Tim Engartner's 10 Kernargumente für Kritiker problematischer Unterrichtsmaterialien

Wir zeichnen aus
10 Argumente zu pädagogisch Bedenklichem

http://www.kultur-punkt.ch/swr2-kooperation/t-engartner-problem-unterrichtsmaterialien.html

1. Schulen sind der Auf- und nicht der „Verklärung“ verpflichtet, dürfen folglich keine Weltbilder heranzuzüchten.
2. Da Kinder und Jugendliche im Umgang mit Meinungen vergleichsweise unerfahren sind, müssen die ihnen vorgetragenen Standpunkte behutsam ausgewählt werden. Die Umworbenen können sich den unterrichtlich eingebetteten „Werbeveranstaltungen“ aufgrund des schulischen Pflichtcharakters schließlich nicht entziehen.
3. Schülerinnen und Schüler wissen den im Unterrichtskontext vermittelten Eindruck von Seriosität und Neutralität der externen Experten nicht in jedem Einzelfall zu enttarnen. Schon deshalb müssen sie vor externen Sachverständigen, denen mit ihrer Einbeziehung in den Pflichtschulkontext eine hohe Glaubwürdigkeit zugeschrieben wird, geschützt werden.
4. Lernprozesse sind erfahrungsgemäß nur dann erfolgreich, wenn Argumente sachlogisch generiert, analysiert und reflektiert werden. Auf kritische Reflexion zielen die Aktivitäten der Werbetreibenden aber gerade nicht.
5. Die Übernahme des Unterrichts durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Privatunternehmen mit eigenen Unterrichtsmaterialien hat weitreichende Konsequenzen für die öffentliche Wahrnehmung des Lehrerberufs, erfährt die professionsbezogene Ausbildung mit dieser Form der „Öffnung von Schule“ doch einen nachhaltigen Reputationsverlust.
6. Das auf Allgemeinbildung zielende Schulwesen wird durch diese schleichende Privatisierung zu einem Handlungsfeld degradiert, in dem Unternehmensrepräsentanten frei von curricularen Vorgaben agieren können. Damit wird kein Verhältnis unter gleichen geschaffen, wie es die Begriffe Bildungs- und Lernpartnerschaft suggerieren, sondern ein Ungleichgewicht gefördert, dass sich in finanziellen und inhaltlichen Abhängigkeiten niederschlägt.
7. Die frappierende Schieflage zwischen Schulen als staatlichen Institutionen einerseits und privatwirtschaftlichen Akteuren andererseits geht zu Lasten solcher Interessengruppen, die nicht über die nötigen finanziellen und personellen Ressourcen für schulische Lobbyarbeit verfügen – wie z. B. Wohlfahrts- und Umweltverbände, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch Gewerkschaften oder klassische Nichtregierungsorganisationen.
8. Dieselben Akteure, die die Schulen mit Unterrichtsmaterialen zu Wirtschaftsthemen fluten fordern seit Jahren die Einführung eines eigenständischen Fachs Wirtschaft, wie es nun zum Herbst 2015 in Baden-Württemberg mit der Bezeichnung Wirtschafts-, Beruf- und Studienorientierung eingeführt werden wird. Dahinter steht die Behauptung, dass Wirtschaft- und Finanzwissen der Jugendlichen sei ungenügend, weshalb diesen Themen mehr Unterrichtszeit zugebilligt werden müsse. Aber wissen Schülerinnen und Schüler über Wirtschaft wirklich weniger als über Politik, Gesellschaft und Geschichte? Brauchen wir in Zeiten von Fremdenfeindlichkeit im Schatten von Pegida und Hogesa, der Hooligans gegen Salafisten, nicht dringend mehr politische Bildung?
9. Die meisten Unterrichtsmaterialien gefährden die eigenständige Urteilsbildung und die Ausbildung von Kritikfähigkeit. Sie unterminieren damit den Beutelsbacher Konsens, in dem 1976 mit dem Überwältigungsverbot, dem Kontroversitätsverbot und der Schülerorientierung drei Grundprinzipien der sozialwissenschaftlichen Bildung festgeschrieben worden.
10. Es ist nicht einzusehen, dass Schulbücher in beinahe allen Bundesländern einem engmaschigen Prüfverfahren unterliegen, die Unterrichtsmaterialien privater Content-Anbieter hingegen nicht. Dies stellt bis heute eine nicht zu rechtfertigende Zweiklassenbehandlung dar.
Kurzum: Längst ist im einstigen „Schonraum Schule“ ein Kampf um die Köpfe der Kinder entbrannt, der die Unterrichtsqualität gefährdet und das auf Mündigkeit zielende emanzipatorische Bildungsverständnis aushöhlt. Je mehr Schulen sich für private Geschäftsinteressen öffnen und je mehr der Staat die Schulen dazu zwingt, weil er sie unzureichend finanziert, desto weniger wird die Schule ein Ort sein, an dem junge Menschen kritisches Denken und Handeln lernen. Wenn wir uns wirklich als „Bildungsrepublik“ begreifen, muss die immer weitreichendere Instrumentalisierung der Schule als Ort der Werbung und des Sponsoring ein Ende finden. Es ist an der Zeit, dass die bildungspolitischen Entscheidungsträger den schulischen Allgemeinbildungsauftrag nicht länger privatwirtschaftlichen Interessen opfern, sondern die Schultore für dubiose Akteure schließen. Andernfalls drohen Schulen endgültig zu „Werbeplattformen“ zu verkommen.