Über ein gefährliches Vertrauensverhältnis

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Vertrauensverhältnis -


SWR2 AULA – Dr. Marco Wehr: Propheten gesucht . Über ein gefährliches Vertrauensverhältnis
Autor und Redner: Dr. Marco Wehr *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 13. Juli 2014, 8.30 Uhr, http://SWR 2.de
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Propheten gesucht
Über ein gefährliches Vertrauensverhältnis

AUTOR

* Dr. Marco Wehr ist Physiker, Philosoph und international erfolgreicher Tänzer. Wegen seiner ungewöhnlichen Doppelbegabung wurde er von der ZEIT als "Kopf mit Körper" ausgezeichnet. Seine Arbeitsschwerpunkte als Autor und Redner sind Voraussagbarkeit, Komplexitätstheorie sowie die Beziehung von Körper und Denken. Seine bisher erschienenen Bücher wurden hoch gelobt und auf die Liste der Wissenschaftsbücher des Jahres gewählt. Seine Essays für die FAZ, die sich kritisch mit der Mathematisierung der Welt befassen, wurden für den Henri-Nannen-Preis 2013 nominiert.
Bücher (Auswahl):
Kleine Kinder sind große Lehrer - Genie und Ausdauer der frühen Jahre. (Hrsg: Reinhard Kahl). Beltz-Verlag. Erscheint im Oktober 2014.
Welche Farbe hat die Zeit? Wie Kinder uns zum Denken bringen. Eichborn-Verlag. 2007.

ÜBERBLICK
Zu viele VariablenPolitiker brauchen sie, Unternehmer, Börsianer, Konzerne und ganz normale Bürger: die wissenschaftlichen Berater und Prognostiker. Sie sind die wahren Propheten in unserer säkularisierten Welt, die mit einem ausgeklügelten mathematischen Baukasten die Zukunft voraussagen. Leider liegen sie oftmals falsch, was dazu führt, dass Milliarden in den Sand gesetzt werden. Der Philosoph und Physiker Marco Wehr zeigt, warum die Berechenbarkeit der Welt Grenzen hat und wir den Prognosen nicht immer trauen sollten.

Dr. Marco Wehr ist Physiker, Philosoph und international erfolgreicher Tänzer. Wegen seiner ungewöhnlichen Doppelbegabung wurde er von der ZEIT als "Kopf mit Körper" ausgezeichnet. Seine Arbeitsschwerpunkte als Autor und Redner sind Voraussagbarkeit, Komplexitätstheorie sowie die Beziehung von Körper und Denken. Seine bisher erschienenen Bücher wurden hoch gelobt und auf die Liste der Wissenschaftsbücher des Jahres gewählt. Seine Essays für die FAZ, die sich kritisch mit der Mathematisierung der Welt befassen, wurden für den Henri-Nannen-Preis 2013 nominiert.

Bücher (Auswahl):
Kleine Kinder sind große Lehrer - Genie und Ausdauer der frühen Jahre. (Hrsg: Reinhard Kahl). Beltz-Verlag. Erscheint im Oktober 2014.
Welche Farbe hat die Zeit? Wie Kinder uns zum Denken bringen. Eichborn-Verlag.

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INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Propheten gesucht – Über ein gefährliches Vertrauensverhältnis“.
Politiker brauchen sie, Unternehmer, Börsianer, Konzerne und ganz normale Bürger: die wissenschaftlichen Berater und Prognostiker. Sie sind die wahren Propheten in unserer säkularisierten Welt, die mit einem ausgeklügelten mathematischen Baukasten die Zukunft voraussagen. Leider liegen sie oftmals falsch, was dazu führt, dass Milliarden in den Sand gesetzt werden. Der Philosoph und Physiker Marco Wehr zeigt, warum die Berechenbarkeit der Welt Grenzen hat und wir den Prognosen nicht immer trauen sollten.
Marco Wehr:
Die Kirchen waren bis auf den letzten Platz gefüllt, als das Inferno begann. Die Erde bebte und riss auf. Wohnhäuser, Paläste und Kirchen taumelten wie sterbende Riesen, bevor sie mit lautem Getöse zusammenbrachen und die schreienden Menschen unter sich begruben. Binnen Minuten stand die Stadt in Flammen. Verzweifelte flüchteten in panischem Schrecken zum Fluss. Doch auch dort lauerte der Tod. Das Wasser hatte sich in gespenstischer Weise zurückgezogen. Ankernde Schiffe lagen wie große tote Tiere im Schlick. Dann schoss der Tsunami vom Meer heran und begrub alles unter seinen Fluten.
Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 hat das europäische Denken nachhaltig verändert. Es waren nicht die Sünder von Sodom, die ausgerechnet am Allerheiligen von den einstürzenden Gesteinsmassen zerquetscht wurden. Es waren Gottgefällige, die betend und singend in den Kirchen starben, während gleichzeitig Verbrecher raubten und mordeten, da sie aus den Gefängnissen flüchten konnten. Und ausgerechnet die Alfama blieb unbehelligt. Hohnlachend thronte das sündige Rotlichtviertel oben auf dem Hügel, während unten in der Stadt Kathedralen und Paläste zu Staub zerfallen waren.
Konnte Gott so grausam und ungerecht sein? Es schlug die Stunde der Aufklärer. Voltaire verhöhnte den gläubigen Leibniz und machte sich über dessen Theodizee lustig. Eine solch himmelschreiende Ungerechtigkeit sollte die von Gott geschaffene bestmögliche aller Welten sein? Lächerlich.
Immanuel Kant, weniger polemisch, dafür pragmatisch, war von dem Erdbeben fasziniert, sammelte alle Informationen, die ihm in die Hände kamen und dachte nach. Schließlich wagte er es, natürliche Ursachen für die Katastrophe zu postulieren. Er machte gigantische unterirdische Gasblasen für die Entstehung des Bebens verantwortlich. Damit stieß Kant die Tür auf. Es folgte ein intellektueller
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Propheten gesucht – Über ein gefährliches Vertrauensverhältnis
Von Dr. Marco Wehr
Flächenbrand: Stürme, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, das ganze furchterregende Waffenarsenal eines strafenden Gottes, wurde dem Allmächtigen von aufgeklärten Forschern entrissen, die nicht mehr an den furor domini glauben wollten und wissenschaftliche Erklärungen bevorzugten. Der Herr im Himmel – ein ermatteter Titan. Doch nicht nur Gott wurde gedemütigt. Seinem Hofstaat auf Erden erging es nicht besser. Bis dato oblag es Priestern und Propheten, die Zukunft zu deuten. Sie wurden jetzt von wissenschaftlichen Prognostikern verdrängt, den neuen Sehern, die mittels mathematischer Modelle Künftiges vorauszusagen suchten.
Als dann im Jahr 1759 Alexis-Claude Clairaut, Jerome Lalande und Nicole Reine Lepaute das Widererscheinen des Halley‘schen Kometen exakt vorhersagten, war Europa elektrisiert. Die Welt, ein Tanz der Teilchen, berechenbar, vorausgesetzt man kennt Anfangsbedingungen und Bewegungsgesetze. In diesem Zusammenhang sticht ein Wissenschaftler ganz besonders hervor: Pierre-Simon Laplace. Dieser verfasste maßgebliche Werke der Astronomie, die auch Napoleon nicht unbeeindruckt ließen. Als dieser den Wissenschaftler in den Rosengarten des Malmaison eingeladen hatte und darauf hinwies, dass Gott in dessen Büchern nicht mehr vorkäme, beschied der Forscher dem Kaiser, dass er diese Hypothese nicht mehr benötigen würde.
Spätere Forscher hielten Laplace meistens für einen genialen, aber etwas engstirnigen Gelehrten, der einem obsessiven Berechnungswahn verfallen war. Aber das Gegenteil ist der Fall. Laplace war ein bahnbrechender Forscher der Aufklärung, aber er sah auch schon dunkle Wolken am Horizont. Der Franzose erkannte die Grenzen wissenschaftlicher Berechnungen mit prophetischer Klarheit. Das macht ihn in unserem Zusammenhang besonders interessant. Die realistische Einschätzung der Vorhersagbarkeit natürlicher Phänomene unterscheidet ihn nämlich von vielen heutigen wissenschaftlichen Prognostikern. Dass Laplace seit langem missverstanden wird, liegt übrigens daran, dass ein einziges Zitat von ihm seit Generationen unvollständig abgeschrieben wird, während man es gleichzeitig unterlässt, einen Blick in sein umfangreiches Hauptwerk zu werfen. Das bekannte Zitat hat den Laplaceschen Dämon zum Gegenstand. Diese Kopfgeburt ist ein gespensterhaftes Wesen, das nicht nur Orte und Impulse aller Teilchen im Universum kennt, sondern auch deren Bewegungsgesetze. Aus diesem Grund kann er jeden vergangenen, aber auch zukünftigen Zustand berechnen. Laplace unterstellt aber nicht, und das wird gerne unterschlagen, dass der Mensch diese dämonischen Fähigkeiten entwickeln würde. Laplace stellt klipp und klar fest, dass der Mensch in seiner Beschränktheit dem Dämon immer unendlich fern bleibt!
Diese Einschätzung erklärt, weshalb das Zitat in der Einleitung eines Buches über Wahrscheinlichkeitsrechnung steht. Die Kenntnisse der Menschen sind fast immer lückenhaft. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als probabilistische Aussagen zu
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machen. Deshalb taugt Laplace nicht zum Säulenheiligen heutiger Berechenbarkeitsfanatiker. Im Gegensatz zu diesen schätzte er etwa die Möglichkeiten, Wetter und Klima längerfristig zu berechnen, pessimistisch ein. Schon lange vor der Entwicklung der Chaostheorie war er sich darüber klar, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben können. Diese wichtige Einsicht beschränkt die Voraussagbarkeit in wesentlichen Punkten.
Der nüchtern-realistische Blick eines Pierre Simon Laplace wäre nun einem Teil heutiger Forscher zu wünschen, denen die Einsicht in die beschränkte Tragweite ihrer Modelle fehlt. Zu allem Überfluss schrecken diese nicht davor zurück, sich der Politik als Ratgeber anzudienen. Das ist eine unheilvolle Liaison.
Dass Wissenschaftler und die Mächtigen dieser Erde eine symbiontische Beziehung pflegen, ist nicht ungewöhnlich. Bereits im Papyrus Rhind steht geschrieben, dass die Pharaonen Gelehrten die Würde der Unsterblichkeit verliehen. Schon früher gaben sich die Machthaber gerne den Anschein, Herrscher über eine ungewisse Zukunft zu sein. Diese Kompetenzillusion musste durch die eine oder andere zutreffende Prophezeiung gekonnt in Szene gesetzt werden: durch das exakte Datum einer Nilüberschwemmung etwa oder durch die genaue Prognose einer Sonnenfinsternis. Dazu brauchte man ein Hirn im Hintergrund. Bei Erfolg war die Entlohnung fürstlich, bei Versagen rollte auch mal ein Kopf. Zumindest das Prinzip der großzügigen Bezahlung hat sich bis in die Gegenwart gehalten.
Aber sind die Prognosen, die heute mit dem hehren Anspruch auftreten, komplexe Phänomene wie Klima und Wirtschaftsentwicklung vorauszusagen, ihr Geld wirklich wert? Hier sind Zweifel angebracht. Es sieht so aus, als ob das System aus Politik und beratender Wissenschaft nicht nur bei der Analyse komplexer Sachverhalte versagt. Zum Glück bewegt sich bei einem missratenen Gutachten der finanzielle Verlust für die Allgemeinheit noch in überschaubaren Grenzen. Das bekommt eine andere Dimension, wenn auf der Grundlage vermeintlicher Expertise von Politikern, Wissenschaftlern und Juristen Komplexitätsmonster erschaffen werden, die eine Kinetik und Eigenständigkeit entwickeln, die ihre Erschaffer weder vorhergesehen haben noch zu beherrschen in der Lage sind. Goethes Zauberlehrling lässt grüßen.
Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang besonders das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Hier werden grobe Webfehler besonders augenfällig: Die eigentliche Motivation des Gesetzes besteht darin, Kohlendioxid in großem Maßstab zu vermeiden. Dieses Ziel wird mit Pauken und Trompeten verfehlt, da die Konstrukteure des fragwürdigen Elaborats nicht vorhergesehen hatten, dass das Gesetz mit dem Emissionszertifikatehandel kollidiert. Die Folgen für den Großteil deutscher Steuerzahler sind desaströs. Eine kleine Zahl von Profiteuren wird mit gigantischen Beträgen vom Rest der Bevölkerung subventioniert. Dabei verdanken sich diese Beträge, die bei mindestens 200 Milliarden Euro liegen, einer paradoxen
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Logik: Je mehr grüner Strom in den Spitzen in die Netze eingespeist wird, desto tiefer sinkt an den Strombörsen der Preis, der erlöst wird. Dadurch wird der Strom für die normalen Bürger aber nicht billiger. Im Gegenteil. Der Preis steigt, da die Allgemeinheit gezwungen wird, die Differenz von staatlich garantierter Einspeisevergütung und Börsenpreis zu erstatten.
Wie kann es zu so einer fehlerhaften Konstruktion kommen? Die Gründe sind vielschichtig. Es fällt auf, dass in einer hochtechnisierten Welt viele Politiker auf der Grundlage ihrer Ausbildung nicht gerade prädestiniert sind, komplexe wissenschaftliche Sachverhalte zu beurteilen. Das erklärt die immer größeren Ausgaben der Regierung für externe Beratung. Die ökologische Energiewende, die von den GRÜNEN forciert wird, ist ein sehr kompliziertes Thema. Bis vor kurzem wurde die Partei von Claudia Roth und Jürgen Trittin geführt. Trittin machte einen Abschluss als Sozialwissenschaftler. Roth hat das Studium der Theaterwissenschaften nach zwei Semestern abgebrochen und nennt sich seitdem Dramaturgin. Hilft dieses Wissen, die fatale Wechselbeziehung zu beurteilen, die das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit dem Emissionszertifikatehandel zu einem extrem teuren Nullsummenspiel macht? Was für die GRÜNEN gilt, gilt in vergleichbarer Weise für die anderen Parteien. Wissenschaftlich ausgebildete Politiker kann man mit der Lupe suchen.
Dieser Umstand verstärkt leider die Gefahr, für Einflüsterungen wissenschaftlicher Berater, die den Anschein der Kompetenz erwecken, empfänglich zu werden. Das ist leichtfertig, da besonders die vergangenen 10 Jahre lehren, dass vermeintlichem Expertentum mit Vorsicht begegnet werden muss. Als Beispiel sollen Volkswirtschaftslehre und Klimatologie dienen, da diese “Wissenschaften“ und ihre zweifelhaften Prognosen Grundlage für Investitionsentscheidungen in Billionenhöhe (!) werden.
Wie kläglich die mathematischen Modelle der Wirtschaftswissenschaftler versagt haben, ist in der Bankenkrise augenfällig geworden. Die tatsächliche Ausfallquote mit Immobilien besicherter Derivate höchster Bonität war um circa 20.000 %(!) höher als die, welche großen Ratingagenturen prognostiziert hatten. Doch auch schon lange vor dem Schreckensjahr 2008 musste einem aufmerksamen Beobachter klar gewesen sein, dass wirtschaftswissenschaftliche Prognosen mit Skepsis zu betrachten sind. Die jährlich veröffentlichten Konjunkturvorhersagen verschiedener Institute stimmen nur in wenigen Fällen und haben sehr große Fehlermarginalen. Rezessionen werden von den Spezialisten nur selten vorhergesehen. Auch Schätzungen der Arbeitslosenzahlen sind nicht besonders solide. Grundlegende Fragen wie die, ob eine hohe Staatsverschuldung zur Inflation oder Deflation führt, werden von den Wirtschaftsweisen kontrovers diskutiert. In ähnlicher Weise wird darüber gestritten, ob es in der Krise für einen Staat sinnvoll ist zu sparen oder lieber die Staatsausgaben zu erhöhen. Auch im privatwirtschaftlichen Bereich sieht es nicht
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besser aus. Affen, die mit Dartpfeilen auf Aktien werfen, erzielen mit ihrem Portfolio meist eine bessere Performance als hoch bezahlte Analysten bei den Banken, denen es fast nie gelingt, längerfristig den Index zu schlagen.
Wie tief die Krise in den Wirtschaftswissenschaften ist, wurde bei der Verleihung des diesjährigen Nobelpreises offensichtlich: Zwei der Laureaten – Eugene Fama und Robert J. Shiller – vertreten völlig gegensätzliche Positionen. Das scheint aber niemanden zu beunruhigen. Fama meint, dass sich aufgrund der Effizienzmarkthypothese keine Preisblasen bilden können, Shiller behauptet das genaue Gegenteil. Das ist ungefähr so, als würde man Galileo Galilei und Papst Urban VIII., der ihn wegen seiner ketzerischen Schriften verurteilte, gemeinsam für den Physiknobelpreis nominieren.
Doch nicht nur bei den Wirtschaftswissenschaftlern, auch bei den Klimatologen macht sich Unbehagen breit, da das prognostische Potenzial der gerühmten Simulationen nicht einmal den eigenen Erwartungen genügt. Die Erderwärmung hat seit Jahren eine kleine Pause eingelegt. Das war von den Modellen so nicht vorgesehen. Und schaut man genauer hin, dann bemerkt man, dass es viele Inseln des Nichtwissens gibt: Die Wolkenbildung ist nicht richtig verstanden und man grübelt, wie man diese modellieren soll. Dasselbe gilt für die CO2-Bilanzen der Ozeane und der Urwälder. Beide lassen sich nicht exakt quantifizieren. Aber ist das schlimm? Oder sind das Kinderkrankheiten, die in Zukunft ausgemerzt werden, so dass sich komplexere Modelle der tatsächlichen Entwicklung immer weiter anschmiegen werden? Das darf bezweifelt werden.
Um den Kern der Problematik zu verstehen, lohnt es sich, kurz über die Funktion eines mathematischen Modells nachzudenken. Es ist wesentlich, dass die Wirklichkeit im Modell reduziert wird. Dabei richtet sich die Auswahl bestimmter Aspekte nach den Zielsetzungen, denen das fragliche Modell genügen soll. Das kann man sich leicht am Beispiel einer Straßenkarte klarmachen. Diese ist ein zweidimensionales, statisches Modell der Wirklichkeit, auf der klugerweise fast nur Straßen eingezeichnet sind, da es den Autofahrer, der ein Ziel erreichen möchte, im allgemeinen nicht interessiert, ob der Wald, den er gerade durchfährt, aus Fichten, Tannen oder Birken besteht. Es ist der Zweck einer Straßenkarte, einen Weg von A nach B zu finden. Wir bestimmen einen Startpunkt, visieren das Ziel an, ermitteln die passende Strecke. Auf diese Weise können wir prognostizieren, wie wir unser Ziel erreichen. Jetzt stellen Sie sich eine Karte vor, die genauso groß ist, wie das Land selbst, das Sie durchfahren möchten, und auf der alles Erdenkliche eingezeichnet ist! Hat eine solche Karte einen Sinn? Sie können sie wegwerfen, da sie die Wirklichkeit nicht in den entscheidenden Punkten reduziert. Wenn der Kybernetiker Norbert Wiener sagt: “Das beste Modell einer Katze ist eine Katze. Am besten dieselbe Katze“, dann wird klar, dass auch Genies vor erkenntnistheoretischen Irrtümern nicht gefeit sind.
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Was hat das mit mathematischen Wirtschafts- und Klimamodellen zu tun? Viel. Da haben wir als erstes das Problem der Auswahl der Aspekte, die wir für die Simulation der Wirklichkeit für relevant halten, verbunden mit der Frage, wie und mit welcher Genauigkeit diese zu messen sind. Die mathematischen Modelle, die häufig zur Anwendung kommen, sind sogenannte nicht-lineare Differentialgleichungssysteme. Diese entsprechen unserem Wunsch, vermutete kausale Abhängigkeiten der Wirklichkeit im Modell abbilden zu können. Leider besitzen sie unangenehme Eigenschaften: Nichtwissen, egal in welcher Form, hat gravierende Konsequenzen und beschränkt deren Tauglichkeit. Wenn man nicht genau weiß, wie die Wolkenbildung funktioniert, dann lassen sich damit verbundene Probleme der Absorption von Wärme und Licht, nicht exakt quantifizieren. Das ist kein kleiner Makel, den man einfach vernachlässigen kann. Dieses Nichtwissen kann sich in der Simulation explosionsartig vergrößern und das Modell unbrauchbar machen. Und je mehr Baustellen dieser Art existieren, desto spekulativer werden Modell und Simulation in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit. Nichtwissen ist ebenfalls virulent, wenn man Einflussgrößen nicht berücksichtigt, da man sie fälschlicherweise für unwesentlich hält oder deren kausale Wirkung erst gar nicht erst erkennt.
Ein Modell, in dem die Auswahl der Variablen und der wichtenden Parameter mit teils erheblichen Unsicherheiten behaftet ist, an einer komplexen Wirklichkeit zu prüfen, ist ein weiteres kompliziertes, oft aussichtsloses Unterfangen. Klima oder Volkswirtschaften lassen sich nicht wie ein Pendel unter klar definierten Versuchsbedingungen in einem physikalischen Labor präparieren und immer wieder vermessen.
Aber das ist leider noch nicht alles. Wie ein Damoklesschwert schwebt eine entscheidende Frage im Raum: Sind die Probleme, die modelliert werden sollen, überhaupt reduzibel? Damit sind wir wieder beim Beispiel der Straßenkarte. Ist es überhaupt möglich, Volkswirtschaften oder das Klima so in einem Modell zu reduzieren, dass Voraussagen gemacht werden können?
Tatsächlich ist diese Bedingung für jedes prognostische Modell essentiell, da ein Computer in der dynamischen Simulation der Wirklichkeit als Zeitmaschine aufgefasst werden muss: Nur dadurch, dass sich die Welt im Modell reduzieren lässt, gelingt es dem geschickt programmierten Computer, dem Gang der Dinge vorauszueilen, da in diesem Fall die Simulationszeit kürzer sein kann als die Realzeit. Hätten Modell und Wirklichkeit dieselbe Komplexität, wäre das unmöglich. Auf einer Straßenkarte, die so groß ist wie das Land, das man durchfährt, braucht man dieselbe Zeit, um von A nach B zu kommen.
Leider wird die Frage nach der Reduzibilität eines Problems im Allgemeinen weder gestellt noch beantwortet. Reduzibilität wird eher als gegeben angenommen und hat
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den Charakter eines Axioms. Was wäre aber, wenn das “Reduzibilitätsaxiom“ nur ein Glaubenssatz ist? Dann besteht die Gefahr, dass viele Bemühungen null und nichtig sind! Es ist keineswegs klar, ob das, was wir heute mit gigantischem Aufwand zu berechnen versuchen, überhaupt berechenbar ist. Aus der Chaostheorie wissen wir, dass selbst einfache physikalische Systeme nicht separabel sind: In bestimmten Szenarien gibt es keine noch so kleine Einflussgrößen, die man einfach vernachlässigen kann. Betrachtet man einen Billardtisch, auf dem Kugeln reibungsfrei laufen, dann wird dieses System, obwohl es der Inbegriff deterministischen Denkens ist, nach kurzer Zeit völlig unvorhersehbar. Selbst ein Elektron am Rande des Universums hat einen Einfluss, den man nicht vernachlässigen darf. Und das gilt auch für den messenden Beobachter, der durch die Störungsempfindlichkeit des Systems in eine verhängnisvolle Schleife der Selbstbezüglichkeit getrieben würde. Um seine Wirkung auf den Untersuchungsgegenstand zu quantifizieren, müsste er den Einfluss von sich selbst und seinen Messungen auf das System laufend neu vermessen. Das ist ein essentielles Beobachterproblem im Rahmen der klassischen Physik! Eine physikalische Version des Tristam-Shandy-Paradoxons, das einen Autor zum Gegenstand hat, der manisch seine eigene Biographie schreibt, bis er an den Punkt kommt, an dem er gerade beschreibt, was er gerade beschreibt. In diesem Licht ist übrigens ist der Laplacesche Dämon eine sinnlose Fiktion. Man kann ihn sich so mächtig denken wie man will, es wäre ihm immer unmöglich, das Wissen zu erhalten, dass er bräuchte, um die Zukunft zu berechnen.
Sind Klima und Volkswirtschaften nicht-separable und damit irrreduzible Systeme? Die Frage ist wichtig, aber unbeantwortet. Auf alle Fälle ist die Wirklichkeit viel komplexer als sie von den Modellierern angenommen wird. Damit berühren wir erneut die wichtige Frage, welche Aspekte der Wirklichkeit im Modell berücksichtigt werden müssen, damit dieses eine angemessene und nützliche Beschreibung ist. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit verdeutlicht das Problem: Erdbeben wie das von Lissabon im Jahre 1755 gelten bis zum heutigen Tag als nicht vorhersehbar. Beben die man prognostiziert hat, sind nicht eingetreten. Die, die man nicht vorhergesehen hat, haben katastrophale Schäden angerichtet. Das Erdbeben von Fukushima macht in diesem Zusammenhang keine Ausnahme.
Diese Katastrophe nahm nun Bundeskanzlerin Merkel zum Anlass, Absprachen zu brechen, aus der Atomkraft auszusteigen und öffentlichkeitswirksam die ökologische Wende zu proklamieren, die zwar bis heute dem Klima nicht nutzt, aber volkswirtschaftlich eine große Belastung ist. Hier sieht man deutlich, dass die Unberechenbarkeit einer Naturkatastrophe, die Unergründbarkeit der menschlichen Psyche, die klimatische Entwicklung und die wirtschaftliche Prosperität keine getrennten Systeme sind. Wird solchen komplexen Wechselwirkungsgeflechten Rechnung getragen, wenn Forscher vorgeben zu wissen, wie das Wetter im Jahr 2100 in Hamburg ist? Oder schlecht beratene Politiker dem Wähler Sand in die
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Augen streuen und verkünden, man könnte am CO2-Gehalt der Atmosphäre wie an einem Stellschräubchen herumdrehen (2-Grad-Regel) und damit die Temperatur unseres Planeten wie mit einem Thermostaten einstellen. Das kann man guten Gewissens als unseriös bezeichnen. Was sollen wir tun?
Seit der Katastrophe von Lissabon sind über 250 Jahre vergangen. Das aufklärerische Denken – von den Fesseln kirchlicher Dogmatik befreit – führte bis in die jüngste Zeit zu einem Erkenntnissturm. Heute besteht die Gefahr, dass sich diese Art zu denken ad absurdum führt. In einer auch von Marketinggesetzen beeinflussten Welt der Forschung geht das Wissen, was eine belastbare wissenschaftliche Theorie vom Blendertum mit nichtssagenden Formeln unterscheidet, zunehmend verloren. Die Aufklärung weicht der Verklärung. Die Stimmen der Forscher, die es besser wissen, gehen im Geschrei derer unter, die sich in den Vordergrund drängen und deren plakative Thesen von vielen Medien gerne aufgegriffen werden. Wenn ein etablierter Forscher wie der Klimatologe Hans von Storch zur Besonnenheit rät und mit Nachdruck dafür eintritt, sorgfältig zwischen dem zu unterscheiden, was man weiß, und dem, was sich unserem Wissen entzieht, dann sollte man diesen Aufruf ernstnehmen. Es müssen aber auch die erkenntnistheoretischen Werkzeuge vorhanden sein, um die Spreu vom Weizen trennen zu können.
Im letzten Jahrhundert gab es in der Philosophie den sogenannten linguistic turn. Philosophen und Sprachwissenschaftler verstanden, dass wir die Funktion der Sprache beim Denken nicht vernachlässigen dürfen. In diesem Sinne benötigt unser Jahrhundert einen mathematical turn! Dieser hat die elementare Frage zum Gegenstand, welchen Sinn und Zweck die Mathematisierung der Welt hat. Wir brauchen ein klares Verständnis, was mathematische Modelle und deren Simulationen auf dem Computer leisten können und was nicht! Nur dann können wir beurteilen, ob Prognosen sinnvoll sind. Es muss betont werden, dass die Anwendung der Mathematik kein Selbstzweck ist. Nur weil etwas in beeindruckende Formeln gekleidet ist, ist es noch nicht wissenschaftlich. Leider verschwinden die Lehrstühle, die solches Wissen vermitteln können, zunehmend von den Universitäten. Wissenschaftstheorie und Geschichte der Naturwissenschaften führen ein Schattendasein.
Die “Wissenschaften“, in denen Formeln oft unreflektiert verwenden, können sich übrigens ein Beispiel an der reinen Mathematik nehmen. Diese tritt heute zurückhaltend auf, da sie ihr “Erkenntnisbeben“ und damit verbundene existenzielle Krisen schon hinter sich hat. Von den früheren Allmachtsfantasien eines Raimundus Lullus oder Gottfried Wilhelm Leibniz, die glaubten, jede Fragestellung dieser Welt ließe sich auf der Grundlage eines universellen Kalküls mathematisch entscheiden, spricht heute niemand mehr. Das gilt auch für die eingeschränktere Forderung eines David Hilbert, der überzeugt war, dass jede mathematische Aussage entscheidbar wahr oder falsch sei. Logiker wie Kurt Gödel und Alan Turing haben diese Träume
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zerstört. Gegenwärtig ist man schon glücklich, wenn man weiß, was ein gültiger Beweis ist: Seit der Verwendung des Computers und der Arbeit großer Autorenkollektive gibt es Dispute, was eine bewiesene Wahrheit ist.
Unterm Strich haben die letzten 200 Jahre Mathematikgeschichte dazu geführt, dass in gebildeten Mathematikerkreisen von der Hybris früherer Jahrhunderte wenig übrig geblieben ist. Von einer solchen Bescheidenheit würden auch die Gebiete profitieren, in denen Mathematik in oft fragwürdiger Weise zur Anwendung kommt: Es würde sich für alle Klimatologen und Wirtschaftswissenschaftler empfehlen, deutlich auf Grenzen und Vorläufigkeit ihrer Modelle hinzuweisen. Das würde das Risiko verkleinern, einen großen Reputationsschaden zu erleiden, wenn ihre Methoden in der Krise obsolet werden. In der Folge müssten Politiker so handeln, dass es immer möglich bleibt, Entscheidungen neuen Sachzwängen anzupassen, da sie nicht mehr vorbehaltslos der Expertise von Wissenschaftlern trauen dürfen. Schlussendlich würden auch der Bürger und Steuerzahler profitieren: Die Wahrscheinlichkeit gigantischer Fehlinvestitionen wäre deutlich kleiner, wenn sich die Tatsache im allgemeinen Bewusstsein verankert würde, dass Prognosen komplexer Systeme keine in Stein geschlagenen Wahrheiten sind, sondern häufig genug auf tönernen Füßen stehen.
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