Irrtümer.
Nein, es steht nicht sonderlich gut um unsere Fähigkeit, Eindrücke und Informationen unbeeinflusst zu sammeln, Wahrnehmungen klug zu verarbeiten, um dann daraus die optimalen Schlüsse für unser Verhalten zu ziehen. Tendenz sinkend. Sucht man nach Gründen für die renitente Versteifung auf unser jeweiliges Fehlurteil, wird man rasch fündig. Allerdings liegen die Ursachen weniger bei den Göttern, die die historische Kassandra durch den Fluch bestraften. In der Mehrzahl der Fälle sind wir unser eigener Fluch.
Aus der Antike ist die Schilderung einer Schlacht überliefert, die für einen der Feldherren einen fatalen Ausgang nahm, weil man wusste, dass er jeden köpfen ließ, der ihm beunruhigende Nachrichten über die Truppenstärke oder die Erfolge des Gegners überbrachte. In der Addition der so verursachten Falschmeldungen kam es zu einer überwältigenden Fehleinschätzung der Situation und zu einer vernichtenden Niederlage, die in Anbetracht der wahren Zahlenverhältnisse extrem unwahrscheinlich war. Ängstlichkeit, Unsicherheit, Korpsgeist, Opportunismus,
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Gruppenzwang in Verbindung mit rigidem Hierarchiedenken – Einzelfaktoren, die zusammengenommen aber Katastrophen generieren können.
Es ist wahr: guter Rat ist teuer – schlechter jedoch häufig auch. Immer schon war das Voraussagewesen ein gut bezahltes Metier. Die Kunden der delphischen oder anderer Orakel gaben gutes Gold für fragwürdige Hinweise. In jüngster Zeit hat sich die Schere diesbezüglich noch etwas weiter geöffnet. Fragwürdigste Expertise wird hoch bezahlt. Privat und – dies scheint überaus suspekt – kostenfrei gegebene Ratschläge werden allenfalls billigend zur Kenntnis genommen oder als bedrängend empfunden. Man könnte versucht sein, eine Gleichung aufzustellen und Investment und Glaubwürdigkeit in ein unmittelbares Verhältnis zueinander zu setzen – was Einiges für sich hätte. De facto freilich ist das Prinzip, die Glaubwürdigkeit an der Höhe des dafür eingesetzten finanziellen Aufwands festzumachen der sicherste Weg in den Abgrund. Derzeit ist eine ganze Kultur im Begriff, Lemmingen gleich genau diesen Weg zu gehen. Und sich dabei überaus wohl und hochprofessionell zu fühlen.
Und selbst wenn es mit den Voraussagen nicht so recht klappen sollte – kein Problem: Denn die Rolle dessen, der sich überrascht gibt, ist bei näherer Betrachtung eine Traumrolle. Sie befreit von Verantwortung und entbindet von der sonst unausweichlichen Notwendigkeit, selber aktiv zu werden, eingreifen zu müssen. Der Überraschte ist letztlich immer im Recht. Wir ersticken zwar in Infos, Fakten und Daten. Wissen seit Jahrzehnten alles über die Not in Afrika, bekommen die Prognosen über mögliche Flüchtlingszahlen und drohende Hungerkatastrophen regelmäßig frei Haus geliefert – und vermögen es dennoch, uns immer wieder aufs Neue als von den jeweiligen Entwicklungen „Überraschte“ zu geben. Doch jeder bösen Überraschung geht ein beachtlicher Vorlauf voraus, eine Phase wahrnehmungs-psychologischer Abschottungspolitik. Kollektiv wie individuell. In Max Frischs Stück „Biedermann und Brandstifter“ kann man die Stadien dieser Selbstblockade minutiös verfolgen und die Faktoren heraus destillieren, die uns daran hindern, präventiv zu agieren. Hochmut, Trägheit und Eitelkeit spielen dabei auf frappierende Art zusammen: Schließlich wollen wir uns doch nicht so verhalten wie alle anderen:
„Wenn man jedermann für einen Brandstifter hält, wo führt das hin? Man muss auch ein bisschen Vertrauen haben. Ein bisschen Vertrauen.“
Umgekehrt versteht es die andere Seite sehr gut, mit einer unserer eigentümlichsten Verhaltensweisen, der Lust, Fakten zu ignorieren, ihr Spiel zu treiben, denn, so die Formulierung eines der späteren Brandstifter:
„Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste ist Sentimentalität. Aber die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand.“
Wissenschaftliche Studien belegen es: Wenn wir entschlossen sind, Fehler begehen zu wollen und das Risiko zu steigern, kann man uns nur sehr schwer davon abzubringen. Abschreckungsversuche und Schocktherapien sind im Gegenteil allenfalls weitere Motivation. Potentiell möglicherweise vorhandene Bedenken als Faktoren der Warnung anzuerkennen, ist schlicht „uncool“. Sehr viel attraktiver scheint es demgegenüber, die latent durchaus vorhandenen Ängste durch noch so fragwürdige Mutproben zu überwinden: Tiefschneefahrt bei Lawinenwarnstufe
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„violett“, Zigarettengenuss trotz Horrorbildern auf der Rückseite der Packung. Selbst Teufels- und Todesdrohung schrecken uns nicht, wenn es darum geht, in unser Schicksal zu rennen, - das ja dann tatsächlich zu u n s e r e m Schicksal wird. Allenfalls der Ekel, nicht die Warnung vor etwas vermag uns bisweilen zu bändigen. Der Körper, nicht der Kopf zieht die Notbremse und rettet – manchmal – unser Leben.
Und wenn nicht Ekel, dann Zwang. Kassandra agierte gleichsam als Privatperson im familiären Umfeld. Ihr Rat war unerwünscht und er wurde nicht ernst genommen oder abgewehrt, vielleicht gerade weil die Personen, an die er gerichtet war, genau wussten, dass die Ratgeberin sie gut, sehr gut kannte.
Wie geht die Literatur damit um und auf welche Weise gelingt es ihr, sich über Jahrtausende hinweg ins kollektive Gedächtnis zu graben? Nun, zum Beispiel so: Sie erfindet die einzige Seherin, der keiner glaubt (sowie sie – Jahrhunderte später – den einzigen Ritter ohne heroische Qualitäten erfinden wird, Don Quichote).
In dieser Verdoppelung der Absurdität wird das Verfahren als Ganzes, also in seiner ganzen Schizophrenie erkennbar. Wir sind zukunftssüchtig, erforschen auf der Basis immer elaborierter werdender Methoden kommende Entwicklungen, erheben immer umfassendere Datensätze auf allen Sektoren. Wir werten aus, prognostizieren, spekulieren ohne Ende.
Vieles entzieht sich unserem Blick, anderes tritt bereits im Vorfeld klar heraus, ist unübersehbar. Doch dann, wenn die Datensätze schließlich vor uns liegen, wenn eine wie Kassandra explizit warnt, vor der List der Griechen, vor Helena, vor dem hölzernen Pferd, dann blättern wir um oder hören weg.
Am drastischsten wird die tragische Situation der Seherin, der keiner Glauben schenkt, in der Orestie des Aischylos dargestellt. Kassandra „sieht“, „riecht“ das Mordkomplott, das sich im Haus des zurückgekehrten Agamemnon in wenigen Stunden abspielen wird – um sie herum das Volk, der Chor: ratlos. Ungläubig. Verstört. Verstört nicht zuletzt durch die Wucht, das poetische Pathos ihrer „seherischen Rede“, die hoch erregt, in nahezu unkontrollierten Stößen aus ihr herausbricht und sie gleichzeitig befeuert und quält. Um es klar zu sagen: in allen ihren Vorahnungen, in ihrem Vorwissen liegt Kassandra hier wie zuvor in Troja zu hundert Prozent richtig. Und dennoch zögert die Öffentlichkeit, zögert etwas in uns, die Botschaft wahrhaben zu wollen. Die Argumente scheinen auch uns Heutigen nicht ganz unvertraut. Eines davon hat schlicht mit Angst zu tun, Angst mit Unangenehmen konfrontiert zu werden, panischer Angst:
„Weh! Welchen Dämon rufst du auf, in diesem Haus
......Fröhlich macht dein Wort mich nicht!
Nein, in das Herz zurück stürzt mir in dumpfer Angst
Das Blut totenbleich, wie der Verwundeten
Brechendes Auge der Tod tief in Nacht hüllt“
Ein weiteres Abwehrargument verweist auf schlechte Erfahrungen und ein allgemeines Unbehagen, verbunden mit der vermutlich vorgeschobenen Behauptung der eigenen Inkompetenz im Umgang mit der Deutung von unbekannten Vorzeichen:
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„Nicht großer Kunde rühm ich mich im Deuten von
Orakelsprüchen; ...
Wo ist ein freundlich Wort von den Orakeln je
Den Sterblichen gesandt?“
Und schließlich fehlt in der Reihe der Gründe für die abweisende Haltung der – bereits zum Greifen nahen – Prophezeiungen auch nicht der Hinweis auf eventuelle Defekte der Seherin:
„Dich hat ein Gott verwirrt,
Dir das Gemüt verstört, ...
Sag, welcher schwererzürnte Gott
Erfasst überstark dich, ....
Dass Wehklage du, Jammer des Todes du singst?“
Abwehr und Abkehr, obwohl bereits die Schreie und der Blutgeruch aus dem Palast dringen. Aischylos hat wahrhaft gut beobachtet, wie weit unsere Fähigkeit zur Ausblendung unerwünschter Wirklichkeit reicht.
Welche Faktoren müssen zusammenkommen, dass ein derartiger Verlust an Wirklichkeitsbindung eintreten kann und man die Warnerin und Aufklärerin in die Nähe von Paranoia und Krankheit rückt?
Und zudem einen verhängnisvollen Zirkel in Gang setzt: denn je mehr die Seherin sich abgewiesen sieht, umso stärker wird ihr Bedürfnis, sich mitzuteilen, umso verzweifelter und exaltierter erscheinen ihre Versuche, durchdringen zu wollen – was wiederum zur Folge hat, dass sie unwillentlich den Grad der Isolation um sich her nur noch weiter vergrößert. Auf der Bühne wird dies geradezu körperlich greifbar, wenn das Kollektiv von ihr auch räumlich abrückt und sie im Abseits stehen lässt. Vielleicht auch, weil man sie bereits allzu automatisch mit der Rolle der notorisch unerwünschten Ratgeberin identifizierte.
In besonderem Maße resistent gegen klugen Ratschlag sind wir immer dann, wenn wir davon überzeugt sind, nicht nur im Recht zu sein, sondern im Auftrag einer wie auch immer gearteten höheren Instanz zu handeln. Klassisches Beispiel: Schillers berühmte Ballade von der „Bürgschaft“. Obwohl sich warnende Stimmen erheben, die dem zurückkehrenden Delinquenten dringlich davon abraten, den Freund, der für ihn bürgte, auszulösen, setzt er seinen Weg in den fast sicheren Tod unbeirrt fort. Argumente wie: er käme bereits zu spät, die Geisel sei ohnehin bereits exekutiert, er könne durch seine Rückkehr nichts mehr retten, gleiten an ihm ab. Dem Protagonisten ist es nicht um pragmatisches Verhalten zu tun, sondern einzig und allein darum, seine Weltanschauung, sein Weltbild zu bestätigen und durchzusetzen: Am Ende zeigt sich bekanntlich der grausame Tyrann unerwartet gnädig und gerührt. Doch auch ohne dieses wenig realitätsnahe Happyend wäre der Protagonist entschlossen in sein Verhängnis gegangen. Man sollte die Resistenz, ja Renitenz hinter unserer Unberatbarkeit auch und gerade in gefährlichen Extremsituationen nicht unterschätzen.
Tempi passati? Mitnichten. Unsere eingebauten Abwehrmechanismen bestehend aus einer diffusen Mischung von Sachzwängen, Mainstream-Diktat und Ängstlichkeit hindern uns noch immer nachhaltig daran, so klug zu werden, wie wir es sein könnten. Deshalb können auch heute noch gerade hochprofessionelle Akteure in den
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Medien, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Politik sehr viele bedrohliche Phänomene unverhältnismäßig lange ausblenden und unthematisiert belassen – solange sie keinen Neuigkeitswert haben, keine theoretische Herausforderung darstellen oder keine bindenden politischen Entscheidungen erfordern. Insgesamt haben Politiker metierbedingt ohnehin die Neigung, Probleme erst dann und nur dann wahrzunehmen, wenn sie bereits eine vermutlich akzeptable, d.h. mehrheitsfähige Lösung parat zu haben behaupten. In dieser Phase suchen Lösungen nach dazu passenden Problemen, – einer kafkaesken Logik gehorchend, wonach die Strafe nach einer geeigneten Schuld sucht. Derart geschlossene Systeme negieren Überraschungen, werden aus Prinzip betriebsblind für Unerwünschtes.
Christa Wolf fasst in Ihrer faszinierenden Erzählung Kassandra die Stadien dieses strategischen „Erblindungsprozesses“ anschaulich zusammen. Zwei Grundannahmen scheinen uns dabei zu lenken. Zum einen die Tatsache, dass „wir lieber den, der die Tat benennt, als den, der sie begeht“ zum Objekt unserer Reaktionen machen und uns häufig sogar dahinter verbergen, bloß um nicht selbst aktiv werden zu müssen. Zum anderen die Erfahrung, dass gerade „diejenigen Wünsche in uns übermächtig werden, die auf Irrtümern beruhen“. Unter diesen Prämissen werden viele weitere Abläufe verständlich. Wolfs Kassandra memoriert später:
„Das habe ich lange nicht begriffen, dass nicht alle sehen konnten, was ich sah. Aber sie glaubten sich ja!!“
Dieses Eingebunden-sein in die Monade des eigenen Glaubens muss als eine der stärksten Hemmnisse auf dem Weg der Früherkennung gesehen werden. Mittlerweile glaubt die Gehirnforschung sogar zu wissen, dass wir ohnehin nicht die Welt wahrnehmen, sondern nur ein Phantasiebild, das sich allenfalls punktuell mit der Wirklichkeit deckt. Es ist, als ob man eine unsichtbare Wand zwischen sich und die Wirklichkeit zöge und den leeren Raum dazwischen mit eigenen Wünschen und Worten füllte. Ein weiteres Mal O-Ton Christa Wolf:
„Sie glaubten das, was man ihnen und sie sich selbst wieder und wieder vorgesagt hatten.“
Kassandra durchschaut das Prinzip, die innere Mechanik dieses unbewussten Selbstschutz-Verfahrens genau. Sie begreift, dass man es so vermeidet, reagieren zu müssen. Ein jüngster Fall aus dem Bereich militärischer Interventionen liefert ein Schulbeispiel für diese offenbar über Jahrtausende hinweg tradierte Haltung. Wie antwortete ein ranghoher Offizier kürzlich auf die Frage, weshalb man auf einen dramatischen Vorfall nicht reagiert hätte: „Wir haben nicht wegesehen. Wir haben das einfach nicht geglaubt!“
In letzter Zeit häufen sich besorgniserregende Hinweise, wonach sich auch die Wissenschaft von einem vergleichbaren Phänomen erfasst zeigt. Man spricht dabei von sogenannten falsch-positiven Ergebnissen. Kritiker gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte naturwissenschaftlicher Studien so zu bewerten sind. Die Ursachen dieser Problematik scheinen fächerübergreifend zu sein und gerade auch solche Disziplinen zu betreffen, die bei der Überprüfung von Hypothesen objektive statistische Verfahren verwenden. Selbst in den Naturwissenschaften – wo man doch
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Fakten und objektive Messungen als gegeben vorauszusetzten geneigt ist – grassiert also der umgekehrte Kassandra Effekt in seiner möglicherweise skurrilsten Form: Man glaubt nur der eigenen Prognose und richtet die Fakten darauf ein. Mit den besten Gründen der Welt: Denn es geht um Prestige und Geld. Lessings wissenschafts- und erkenntnisskeptischer Aphorismus aus dem Nathan –„nicht selten fand der Forscher mehr als er zu finden wünschte“ – verdiente es, ernst genommen und erweitert zu werden. Man sollte wohl eher ein ernüchtertes: „Nicht selten fand der Forscher das, was er zu finden wünschte“ hinzufügen.
„Fake facts“ nennt man das derzeit. Alle Welt tut jetzt so, als ob es sich um ein Phänomen handelte, das uns erst seit wenigen Monaten unter dem Begriff „fake news“ beschäftigen würde. Faktisch ist das glaubhafte in-Szene-setzen möglicher aber nicht eindeutig zu verifizierender Nachrichten seit Jahrhunderten gängige Praxis. Lediglich die technische Perfektion und Schnelligkeit, mit der man diese möglichen Fehlinformationen weltweit in Umlauf setzen kann, hat sich gravierend geändert. Doch gleich ob die Emser Depesche , Orwells „Newspeak“ oder die rigorosen Wirklichkeitsverfälschungen der totalitären Systeme – Sprache und Begriffe verfügen über die Fähigkeit, eine nicht vorhandenen Wirklichkeit perfekt zu simulieren. Wo aber die Wahrheit und Stimmigkeit einer Behauptung nicht mehr überprüfbar ist, beginnt der Abstieg in die Niederungen der Orientierungslosigkeit. Wenn es kein Richtig und Falsch mehr gibt, endet der Spielraum des Kassandra-Prinzips. Wenn jede Vorhersage nur ein beliebiges Konstrukt, eine Wahrheit auf Zeit ist, kollabiert selbst die Möglichkeit der Fehlinformation.
Bleibt die schwache Hoffnung, dennoch aus der Geschichte lernen zu können. Und insofern vielleicht doch etwas weniger leicht irritierbar zu werden. Und nicht immer gegen den Eisberg oder gegen die Wand zu brettern, nur weil einer Dir sagt, da ist kein Eisberg, da ist keine Wand. Eigenverantwortlich auf die Zeichen und Stimmen zu hören – ohne bereits vorvermittelten Wahrnehmungsfilter. Auch ohne aufgeregten Verstärker. Just listen! Mag sein, dass man so wirklich „fürs nächste Mal“ was lernen kann?
Aber im Ernst, wie kann, wie könnte man den Fluch der Kassandra brechen? Wie könnte man über dieses ewige, erstaunte „wie konnte das passieren“ hinauskommen? Weshalb legt sich Kassandras Fluch noch immer über das Schicksal der Menschen? Warum schlägt der Versuch die Gesellschaft vor drohenden Katastrophen zu schützen immer wieder fehl? Es genügt nicht, Kassandra einfach in neue Kleider zu stecken und sie zu aktualisieren; das wäre nichts anderes als das Problem zu übertünchen.
Vielleicht wäre es bereits ein erster Schritt in die richtige Richtung, die moderne Form der Kassandras, die „Whistleblower“ nicht als Verräter, Nestbeschmutzer und Verbrecher zu diffamieren und drakonisch zu bestrafen, sondern sie als Aufklärer, die auf eklatante Missstände hinweisen ernstzunehmen, – anstatt über sie den Stab selbstgerechter Ausgrenzung zu brechen.
Schließlich hat sich der Typus des Kassandra-Außenseiters seit jeher als heilsame Nervensäge, als kreativer Nestbeschmutzer bemerkbar gemacht. Und dennoch, gerade deshalb gehört er „dazu“ – sei es als Priester, Seher, Schamane, Wahrsager, Sangoma, – oder auch nur einfach als profaner blickscharfer Be-Schreiber, dessen Vorhersagen nicht weniger zutreffend sind als die vieler moderner Prognostiker. Man
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könnte sogar sagen, dass Wissen oder Voraussicht ohne Skepsis – oder gar unverblümte Ablehnung – gar nicht vollständig sind. Die einzige Absicherung gegen den Reflex des sich austernartigen Verschließens ist es, sich den Strömungen und Bewegungen der externen Welt auszusetzen, sich ihnen trotz aller Irritationen oder Ambivalenzen mutig zu öffnen.
Das Zurückweisen derjenigen, die sich dem ‚Wahr-sagen‘ verschrieben haben, selbst wenn sie möglicherweise Gefahr laufen, falsch zu liegen, ist ein verhängnisvoller Fehler. Denn jedes Innehalten, Nachdenken, Reflektieren über den Weg, den man sich gerade – alternativlos – anschickt zu gehen, ist ein entscheidender Zeitgewinn. Beziehen wir, insbesondere in Zeiten wie dieser, möglichst viele dieser Kassandrastimmen in unserer Gespräche und Überlegungen mit ein, statt sie zu exkludieren.
Kassandra hat nur dann eine Chance, wenn wir bereit sind, uns dem Potential ihrer Warnungen willentlich zu öffnen. Nur dann würde sich etwas für sie ändern und sie müsste sich nicht mehr wie noch bei Schiller diese verfluchte, frustrierende Gabe vom Halse wünschen.
„Meine Blindheit gib mir wieder
Und den fröhlich dunkeln Sinn,
Nimmer sang ich freudge Lieder,
Seit ich deine Stimme bin.
Zukunft hast du mir gegeben,
Doch du nahmst den Augenblick,
Nahmst der Stunde fröhlich Leben,
Nimm dein falsch Geschenk zurück!“
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