Ralf Caspary - Gert Scobel: Weisheit ist erlernbar . Plädoyer für eine neue Gelassenheit

SWR2 Wissen: Aula - 
Ralf Caspary im Gespräch mit Gert Scobel *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Freitag, 6. Januar 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
___________________________________________________________________
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
INHALT________________________

ÜBERBLICK
Unter einem weisen Menschen stellen wir uns zuerst eine alte erfahrene Person vor, die tolerant und offen ist, die gut zuhören kann, sich in viele fremde Lebenswelten hineinversetzen kann, die glücklich ist und sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Richtig daran ist, dass Weisheit viele Tugenden und Fähigkeiten bündelt, falsch ist die Beschränkung aufs Alter. Allein dadurch, dass man älter wird, wird man nicht weiser, die Eigenschaften, die man zur Weisheit benötigt, hat man schon im Alter von 25 oder 30 Jahren. Man sollte sie deshalb schon früh kultivieren. Gert Scobel, Buchautor und Journalist, zeigt, warum weise Menschen glücklicher sind als andere und mit Krisen produktiver umgehen.

* Zum Autor:
Gert Scobel, geb. 1959 studierte Philosophie und Theologie in Frankfurt am Main und in Berkeley (Kalifornien). Bekannt wurde Gret Scobel vor allem als Anchorman des Morgenmagazins der ARD, er moderierte auch viele weitere vor allem Kultursendungen, zum Beispiel das 3sat-Magazin Kulturzeit und verschiedene Buchsendungen und die Sendung "sonntags - TV für's Leben" im ZDF. 2004 bis 2008 leitete und moderierte Gert Scobel das Magazin "delta", das im April 2008 von der Sendung "scobel" abgelöst wurde. Für seine vielfältige Tätigkeit wurde Gert Scobel mit mehreren Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Bayerischen Fernsehpreis und dem Grimme-Preis (2005).

Bücher (Auswahl):
- Weisheit – über das was uns fehlt. Dumont Buchverlag. 2011.
- Der Ausweg aus dem Fliegenglas: Wie wir Glauben und Vernunft in Einklang bringen können. Fischer Verlag. 2010.


INHALT________________________
Ansage:
Mit dem Thema: „Weisheit ist erlernbar – Plädoyer für eine neue Gelassenheit“.
Ach wäre das schön, wenn man angesichts der Krisen unserer Zeit gelassen und
weise reagieren könnte, wie ein Philosoph, der sich nicht von Angst oder Ehrgeiz
treiben lässt, sondern vom Willen zur höheren Einsicht.

Interview:

Caspary:
Herr Scobel, ich falle gleich mit der Tür ins Haus, was ist Weisheit
Scobel:
Tja, Herr Caspary, ich habe befürchtet, dass Sie mich das gleich zu Anfang fragen
würden. Es gibt natürlich eine Menge von klassischen Definitionen, die ich Ihnen
erspare. Meine ist ein bisschen ungewöhnlicher, passt aber, glaube ich, zu den
klassischen Definitionen: Weisheit ist ein nachhaltiger Umgang mit komplexen
Systemen. Nachhaltig bedeutet, dass ich nicht übermorgen meine Entscheidungen
von heute bereue und mich anders entscheiden muss. Komplexe Systeme – darüber
müssen wir, glaube ich, reden, das versteht man nicht sofort und man versteht auch
nicht sofort, warum überhaupt komplexe Systeme. Und darüber hinaus ist das ein
Handeln, das einen sozusagen im Inneren und mit seiner Umwelt in Einklang bringt.
Und da ich befürchtet habe, dass Sie mich mit dieser Frage gleich zu Anfang
konfrontieren würden: Es gibt eine, wie ich finde, gute Definition von Weisheit, die
scheinbar zunächst völlig anders ist, aber vielleicht Ähnliches wie meine Definition
sagt. Mathieu Ricard, ein französischer Molekularbiologe, der nach seiner Arbeit in
Paris in Tibet hängenblieb und inzwischen einer der Meisterschüler des Dalai Lama
ist, definiert Weisheit so: „Weisheit bezeichnet genau jenes
Unterscheidungsvermögen, das uns erkennen lässt, welche Gedanken und
Handlungen zu echtem Glück beitragen und welche es zerstören. Weisheit beruht
immer auf unmittelbaren Erfahrungen, nicht auf Lehrsätzen.“
Caspary:
Dann geht es Ihnen zum Teil um Glück? Ihre Definition klang zunächst etwas
abstrakt und ging in Richtung Systemtheorie, ich hörte Luhmann im Hintergrund, ein
„nachhaltiger Umgang mit Systemen“ – und jetzt doch Glück?
Scobel:
Sie haben recht, das klingt abstrakt und auch ein bisschen nach Luhmann, obwohl
es mit Luhmann gar nicht soviel zu tun hat. Man muss das übersetzen in eine
Sprache, die ein bisschen weisheitsaffiner ist und mehr nach Alltag klingt. Über
Glück werden wir uns wahrscheinlich auch noch unterhalten, damit hat es natürlich
auf eine indirekte Art und Weise auch zu tun. Das war eine Einladung für Sie, gleich
mit mir über Glück zu sprechen.
Caspary:
Ich gehe erst einmal davon aus, dass Sie mit Weisheit nichts religiös Konnotiertes
verbinden?
Scobel:
Das ist völlig richtig. Wenn man das mal in ein Bild packt, würde ich sagen, es kann
sein, dass Religion und Weisheit durchaus sozusagen aus demselben Element, also
Wasser, gemacht sind. Aber Religionen müssen sich ja von anderen Religionen
unterscheiden, und das bedeutet, sie müssen dogmatische Systeme errichten.
Bildhaft ausgedrückt: Religionen sind Inseln mit riesigen Eispalästen und diese
Eispaläste dürfen auch nicht zerstört werden. Weisheit ist sozusagen das flüssige
Element, das Wasser, das diese Eispaläste verbindet, was viel geschmeidiger ist,
was sich nicht um dogmatische Lehrsätze kümmert, was auf einer Handlungsebene
einfach dahin fließt, wo es gebraucht wird, das kennt keine ideologischen und
dogmatischen Barrieren.
Caspary:
Lassen Sie uns zur Veranschaulichung ein System nehmen aus der Lebenspraxis,
und dann erklären Sie bitte anhand dieses Systems noch mal den nachhaltigen
Umgang, der Ihnen vorschwebt. Was wollen wir nehmen? Das Liebes -System, das
Ehe -System, Wirtschaftssystem, was gibt es noch?
Scobel:
Das Wirtschaftssystem, das können wir nehmen. Wahrscheinlich muss ich jetzt
erstmal erklären – auch wenn das wieder abstrakt ist –, was ich mit einem
komplexen System überhaupt meine. Ich glaube, das macht vieles klar. Man muss
komplexe und lineare Systeme unterscheiden. Ein lineares System ist zum Beispiel:
Sie haben eine Armbanduhr, Sie nehmen diese Armbanduhr auseinander, dann
haben Sie eine Fülle von kleinen Teilen vor sich liegen. Ein Uhrmacher kann Sie
anleiten, die Uhr wieder zusammen zu bauen, und dann macht dieses System im
Idealfall, wenn die Uhr richtig geht, immer dasselbe: Sie ziehen sie auf und sie zeigt
perfekt die Zeit an. Das ist ein Input-Output-System: Ich tue irgendwas in dieses
System rein und es kommt immer dasselbe raus. Komplexe Systeme funktionieren
überhaupt nicht so. Ich kann denselben Input haben, ich habe aber ein völlig anderes
Ergebnis. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist das Wetter, das ist ein komplexes
System, weshalb es auch so schwierig ist, Wetter zu berechnen, selbst wenn ich die
Ausgangsbedingungen kenne. Ein alltägliches Phänomen, das jeder kennt, ist auch
der Stau aus dem Nichts auf der Autobahn. Es gibt keinen Unfall, es gibt keine
Baustelle, trotzdem gibt es einen Stau. Warum? Verkehr ist ein System, bei dem die
Teile nicht wie bei einer Uhr jedes für sich und unabhängig voneinander irgendetwas
machen, sondern die einzelnen Verkehrsteilnehmer sind über
Rückkopplungsprozesse miteinander verbunden.
Caspary:
Früher nannte man das chaotische Systeme.
Scobel:
Richtig. Das sind ganz stark rückgekoppelte Systeme, chaotische Systeme auch, die
die Eigenschaft haben, sich selbst zu organisieren, die auch sehr stabil sind,
normalerweise fließt der Verkehr ja gut.
Caspary:
Diese Systeme zeichnen sich aus durch große Unvorhersehbarkeit, man kann sie
nicht planen.
Scobel:
Richtig. Obwohl das Paradoxe ist, dass die einzelnen Elemente und die
Beschreibung der Elemente bekannt sind. Das ist wie beim Wetter, Meteorologen
haben die genauen Formeln, Luftdruck und weiß der Kuckuck was. Nur die
Interaktion der einzelnen Teile ist ganz schwer zu bestimmen. Und das ist deshalb
wichtig, weil die Systeme, in denen wir leben – ob das Politik, das Finanzsystem, das
Wetter, Wirtschaft ist- komplexe Systeme sind. Wir tun aber immer so, als ob wir mit
diesen komplexen Systemen so umgehen sollten, als ob es lineare Systeme wären.
Und genau daraus resultiert eine Menge von Fehlern. Da beginnt Weisheit.
Normalerweise sollte man Weisheit und Klugheit unterscheiden, aber kluges, auch
weises Verhalten beginnt da, wo ich komplexe Systeme wirklich mal als das
wahrnehme, was sie sind, nämlich als komplexe Systeme. Das ist auch für
Studenten der Politikwissenschaft eine völlig neue Information, dass Politik ein
komplexes System ist. Wenn man Governance studiert, also da lernt man, wie man
solche komplexen Systeme versteht, sie verwaltet, steuert usw., muss man die
Komplexität sehen, doch das war den Studenten völlig neu. Damit hängt natürlich
auch die Frage zusammen, was Risiko ist. Im Unterschied zur Uhr, die ich zu 100
Prozent vorherbestimmen kann, von der ich weiß, was jedes Teilchen in diesem
System macht, habe, habe ich bei komplexen Systemen einen ganz hohen Faktor
von Nichtwissen. Damit fing interessanterweise in der griechischen Philosophie die
Weisheitsdiskussion an, aber das ist ein anderes Thema.
Caspary:
Es geht Ihnen schon um eine Handreichung im Umgang mit diesen chaotischen
Systemen. Wir wollten das Wirtschaftssystem als Beispiel nehmen. Jetzt müssen Sie
mir bitte erklären, wie ich da mit Weisheit weiter komme!
Scobel:
Es fing ja damit an, dass uns weiß gemacht worden ist, dass dieses Finanzsystem im
Grunde genommen kein komplexes System ist. Es gibt diese Schwankungen am
Aktienmarkt, von denen jeder weiß, dass es chaotische Schwankungen sind: Aber so
im Großen und Ganzen wissen Sie, bei unserer Bank -ich persifliere das gerade-,
wenn Sie jetzt nicht gerade eine Rendite von 20 Prozent haben wollen, sondern nur
5,6 oder was auch immer – da haben wir ganz sichere Fonds für Sie. Dass diese
Superfinanzprodukte quasi die „faulen Stellen“ waren, die immer größer wurden, das
hat man bewusst verschwiegen oder man hat es gar nicht gesehen. Und dann kam
der erste, zweite, dritte Knall und plötzlich wurde den Menschen bewusst, ja, so
einfach scheinen die Systeme gar nicht zu funktionieren. Jetzt haben wir
Griechenlandverschuldung, Spanien, Deutschland ist im Moment höher verschuldet
als Spanien, aber da sprechen wir im Moment auch nicht so richtig drüber, und es
dämmert den Leuten, mein Gott, ist das kompliziert. Am Wirtschafts- und
Finanzsystem hängen ja Millionen von Existenzen dran, da hängen Rohstoffpreise
und Nahrungsmittelpreise in aller Welt dran. Das wäre die erste Einsicht, dass wir
also früher die Komplexität hätten kapieren sollen, das ist der Aspekt, der zur
Weisheit gehört, wirklich ehrlich den Dingen ins Auge zu schauen, mit Nichtwissen
ganz bewusst und offen umzugehen. Das haben wir übersehen. Das Zweite was wir,
glaube ich, übersehen haben, und das hängt auch mit Weisheit zusammen, ist:
Wenn ich mit einem solchen System zu tun habe, das aus den Fugen geraten ist, wie
reagiere ich dann? Im Idealfall reagiere ich gelassen. Wir haben alles andere als
gelassen reagiert. Die Börsen haben panisch reagiert. Und einer der Gründe dafür
ist, dass inzwischen ein Großteil des Börsenhandels über Computersysteme
abgewickelt wird. Die verkaufen automatisch und sehr schnell. Ich habe, kurz bevor
das passierte, mit einem Banker geredet und habe gesagt: „Sagen Sie mal, ich habe
gelesen, weil es ja 91 schon mal so einen Riesen-Crash gab, der von Computern
verursacht wurde, Sie hätten jetzt neue Algorithmen, die nicht so blöd sind, dass die
Computer sofort, wenn die Kurse fallen, verkaufen.“ – „Ja, ja, das ist heute ganz
anders, sowas wird nicht mehr passieren.“ Es ist genau so passiert, die Börsianer
mussten am Ende die Computer wieder abschalten. Das ist überhaupt kein weiser
Umgang.
Caspary:
Der weise Umgang fängt an mit der Einsicht in diese chaotischen, Systeme, die
immer anders sein können, als wir sie eigentlich haben wollen?
Scobel:
Richtig. Deshalb hat Weisheit im Finanzsystem damit zu tun, dass ich in kleinen
Schritten vorgehen muss. Also wenn ich die Rückkopplung schon nicht genau und
auf Anhieb sehe, dann darf ich nicht zu große Veränderungen auf einmal machen
und an allen Stellschrauben gleichzeitig drehen, dann weiß ich nämlich nicht mehr,
warum nachher irgendwas so läuft, wie es dann läuft. Ein ganz bekanntes Beispiel,
was diesen Zusammenhang erklärt, ist die Einführung von DDT. Das war eine ganz
tolle Sache, man konnte die Insekten vernichten, die die Lebensmittel fraßen, man
hatte eine höhere Lebensmittelproduktion, DDT schien eine perfekte Wunderwaffe zu
sein. Bis man zehn Jahre später feststellte, dass nicht nur Tiere offensichtlich
Schäden aufwiesen, sondern auch Menschen erste massive Schäden zeigten. Es
hat relativ lange gedauert, bis man klar zeigen konnte, das ist eine direkte Folge von
DDT. Das waren Rückkoppelungsprozesse, die keiner vorhersehen konnte.
Caspary:
Vielleicht können wir ein kleines Bündel von Eigenschaften sammeln, die Weisheit
ausmachen. Sie haben eben gesagt, das fand ich interessant, Weisheit ist die
Leerstelle für die Grenze des Wissens, sie fängt da an, wo das Nichtwissen
vorhanden ist. Das wäre schon mal eine Eigenschaft: Weisheit besetzt diese
Leerstelle.
Scobel:
Wir müssen da gar nicht groß drüber reden, das ist ja bekannt. Warum hat Sokrates
den Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ gesagt? In der Definition der damaligen
Zeit, da kam das mit der Philosophie gerade erst auf, waren die Philosophen
diejenigen, die ein ausgezeichnetes Wissen von etwas und über etwas hatten. Es
ging darum, eine Tätigkeit gut zu können. Und dann traten die Sophisten auf, da
steckt ja wieder das Wort sophia = Weisheit drin, das sind die, die einfach immer
alles besser wussten, wir würden heute sagen, die einem das Wort im Munde
umdrehten. Gegen diese Vielwisser, wie Sokrates sie nannte, geht er an und sagt:
„Was nutzt mir das überhaupt, was ihr macht? Ihr könnt alles verdrehen, Ihr könnte
Wissen anhäufen, damit löse ich aber nicht meine Lebensprobleme. Ich weiß, dass
es in meinem Wissen Grenzen gibt, dass es ganz große Bereiche gibt, in denen ich
mich nicht auskenne. Und damit müssen wir anfangen.“ Das als kleine Ergänzung.
Die empirischen Psychologen haben sich mit dem Problem Weisheit beschäftigt. Das
war mir, als ich anfing, das Buch zu schreiben, in dem Ausmaß auch nicht klar. Ich
sage das nur, um auf die Eigenschaften zu kommen, nach denen Sie mich fragten.
Paul Baltes vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin kam darauf, weil
er mit alten Menschen arbeitete und sich sagte: „In allen Kulturen ist die einzige
positive Eigenschaft, die wir alten Menschen zuschreiben, die Weisheit. Was ist
das?“ Inzwischen gibt es ähnlich wie bei Intelligenztests einen Weisheitstest. Und
diese Tests basieren auf über 40 verschiedenen Eigenschaften, Fähigkeiten , die mit
Weisheit zu tun haben. Das Verrückte dabei ist, dass kaum eine dieser
Eigenschaften ein guter Indikator dafür ist, dass Sie wirklich bei diesem Weisheits-
Test gut abschneiden, also dass Sie, wie es in der Sprache der Psychologie heißt,
einen hohen Weisheits-Score haben. Das heißt, Weisheit ist eine Eigenschaft, die
sich aus vielen Komponenten zusammen setzt, und Sie können nicht einfach
Komponenten ausblenden. Sie müssen sozusagen an vielen Fronten arbeiten. Eines
der Ergebnisse der Psychologie ist eben, man kann Weisheit kultivieren. Aber Sie
haben mich ja nach den Eigenschaften gefragt, ich schweife immer ab.
Caspary:
Zum Kultivieren kommen wir nachher. Aber nochmal die Eigenschaften.
Scobel:
Also Fakten- und Problemlösungswissen zum Beispiel gehört dazu. Ich muss, um
weise entscheiden zu können, auch bei Ehefragen oder was auch immer, erst mal
wissen, was ist denn überhaupt Fakt, was ist passiert, wie sind die Zustände. Da
muss ich mich auskennen. Eine weitere wichtige Eigenschaft ist Kontextualismus,
das bedeutet die Fähigkeit, zeitliche und thematische Verbindungen zwischen
verschiedenen Lebensbereichen zu schaffen. Ich kann nicht einfach einen Aspekt,
dass die streitenden Eltern sich jetzt nicht prügeln, rausnehmen und nur den
behandeln und andere Aspekte, nämlich dass sie sich noch um die Kinder kümmern
müssen, dass sie beruflich Probleme haben, einfach ausblenden. Ich muss das
wirklich im Gesamtkontext sehen, sonst kann ich keine weisen Entscheidungen
treffen und mich weise verhalten. Ein anderer wichtiger Punkt ist, mit
Werterelativismus umgehen zu können. Das ist etwas, was Leute extrem
verunsichert und nervt: Der eine sagt so, der andere so, ja was soll ich denn jetzt
machen? In solchen Situationen neigen Menschen dazu, diese Ambivalenz der
Werte nicht aushalten zu wollen, sie zu verdrängen und sich dann lieber auf eine
Seite zu stellen, auch wenn sie wissen, im Grunde genommen ist das verfrüht und
nicht wirklich weise.
Zur Weisheit gehört die Emotionswahrnehmung. Ich muss merken, wie Sie nicht nur
kognitiv auf meine Vorschläge oder auf unser Gespräch reagieren, sondern was das
in Ihnen für Gefühle auslöst. Unter Umständen reden wir ganz abstrakt über Dinge
und ich merke gar nicht, dass Sie immer trauriger dabei werden.
Caspary:
Das ist nicht der Fall.
Scobel:
Im Gegenteil, Sie sehen sehr fröhlich aus. Das was ich meine hängt wiederum mit
dem Thema Empathie zusammen. Es ist interessant, dass das in den
Neurowissenschaften noch vor fünf Jahren ein absolutes Nicht-Thema war.
Inzwischen gibt es in Leipzig ein Max-Planck-Institut, das sich mit der Erforschung
von Empathie beschäftigt, die wiederum mit Meditation zu tun hat, und Meditation ist
in vielen Kulturen ein klassischer Königsweg zur Weisheit.
Perspektivwechsel ist auch ein Punkt, der mit Weisheit zu tun hat. Um wirklich weise
handeln zu können, muss ich mich gut in Sie hineinversetzen können. Ich muss die
Welt aus Ihrer Sicht sehen. Nehmen wir an, Sie haben Krebs und wissen, dass Sie
noch drei Monate leben können. Sollten Sie das Leben, das Sie jetzt führen, weiter
führen? Oder sollten Sie heute noch aufhören zu arbeiten und etwas völlig anderes
machen? Wenn man versucht, auf solche Fragen Antworten zu finden, ist es gut,
wenn man sich überlegt, wen in seinem Umfeld man für weise hält, für einen wirklich
guten Ratgeber? Und was würde diese Person einem raten? Wie würde diese
Person entscheiden? Das hängt mit diesem Perspektivwechsel zusammen. Das
muss man auch können.
Caspary:
Das alles könnte man doch subsumieren unter die gute alte Lebensklugheit, nur
übertragen auf moderne Zeiten, auf chaotische Systeme, auf Globalisierung, auf
Werterelativismus?
Scobel:
Ich könnte damit leben. Ich glaube, ehrlich gesagt, dass die Lebensklugheit von der
Geschichte her ein Begriff ist, der eher auf das rationalere planbare Element abhebt.
Das ist das, was mich vielleicht ein bisschen stören würde. Aber ich könnte gut damit
leben. Egal wie Sie es bezeichnen, Fakt ist, obwohl wir alle der Ansicht sind,
Weisheit ist etwas, was gut ist zu haben, spielt sie doch faktisch in unserem Leben
überhaupt keine Rolle; und Weisheit ist ein esoterischer Begriff für die meisten Leute.
Ich fürchte das ist mit Lebensklugheit nicht viel anders.
Caspary:
Unter einem weisen Menschen stellt man sich einen weißbärtigen 90-jährigen Mann
vor, der über allem thront und sich gelassen zurücklehnt.
Scobel:
Da ist auch etwas Wahres dran. Als Sie mich fragten, habe ich abstrakt mit den
komplexen Systemen angefangen. Das war mein Versuch, Weisheit komplett aus
der esoterischen Ecke heraus zu holen und zu zeigen, wie anschlussfähig Weisheit
an heutige, auch wissenschaftliche Diskussionen ist. Das zweite ist: der kluge alte
Mann. Ja stimmt, aber das, was Paul Baltes u. a. herausgefunden hat, ist, dass
Weisheit nichts ist, was automatisch mit zunehmendem Alter kommt. Sie kennen
doch einige ältere Leute. Überlegen Sie mal, wie viele von denen wirklich weise sind.
Baltes hat herausgefunden, dass die Eigenschaften, die zu Weisheit gehören,
ungefähr mit dem 25. Lebensjahr da sind. Warum mit 25? Das ist die Zeit nach der
Pubertät, in der der große Umbau des Gehirns erfolgt und abgeschlossen wird. Dann
haben Sie die grundlegenden Fähigkeiten. Und jetzt stellt sich die Frage, was
machen Sie damit. Das ist so wie mit Sport und Klavierspielen. Wenn Sie nicht üben,
verkümmert das.
Caspary:
Wie kann man das üben? Indem man meditiert? Sie hatten das vorhin
angesprochen: Meditation als Weg zur Weisheit?
Scobel:
Zum Beispiel. Man kann es üben, glaube ich, indem man die Eigenschaften versucht
zu stärken, die mit Weisheit zu tun haben. Man müsste zum Beispiel Gelassenheit
üben. Man müsste sich wirklich häufig in kniffligen Situationen im Beruflichen, im
Privatleben für einen Moment zurückziehen und sagen: „Okay, die nerven dich jetzt
vollständig. Versuche mal, die Welt und dein Verhalten von deren Seite aus zu
sehen.“ Der Dalai Lama gibt, und das finde ich wirklich eine gute Idee, den Hinweis:
„Pass auf! Wenn du Probleme mit denen hast, denke daran, die haben
wahrscheinlich die gleichen Probleme mit dir, die versuchen alle auf ihre Weise,
glücklich zu werden. Das Problem ist, dass wir alle auf ganz verschrobene Art und
Weise versuchen, glücklich zu werden. Also versuche mal herauszukriegen, wie die
sich ihr Glück vorstellen. Und dann kannst du ihnen vielleicht helfen, eine bessere
Vorstellung von Glück zu entwickeln und ihr kommt weiter.“
Caspary:
Ist Ihr Weisheitsbegriff auch eine Frontstellung gegenüber der heutigen Dominanz
von Kognition, von Wissensanhäufung, von Wissensverarbeitung,
Informationsverarbeitung?
Scobel:
Ja. Information hilft uns ja nicht wirklich weiter. Erstens, wir haben schon darüber
gesprochen: Sie können alle Informationen der Welt haben, Sie können sie bei
komplexen Situationen nicht unbedingt anwenden, Sie können nicht sagen, wie sich
dieses System in einem halben Jahr verhalten wird. Das zweite ist, die Dominanz der
Wissensgesellschaft verkennt die Notwendigkeit von Orientierung. Ich kann jederzeit
überall auf der Welt googlen und in Wikipedia alles Mögliche nachgucken, was ich
jetzt im Moment nicht weiß. Aber wie ich dieses Wissen ordne und was ich mit
diesem Wissen mache, das kann ich nicht googlen. Das müssen Sie wirklich durch
Erfahrung, durch eigene Überlegungen lernen. Im ganz klassischen herkömmlichen
Sinn; genau das ist Bildung.
Caspary:
Ich habe sowieso das Gefühl, das wir immer weniger wissen. Zum Beispiel im Bezug
auf die Finanz- oder Wirtschaftskrise. Ich frage immer im Bekanntenkreis und auch
Wirtschaftsredakteure: Blickt ihr da noch durch? Erklärt mir mal genau, was ein
Rettungsschirm ist. Das können die nicht. Ich will jetzt nicht die Kollegen
diskreditieren, aber es gibt ein Nichtwissen, das einfach da ist.
Scobel:
Ich rede auch gelegentlich mit Bankern, die sagen erst einmal: „Nein, nein, wir
wissen das, wir können das alles, wir kennen die Finanzmärkte.“ Und Sie müssen die
richtig löchern, bis sie irgendwann, wenn sie entspannt sind, sagen: „Ja okay, ich
gebe zu, das weiß ich auch nicht.“
Caspary:
Was macht Meditation mit dem Gehirn?
Scobel:
Kurz nachdem ich mein Buch geschrieben hatte, kam ein unglaublich langer
Übersichtsartikel in einer psychiatrischen Fachzeitschrift raus, der wirklich alles, was
es gab, sammelte und das reicht von Veränderung in der Hirnstruktur selber, so dass
Sie das anatomisch sehen können, wenn jemand seit langer Zeit meditiert. Das ist
aber auch nicht so verwunderlich, denn wenn Sie jetzt jeden Tag acht Stunden
Klavier spielen würden, würden sich die motorischen Zentren im Gehirn auch ändern.
Entscheidender sind solche Aspekte, dass Sie zum Beispiel auf das limbische
System, also das System, in dem die Emotionen verankert sind, also Angst
beispielsweise mit den Fluchtmechanismen usw., dass Sie auf dieses System durch
Meditation Einfluss nehmen können. Konkret: Es gibt im Gehirn den Mandelkern
(Amygdala), wenn der feuert, dann haben Sie Angst und dann zeigen Sie
Verhaltensweisen, die Sie zum Teil gar nicht mehr bewusst kontrollieren können.
Durch Meditation kann man lernen, die Amygdala herunter zu fahren. Sprich: Ich
reagiere etwas angstfreier, ich reagiere dadurch tatsächlich gelassener. Inzwischen
ist man wirklich erstaunt, welche Veränderungen Meditation bewirken kann. Obwohl
ich zuerst begrüßt habe, dass mehr Leute meditieren, und ich fände es auch klasse,
wenn das in Schulen beispielsweise gelernt wird, so wie autogenes Training auch,
befürchte ich, es wird jetzt einen gigantischen Meditationsboom geben, weil die
Neurowissenschaftler sagen, hey Leute, meditiert, das ist richtig gut, das führt zu
Veränderungen im Gehirn. Und darunter wird es dann einige Leute geben, die
anfangen zu meditieren, die gar nicht meditieren sollten. Wenn ich beispielsweise
eine Borderline-Störung habe, das heißt, ein großes Problem damit habe, mich
abzugrenzen von anderen und selber eine Identität aufzubauen, für diese Leute ist
Meditation geradezu gefährlich.
Caspary:
Meditieren Sie?
Scobel:
Ich mache das, seit ich 15 bin. Damals habe ich mich, eigentlich weil ich
Rückenschmerzen hatte, mit Yoga gefasst. Damals gab es die große Welle noch
nicht. Irgendwann habe ich gemerkt, ok, da gibt es nicht nur diese Körperübungen,
sondern da gibt es auch so etwas wie Meditation. Das gefiel mir aber überhaupt
nicht. Ich merkte, das ist nicht mein Ding. Irgendwann kam ich auf Zen-Buddhismus
und Zen-Meditation. Und im Grunde mache ich, seit ich dann 17 war, bis heute Zen-
Meditation.
Caspary:
Würden Sie sich als einen weisen Menschen bezeichnen?
Scobel:
Nein. Ich arbeite daran und sagen wir mal, gelegentlich gibt es lichte Momente, in
denen ich sage, okay, das war jetzt vielleicht sogar weise, was du da gemacht hast.
Aber ich bin weit davon entfernt, ein weiser Mensch zu sein. Ich hatte aber das
Glück, im Laufe meines Lebens mehrfach Leute kennenzulernen, von denen ich
sagen würde, die sind tatsächlich weise. Das waren in meinem Fall, ohne dass ich
das besonders propagieren will, Zen-Meister. Wobei mein Zen-Meister eine Zen-
Meisterin ist.
Scobel:
Ja. Sie können natürlich nicht Weisheit an sich lehren, genauso wie Sie Weisheit
nicht neurowissenschaftlich bestimmen können. Sie können immer nur bestimmte
Aspekte untersuchen. Aber was man machen kann, und das zeigen die Ergebnisse
von Projekten an englischen Schulen, man kann Kindern gut beibringen, ihre
positiven Gefühle zu verstärken und mit negativen Gefühlen besser umzugehen.
Wenn ich also in einer Klassenarbeit sitze und ich merke, mein Puls geht nach oben,
ich kriege richtig Beklemmung, vielleicht einen flauen Magen oder was auch immer,
dann habe ich gelernt, das sind Stress-Symptome. Wie kann ich mit Stress-
Symptomen umgehen? Zum Beispiel indem ich mich erstmal auf die Atmung
konzentriere. Das heißt, ich mache jetzt nicht gleich hektisch sofort weiter mit der
Klassenarbeit; das ist etwas, was ich zum Beispiel meinem Sohn sage: „Pass auf,
lehn dich lieber zurück. Du hast mehr davon, wenn du jetzt eine Minute
Atemübungen machst und dich dann wieder dransetzt, weil das den Stress reduziert
und du kannst viel klarer denken.“ Wenn ich Schmerzen habe, wenn ich Stress habe,
wenn ich Angst habe, kann ich nicht wirklich gut lernen.
Caspary:
Herr Scobel, Sie müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, jetzt springt der
Scobel auf den Zug auf, der durch die deutsche Gesellschaft fährt, Glück,
Weichspülung, wir entdecken die positiven Gefühle, wir entwickeln sie, kuscheln alle
zusammen und alles wird besser.
Scobel:
Sie haben recht, das sieht so aus. Der Verlag wollte auch ursprünglich, dass
irgendetwas mit Glück auftaucht auf dem Buch. Im Buch gibt es ja durchaus ein
Kapitel über Glück. Ich glaube, dass ich das nicht tue. Erstmal ganz subjektiv aus
meiner Biografie heraus, weil ich mich mit diesen Dinge beschäftigt habe lange,
bevor die Glückswelle da war. Ich bin glücklich über die Glücksforschung, weil die
mir gezeigt hat, dass es tatsächlich ein paar empirische harte Facts gibt, die mir
Einsichten an die Hand geben, wie Glück zustande kommt und wie Glück verhindert
wird. Da bin ich ehrlich gesagt ganz dankbar dafür. Und Stichwort Finanzen und
Politik: Ich wäre froh, wenn das mehr einsickert ins öffentliche Bewusstsein. Nicht im
Sinne von „jetzt kuscheln wir alle und jetzt sind wir ein bisschen esoterisch und
zünden Räucherkerzen an“ – so nicht. Aber im Sinne einer echten Alternative. Also:
Geht es darum, in einer Gesellschaft immer mehr Wachstum zu haben? Oder geht
es in einer Gesellschaft auch darum, glücklicher zu werden. Wenn ich mir diese
Frage ernsthaft stelle, werde ich zu anderen Handlungsmaximen kommen. Wenn
man mal ehrlich ist, ich glaube, wir beide haben nichts dagegen, wenn wir glücklicher
werden. Ich wünsche Ihnen jedenfalls und mir auch alles Gute dabei.
Caspary:
Gleichfalls, das muss ich wirklich sagen, da gibt’s überhaupt keine Frage. Danke für
das Gespräch, kommen Sie glücklich nach Hause.
Scobel:
Dankeschön.
*****