77 Filosofie+Architektur<<"Deutend" denken, planen und sich einsetzen>>
W+B Agentur-Presseaussendung vom Januar 2001
<<Bernhard Leitner: Das Wittgenstein Haus>>
Bibliofiles Sachbuch, Hatje Cantz Verlag; Stuttgart, 192 S., 2000; mit 145 Abb., davon 7 farbig und 4 Ausklapptafeln, Hard-cover; DEM 78.- / ATS 569.- / SFR 73.-
www.hatjecantz.de
Ludwig Wittgenstein, Filosof und Gestalter, bekam 1925 die einmalige Chance, zusammen mit Paul Engelmann (Schüler von Adolf Loos), nun von Bernhard Leitner grossartig präsentiert, ein Haus in Wien zu planen.
1971 schliesslich, rettete Leitner das Wittgenstein Haus vor dem Abbruch, inmitten einer pseudo-rationalistischen, a-sozial-istischen und anti-ästheti-schen Zeitperiode (Tendenz: Kas-mit-Löcher- / Platten-Bauten für die Massenmenschhaltung) in Wien, in der auch die Verkehrsbauten Otto Wagners dieser Gefahr nicht unbeschadet entkommen sind (trotz der Initiativen der Roland Rainer Gruppe mit Wallner, Höfer, Prankl u.a.m.).
"Deuten ist ein Denken, Handeln; Sehen ein Zustand", schreibt Wittgenstein als eine Art Kern-aussage und fügt hinzu: "Die Logik ist eine Geometrie des Denken". Wobei dem Deuten, der Andeutung eine gewisse Priorität in diesem Vorgang zukommt (Anm. d. Rez.).
Dass einem oft das Denken und Sehen vergeht , zeigt die heutige Nachbarschaft des Hauses: "Das 14-geschossige Hochhaus wirkt dazu" agressiv drohend. Stadtbilder sind auch gefrorene Psychogramme", schreibt dazu Leitner. Wir ergänzen. Es sind Psycho-Pathologien, die weiterwirken und zur Gewalt gegen den Einzelnen, den Anderen aufrufen.
Wenden wir uns jedoch mehr der "Poesie eines Mauervorsprunges" (Jan Turnovsky) zu, so begegnen wir nicht nur in den 1:100 Plänen, einer grosszügigen Klarheit der Geometrie (Neutra, Mies van der Rohe) sondern kommen zu Fluren, Eck- und Sitzplätzen (für Skulpturen /Objekte/Möbel bestimmt), spüren eine überzeugende Grösse und neuklassische Harmo-nie bei Türrahmen und Fensteröffnungen.
Dabei bleibt es nicht: Wir berühren die Türklinken und -angeln: auch da hat Wittgenstein behutsam die Geometrie so gewählt, dass trotz der Zylinder- und Halbkugelideen, die diesem handnahen Objekt zugrundeliegen, bei dem Handfreundlichkeit (optimale Ergonomie) handgreiflich wirkt - im Gegensatz zur Bauhaus-Dessau-Bewegung.
Nochmals soll auf die Ecken aufmerksam ge-macht werden, weil sich da zum letzten Mal, in den letzten Tagen des Art Deko (vor der Machtergreifung der Kriegswütigen und der Führerklassizismen (Hitler, Stalin, Mussolini, Franco..) und deren geometrischen Todesma-schinen (Lager und Wehrbauten) zur Vernich-tung der inneren wie äusseren Gegner) die gute Zeit des Zusammenseins der Künste (trotz "Ornament ein Verbrechen") zeigt.
Dazu dient die Zeichnung von Hermine Witt-genstein, die einen Blick zur Ecke und neben die Türe richtet: Es zeigen sich hier noch Ansätze der Inhärenz in der Architektur zu den Künsten, die nach der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren gegangen sind: Integrierte Skulpturen und Objekten treten da durch die besonders hintergründig geprägte Geometrie intensiv hervor. Nicht zu verwechseln mit den Mono-manien von Architekten die selbstdarstellend und wahnhaft als Generalkünstler auf-treten (Corbu-sier, Hollein u.v.a), die ja keine Inhärenz schaf-fen, sondern einer Einmannshow frönen.
Das, dank dem Verlag, entstandene bibliofile Sachbuch ist geradezu ein Muster für den filosofisch-ästhetischen Diskurs über unser ver-gangenes Jahrhundert und dessen Verwicklung in der Geometrie, die als Trägermaterial für Macht-haber aller Art er- und ausgepresst wurde, das weder der Deuter Wittgenstein, der Parodist Turnovsky noch der Retter Leitner ausbremsen kann. Was sie, wie wir, im Anders-Sein im Widerschein und -stand bewirken können, ist dennoch erstaunlich und fordert auf weiterhin deutend, inspirierend wie konspirativ zu denken