Gert Heidenreich: Immer schneller und immer schlechter - Turbogesellschaft

swr2-aula11-1heidenreich-turbogesellschaft

SWR2 Wissen:- Aula- 
Sendung am Sonntag, 02.01.2011, 08.30 bis 9.00 Uhr
Autor und Sprecher: Gert Heidenreich *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Alles, was wir machen, geschieht neuerdings im Turbogang: Wir wollen, dass unsere Kinder nach acht Jahren das Gymnasium hinter sich haben, dass sie in drei Jahren das BA-Studium beenden können. Wir wollen möglichst schnell und effizient arbeiten, um in der Freizeit möglichst viele Angebote zur Zerstreuung wahrnehmen zu können. Wir wollen irgendwie in möglichst kurzer Zeit alles - und was bleibt dabei auf der Strecke? Der Schriftsteller und Journalist Gert Heidenreich nimmt diese Entwicklung kritisch unter die Lupe.

* Zum Autor:
Gert Heidenreich, geb. 1944, lebt als freier Schriftsteller in Oberbayern. Er studierte alte und neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft, Soziologie und Philosophie und arbeitete als Theaterautor und als Journalist für mehrere Rundfunkanstalten und renommierte Zeitungen und Zeitschriften. Seit 1970 unternahm er weltweite (Lese-) Reisen, auch für das Goethe-Institut, die ihn u. a. nach Afrika, Ägypten, Island, Japan, USA, Russland, Usbekistan und Kirgistan führten. Außerdem ist er als Sprecher für Rundfunk, Fernsehen und Hörverlage tätig und Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Gert Heidenreich hat zahlreiche Preise erhalten, darunter den Adolf Grimme Preis.

Bücher (Auswahl):
- Das Fest der Fliegen. LangenMueller. 2009.
- Die Nacht der Händler. LangenMueller. 2009.
- Im Dunkel der Zeit. Kriminalroman. dtv. 2008

INHALT______________
Ansage:
Mit dem Thema: „Immer schneller und immer schlechter - die Turbo- und
Zerstreuungsgesellschaft“.

Alles, was wir machen, machen wir neuerdings im Turbogang. Unsere Kinder sollen nach acht Jahren das Gymnasium hinter sich lassen, nach drei Jahren das BA-Studium, wir wollen möglichst immer schnell vorankommen, der ICE ist das Symbol unserer Zeit. Wir haben wenig Zeit und wollen fortwährend Zeit sparen, damit wir die übrig bleibende Zeit mit Arbeit füllen können. Und um das Ganze durchhalten zu können, benötigen wir täglich ein gerüttelt Maß an Zerstreuung, damit ja keine Langeweile aufkommt, damit wir ja nicht die Leere spüren.
Diese kritische Position nimmt der Schriftsteller Gert Heidenreich ein. In der SWR2 Aula beleuchtet er die Schattenseiten der Turbogesellschaft und macht auf deren Gefahren für die Psyche aufmerksam:
Gert Heidenreich:
Jenen Augenblick werde ich nicht vergessen: Auf einer Reise durch die algerische Sahara stand ich eines Mittags weit ab von allen Pistenspuren und noch über hundert Kilometer von der großen Oasenstadt In Salah entfernt in einem kleinen Tal zwischen Dünen. Die Sonne senkrecht über mir, mein Schatten versammelt um meine Füße. Nichts als das leise Sirren der Hitze und das blendende Blau über den Graten der Sandberge. In der Erinnerung dehnt sich die Stille noch immer in mir aus und trägt mit sich das Gefühl, das ich damals hatte: Behütet zu sein und unbegrenzt Zeit zu haben. Es war die Erfahrung einer herrlichen Langeweile, und hier lange zu verweilen, war die Einladung der Wüste zur allmählichen Verfertigung meiner Gedanken.
Wochen zuvor war ich aus unserer Ablenkungsgesellschaft aufgebrochen, und einige Wochen später kehrte ich wieder in sie zurück. Dass die Zeit in der Wüste langsamer vergeht, als in unseren Städten, in denen wir unaufhörlich von Angeboten zur Beschäftigung unserer Sinne umschrien werden, ist eine Erfahrung, die viele Menschen gemacht haben.
Erstaunlich aber, dass sie auf den ersten Blick den Untersuchungen widerspricht, die in der Gehirnforschung angestellt wurden. Offenbar gibt es keine Zellen oder kein Areal in unserem Gehirn, wo die Zeit objektiv bestimmt wird. Vielmehr nehmen wir die Dauer eines messbaren Vorgangs je anders wahr, wenn wir uns während seines Verlaufs geistig mit ihm auseinandersetzen oder nicht: Je intensiver unser Denken dabei beschäftigt ist, um so länger erscheint uns der Vorgang. Je weniger er uns zu denken aufgibt, desto kürzer kommt dieselbe messbare Dauer uns vor. Hinzu kommt ein statistischer Faktor: die Zeitrelation. Ein Baby, das einen Tag alt ist und sechzig Minuten auf seine Mutter warten muss, wartet dabei etwa vier Prozent seines Lebens. Schon für einen Zehnjährigen beträgt dieselbe Zeitspanne, bezogen auf sein Leben, nur noch ein Tausendstel Prozent. In der Lebensmitte spielt diese Rechnung kaum eine Rolle mehr, erst gegen Ende tritt eine neue Relation zum absehbaren Rest unserer Zeit ein.
Man könnte solchen Untersuchungen zufolge annehmen, dass die Vielzahl von wechselnden Angeboten in den Straßen einer Stadt unser Denken kräftig anregt, darum
die gefühlte, uns subjektiv zur Verfügung stehende Zeit verlängert - und im Gegenschluss, dass wegen der geringen Menge unterschiedlicher Eindrücke in der Wüste uns die Zeit rasch verfliegt.
Und doch verhält es sich zweifellos umgekehrt. Die Zeit in der Wüste kommt uns besonders lang vor, in Einsamkeit und Stille hat sie eine beruhigende Dauer: Das legt nahe, dass wir angesichts des eher kargen Angebots an landschaftlicher Variation geistig besonders rege sind. Wofür auch die bedeutsame Rolle der Wüsten für die Gründung von Religionen spricht. Die Intensität unseres Denkens in Bezug auf unser Zeitgefühl verhält sich anscheinend umgekehrt proportional zur Menge der auf uns eindringenden Sinneseindrücke.
Nun ist die Wüste nicht unser alltäglicher Lebensraum. Wie wir im gebauten Raum der Städte den Verlauf der Zeit empfinden, muss uns mehr beschäftigen:
Dass uns die Zeit so schnell zu verrinnen scheint; dass wir uns oft gehetzt fühlen, deutet nach den Gehirnforschungen zu unserem Zeitempfinden darauf hin, dass wir gedanklich nicht gefordert sind, dass wir uns mit der Kette der Augenblicke nicht denkend auseinandersetzen, dass wir einigermaßen geistlos durch den Tag treiben, obwohl die Angebote zur Wahrnehmung bildlicher Eindrücke und akustischer Signale in den städtischen Kulissen und häuslichen Medienausstattungen so zahlreich sind wie nie zuvor.
Zum Denken regen sie offenbar nicht an, ja sie scheinen das Denken sogar zu verhindern, sonst müssten wir ein anderes Zeitgefühl haben, die Fülle der Signale müsste uns eine Fülle der Minuten bescheren. In Wirklichkeit aber scheint unsere Zeit knapp wie nie zu sein. Als fortschrittlich sehen wir Erfindungen an, die Zeit sparen oder zumindest vorgeben, es zu tun. Sie versprechen Freizeit oder erhöhte Effektivität und reden uns ein, Zeitverschwender zu sein. Wer sich vor solcher Propaganda nicht bewahrt, läuft Gefahr, ausschließlich in zwei Zuständen zu leben: gehetzt und erschöpft.
Als Erlöser aus diesem Teufelskreis bieten sich Helfer an: Zeitmanagement mit der verführerischen Formel Simplify Your Life und die Parallelisierung von Handlungen, so dass wir uns ständig im Multitasking vervollkommnen, beim Aktenlesen essen und Emails beantworten und beim Telefonieren Auto fahren und Radio hören. Kommen wir dann zur Ruhe, meldet sich ein Zeitgenosse, dem sich allmählich die ganze Kulturindustrie unterworfen hat: der Zeitvertreib. Unter der Illusion, dass er uns vom Stress befreit, hat er es auf das letzte Stück unserer Zeit abgesehen, das noch nicht Termin heißt, und wir geben es ihm gern. Sein Geheimnis ist die Ablenkung von uns selbst.
In unserer Erlebnisgesellschaft, die den Zeitvertreib zur raffiniertesten aller öffentlichen Künste erhoben hat, hat sich eine Falle aufgetan: Wir scheinen zu vergessen, dass es unsere Lebenszeit ist, die da im Wortsinn vertrieben wird - und dass wir dies selbst wünschen und wollen. Die Kunst der Kurzweiligkeit und des Amüsements ist darum erfolgreich wie keine andere.
Wie kam es so weit? Hierzu müssen wir ins Gegenteil blicken: In die Langeweile, den Ennui, den horror vacui.
Die abendländische Philosophie hat sich seit Beginn der Entdeckung des Menschen als Individuum mit seiner Langeweile befasst, und spätestens seit dem 17. Jahrhundert, seit Blaise Pascal, hat das Thema regelrecht Konjunktur. Für Pascal, der uns Menschen ja in elender Lage sah, hat die Überwindung der unerträglichen Langeweile schreckliche Folgen: „Das einzige, das uns über unser Elend hinwegtröstet, sind die Zerstreuungen. Und doch sind sie unser größtes Elend. Denn gerade sie sind das Haupthindernis, wenn wir über uns selbst nachdenken wollen. Sie stürzen uns unmerklich ins Verderben.“
Pascal hat damit ein Dilemma konstatiert, dem zu entrinnen ohne das Wunder der göttlichen Erlösung unmöglich ist. Immanuel Kant, der gegen den Horror vacui ausdrücklich weltliche Vergnügungen wie das Tabakrauchen, das Reisen oder das Lesen von Liebesromanen empfahl, hatte vor der Langeweile offenbar mehr Angst als vor ihren Gegenmitteln, während Schopenhauer, dem „das Leben unseres Leibes nur ein fortdauernd gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod“ war, auch in der „Regsamkeit unseres Geistes“ nichts sah als „eine fortdauernd zurückgeschobene Langeweile“.
Wir sehen: Sowohl die Langeweile wie auch die Methoden ihrer Bekämpfung waren Jahrhunderte vor der Erfindung des Fernsehens beliebte Gegenstände der Spekulation. Mit dem zwanzigsten Jahrhundert nimmt sich auch der Roman des Themas an und urteilt gelegentlich nicht weniger scharf als die misanthropischen Philosophen.
„Was ist alles, was wir tun, anderes, als eine nervöse Angst, nichts zu sein: von den Vergnügungen angefangen, die keine sind, sondern nur noch ein Lärm, ein anfeuerndes Geschnatter, um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewissheit mahnt, dass endlich sie uns totschlagen wird.“
So räsoniert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften, während Thomas Mann intuitiv die Ergebnisse der neueren Gehirnforschung in Bezug auf unsere Zeitwahrnehmung vorwegnimmt, wenn er im Zauberberg schreibt: „Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen.“
Der horror vacui, der Schrecken vor der Leere in uns und dem Gefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Daseins, war mithin ein Problem der Dekadenz in jenen Kreisen der Gesellschaft, die Zeit hatten, sich zu fragen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten. Ihr Hedonismus lenkte ab von den sittlichen, ethischen und politischen Fragen, die ein solches Verhalten in der Gesellschaft aufwirft.
Das späte Rom ist dafür - jedenfalls in der kritischen Nachbetrachtung im achtzehnten Jahrhundert durch Montesquieu - der Musterfall eines Volkes, das aufgrund seiner aufgeblähten Herrschaft der Dekadenz verfällt, seine gemeinschaftlichen
Grundüberzeugungen, den ésprit général, aufgibt und immer stärkere Mittel der Abschweifung, immer ausgefallenere Vergnügungen und Belustigungen braucht, um der Langeweile zu entkommen. Die Römer stehen dabei nicht allein als Hedonisten da, die starker äußerer Reize bedürfen, um sich selbst noch zu empfinden. Sie stehen paradigmatisch für eine Tendenz zu Genusssucht und Verzärtelung, die schon in der griechischen Antike, bei den Sybariten, konstatiert wurde, von denen, wenn auch kaum mehr gebräuchlich, bis heute die Beschimpfung Sybarit überlebt hat.
Im Europa der Gegenwart gibt es kein dekadentes Großreich. Die europäischen Demokratien scheinen gefestigt zu sein, die Bedürfnisse, einander zu beherrschen, sind minimal - oder zumindest perfekt camoufliert. Die öffentliche Völlerei der Milliardäre hält sich in Grenzen. Allerdings spreizt sich die Schere zwischen Arm und Reich seit langem bedenklich weit, wenn auch unsere Grundversorgung und Lebenssicherheit so hoch sind wie nie zuvor in der Geschichte unseres Kontinents. Einige untrügliche Zeichen deuten jedoch auf einen Zerfall der Gesellschaft und eine tiefe Erschöpfung in öffentlichen Dingen. Das gelangweilte Hinnehmen der Freiheit als einer Selbstverständlichkeit, die sie nie war und nicht ist und nie sein wird; die damit verbundene Politikmüdigkeit und der Rückzug auf private Belange, der Eskapismus und die immer wieder bemängelte soziale Kälte sind Signale der Dekadenz - wenn auch noch keine Alarmzeichen.
Alarmierend ist die Abspaltung der Geldhändler von der übrigen Gesellschaft: Die Arroganz von Bankern und Spekulanten, mit der sie sich der Verantwortung für das von ihnen angerichtete weltweite Finanzdesaster entzogen haben und entziehen, die Selbstbedienungsmentalität von Spitzenversagern und die freche Ignoranz, mit der sie über die Schicksale von Einzelnen und Staaten hinweg schwadronieren, zeigt, dass sich diese entsittlichte Spezies als eigene Klasse begreift, die den Gesetzen bürgerlichen Lebens nicht unterworfen sei.
Sie haben das Selbstverständnis von Oligarchen, denen nichts besseres passieren kann, als dass wir, die von ihnen bestohlen wurden, uns mit tapferem Konsum gegen die Krise wehren und uns mit einem Apparat von Vergnügungen und Zerstreuungen betäuben, der als Ventil für den Volkszorn noch ausreicht.
Die Raubritter, die uns ungestraft und mithilfe unserer eigenen, von ihnen angeheizten Gier nach Renditen in den Schuldenabgrund gestoßen haben, können ihren Hedonismus ausleben, indem sie auf unsere Bereitschaft spekulieren, uns durch die Ablenkungsindustrie ruhig stellen zu lassen.
Zu dem ökonomischen Missstand, den eine Klasse von Vabanque-Hasardeuren zu verantworten hat, gesellt sich der Unmut über die politische Klasse, die ihre Glaubwürdigkeit nahezu vollständig verspielt hat. Zu viele Wendehälse und Windmäntelchen, zu viele falsche Versprechen und hochtönende Floskeln, zu viele halbe Wahrheiten und ganze Lügen. Zuerst verschwindet das Vertrauen in die Politik, dann der Nachwuchs für die Politik - wer will schon noch in ein Gewerbe eintreten, das derart in Verruf steht. In der Folge wächst der Anteil derer in den politischen Ämtern, die
bei geringer Qualifikation mehr den persönlichen Vorteil als das Allgemeinwohl im Blick haben.
Der schädliche Synergieeffekt dieser Anzeichen ist der Verfall des ésprit général in einem Europa, in dem partikulare Egoismen die Oberhand gewinnen.
Vorreiter der Dekadenz ist wieder einmal Italien, das uns zeigt, wie man den eigenen Niedergang genießen kann: Einen Gauner wie Berlusconi und seine Lakaien an der Macht zu halten - das lässt sich nur mit dem Bedürfnis nach Unterhaltung erklären, dem der römische Lächerling gern entspricht. Brot und Spiele - er hat die Spiele, die Medien also, in der Hand und sorgt mit seiner bedenkenlosen Amoralität dafür, dass Langeweile nicht aufkommen kann.
Belustigung, Empörung, Aufregung - fassungslos sieht die Welt zu, wie sich eine Wiege des Abendlands zum Gespött macht. Wenn die Selbstachtung derart zerstört ist wie in der gegenwärtigen italienischen Gesellschaft, ist Zerstreuung das letzte Mittel, um sich selbst noch zu ertragen. Wer nicht mehr in den Spiegel sehen mag, greift nach jeder Ablenkung von sich selbst.
Und doch geschah jüngst mitten im italienischen Kollektivmasochismus das Wunder, dass in einem Fernsehsender, nämlich dem Minderheitenprogramm rai tre, die ungeschminkte Wahrheit über das Land, die Verbitterung vieler junger Bürger ein Forum erhielten. Der Mafia-Enthüller Roberto Saviano und der Fernsehjournalist Fabio Fazio haben in einer dokumentarischen Talkshow mit dem Titel Vieni via con me - auf deutsch etwa Komm, lass uns weggehen - zusammen mit Studiogästen das italienische Elend in einer Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, die niemand erwarten konnte.
Ein Wunder, dass die Sendungen gegen alle Zensurwiderstände ausgestrahlt wurden. Das größere Wunder: Saviano und Fazio brachen mit ihrem bildlich unaufwendigen, ja geradezu karg ausgestatteten Fernsehformat alle Publikumsrekorde. Bis zu elf Millionen Zuschauer, 34 % davon jünger als 35 Jahre, 57 % Akademiker; dazu 13,5 Millionen Aufrufe der Internetseite des Programms. „In dieser Sendung wird ein Volk gebeten, innezuhalten, in sich zu schauen“, charakterisierte der Zürcher Tagesanzeiger.
Hochachtung gebietet nicht nur die Beharrlichkeit, mit der die beiden Journalisten ihre Sendungen gegen massive Unterdrückungsversuche durchgesetzt haben. Bedeutsamer noch als die kluge Nutzung des Massenmediums ist das Zeichen, das sie gesetzt haben und das weit über Rom hinaus leuchtet: Berlusconi hat sich noch nicht ganz Italien einverleibt; es gibt noch ein paar Gräten in seinem Hals. Sein zynisches Spaßprogramm fürs Volk zieht nicht mehr. „Vado via perché preferisco i paesi dove ci si può annoiare“, sagte Fabio Fazio: „Ich gehe, weil ich Länder bevorzuge, in denen man sich langweilen kann.“
An diesem ermutigenden Medienereignis lässt sich beispielhaft ablesen, wo die Grenzen der Ablenkungsgesellschaft liegen: Wenn Menschen mit einer Aura von Wahrhaftigkeit und Mut, wie sie Roberto Saviano umgibt, öffentlich verlangen, dass wir
uns als autonom denkende Wesen ernst nehmen und die Folgen unserer Selbstpreisgabe ans Amüsiergewerbe erkennen, dann kann das wie eine Erweckung wirken.
Nun ist Italien, selbst wenn Frankreich mit Sarkozy durchaus nacheifernd konkurriert, ein Sonderfall. Die Problemkonturen sind hier scharf gezeichnet, während sie in Ländern wie dem unseren noch verschwimmen. Nördlich der Alpen haben wir bei gemäßigtem Temperament generell nicht ganz so viel Vergnügen an unseren Staatslenkern, seit Franz J. Strauß nicht mehr den großen bösen, listigen und cholerischen Zampano gibt. Was nach ihm kam, produzierte zwar viel unfreiwilligen Humor, hatte aber kein Zirkusformat mehr.
Hierzulande müssen Belustigung und Zeitvertreib in der Kulturindustrie nicht verordnet und durch willfährige Vollzieher gesichert werden: In schöner Freiwilligkeit, die in diesem Fall vielleicht schlimmer ist, als es politische Bevormundung wäre, hat sich ein Trend zum Amüsement, zu Event, Kick und Belustigungszwang durchgesetzt, dessen Parallelität zu der vorhin beschriebenen Arroganz der Geldhändler und der Unglaubwürdigkeit der Legislative samt ihren Institutionen zumindest auffällig ist.
Wer dies kritisch anmerkt, gilt leicht als Miesmacher und Spielverderber, als Nöckergreis und unverbesserlicher Kulturpessimist. Auch diese Zuordnung gehört zu den Tricks der Zeitvertreibgesellschaft, denn nichts schützt sie besser, als ihre Kritiker mit negativen Anhaftungen zu versehen.
Es gibt aber Spiele, deren Verderber zu sein, sinnvoll ist, weil sie nicht dem zweckfreien Vergnügen des Menschen dienen, sondern der öffentlichen Augenwischerei. Am leichtesten zu durchschauen: das Fortschrittsspiel, das uns ein besseres Leben verspricht. Die Deutsche Bahn ist Meister dieser Magie und hört nicht gern, wenn jemand es nicht für erstrebenswert hält, Milliarden auszugeben, um einen Gewinn von zwanzig Minuten zu erzielen. Sie tut so, als beschenke sie uns mit Lebenszeit, während wir längst darauf programmiert sind, die eingesparten 1200 Sekunden mit einer Verdichtung des Terminkalenders zu kompensieren. So verkehrt sich Zeitgewinn in Stress. Dafür auch noch Steuergelder aufzuwenden, hat etwas von Alltagswahnsinn.
In den Broschüren der Bahn sehen wir Menschen, denen das Rasen zwischen Betonwänden bei gleichzeitiger unfreiwilliger Teilnahme an dreißig Mobiltelefonaten ein strahlendes Lächeln aufs Gesicht zaubert. Die Botschaft: Unser Dasein ist Heiterkeit. Ein Chor von Bioproduzenten, Autoherstellern und Medikamentenerzeugern hält den vorwiegend unerfreulichen täglichen Nachrichten unverdrossen die schiere Lebensfreude entgegen. Die virtuelle Werbewelt, in der aus einsichtigen Gründen an jedes Produkt eine Glücksverheißung geklebt wird, hat sich mit der realen Welt der Erfahrung derart intim vermengt, dass es konzentrierter kritischer Aufmerksamkeit bedarf, nicht selbst in dies Spiegelkabinett hinein gezogen zu werden. Der Eintritt liegt aber möglicherweise schon hinter uns.
Ästhetische Muster der Fernsehwerbung springen auf die Bildgestaltung von Spielfilmen über, digitale Zaubertricks aus Spielfilmen auf Werbespots. Beide Welten sind nicht nur ökonomisch eine einzige geworden.
Das Heiterkeitsdiktat der Werbung färbt auf Fernsehprogramme ab, und Knalleffekte der Filmindustrie finden sich in den Werbespots des Fernsehens wieder. Einer eifert dem anderen nach und versucht, ihn zu übertreffen.
Diese Prozesse waren seit Jahrzehnten absehbar und wurden von Medienanalytikern präzise vorhergesagt. Inzwischen sind das Worldwide Web und zahllose Computerspiele hinzu gekommen und haben wiederum bei Kino, Fernsehen und Werbung Anleihen genommen. Noch hängen die meisten Websites stilistisch in den fünfziger Jahren fest und sind Computerspiele überwiegend auf dem Stand des einstigen Zeichentrickfilms, doch das ist nur eine Frage von Zeit und Datengeschwindigkeit.
Wir werden in nächster Zukunft eine auf Multimediabildschirmen zusammengeführte interaktive Datenwelt aus Film, Internet, Computerspielen, Heimarbeit, privater Kommunikation, Werbung und Fernsehprogrammen bekommen, ganz ähnlich der, die Ray Bradbury 1953 in seinem Science-Fiction-Roman Fahrenheit 451 beschrieben und François Truffaut 1966 verfilmt hat: Eine Dystopie, in der der Alltag von infantilem Fernsehamüsement beherrscht wird.
Möglicherweise hat Bradbury seiner negativen Utopie am Ende durch die tröstliche Gegenwelt von Bücherliebhabern, die während ihres einfachen Lebens in Wäldern ganze Romane auswendig lernen, nur deshalb aufgeholfen, weil er die Radikalität seiner Vision ohne einen letzten ästhetischen und ethischen Widerstand nicht aushielt.
Längst aber haben die Reize der Oberfläche sich auch in der Belletristik siegreich ausgebreitet. Nicht dass die grenzenlose Kunst des Erzählens schon verkümmert wäre: Doch wenn heutzutage über vierzig Prozent der Menschen, die noch Romane kaufen, Krimis, Fantasy, Vampirgeschichten und Humor verlangen, dann haben sich Fernsehwelt und Kinowelt bereits im Buchhandel gespiegelt. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf die belletristischen Programme der Verlage, die wiederum Autorinnen und Autoren zumindest nachdenklich werden lassen.
Dass es sich nur um Moden handelt, ist seit der nicht bloß wirtschaftlichen, sondern auch medialen Interdependenz in der Kulturindustrie nicht mehr vernünftig anzunehmen. Vielmehr befinden wir uns in einem kulturellen Paradigmenwechsel. Die Gestalt unserer realen Lebenswelt folgt den Erwartungen, die wir aus den Medien aufgenommen haben. Was früher Veranstaltung war, muss jetzt Event sein und Gala; Jugendliche tauchen auf Buchmessen in Manga- und Vampirkostümen auf, kommen zu Tolkien-Lesungen im Pseudomittelalterlook der Herr-der-Ringe-Filme; historische und populärwissenschaftliche Dokumentationen werden ohne die oft unfreiwillig amüsanten Spielszenen, sogenanntes Reenactment, kaum mehr produziert; die Kommentartexter
stehen unter dem Zwang, voraussetzungslos zu schreiben, was heißt: dem Publikum keinerlei Allgemeinbildung zuzutrauen.
Die Einschaltquote diktiert alles: Sendezeit, Vorankündigung, Werbung, Ansehen innerhalb und außerhalb der Redaktionen. Was einst Programmverantwortung von Journalisten war, die dies für gut und jenes für schlecht hielten, ist unter der Quote verschwunden. Hinter nichts kann man die eigene Einfalt so gut verstecken wie hinter der angeblich objektiven Statistik. Die Einschaltzahlen sagen jedoch nichts aus über Wirkung und Fortwirkung von Sendungen, nichts über den Geisteszustand der Zuschauer, sie belegen häufig nur den Erfolg des schlechten Geschmacks. Das öffentlich-rechtliche Radio hält als letztes subversives Medium in Wortprogrammen dagegen. Die erfolgreichsten Fernsehabende gehören dem Kriminalfilm und den Kitschorgien mit Pseudo-Volksmusik, die offenbar von Millionen als kurzweilig empfunden werden. Sie dienen dem Zeitvertreib und der Zerstreuung einer Gesellschaft, die, selbst wenn sie es wollte, ihre sozialen Probleme vor lauter Schulden auf absehbare Zeit nicht einmal ansatzweise lösen kann und darum unter den Teppich kehrt. So lange, bis er brennt. Und dass er brennen wird, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Noch sucht sich der Wutbürger bestimmte Anlässe, noch geht es um Umwelt oder Geld. Darunter aber wächst ein diffuser Zorn auf den Allgemeinzustand, der von keiner Unterhaltungsindustrie gezähmt werden kann. Wer in einer solchen Gesellschaft nicht an Dekadenz denkt, denkt nicht.
Man schreibt die Verantwortung an dieser Lage gern dem allgegenwärtigen Fernsehen zu. Es ist ja tatsächlich die entscheidende Erfindung des vergangenen Jahrtausends gegen die Langeweile, die es vertreiben, wie auch produzieren kann. Weil es auch im ausgeschalteten Zustand und bei schwarzem Bildschirm immer als Möglichkeit anwesend ist, ist es ständig in uns vorhanden.
Doch das Fernsehen ist nichts als ein Instrument. Man kann es für kindische Ablenkung oder Staatspropaganda ebenso gebrauchen wie für die Hinlenkung des Menschen zu sich selbst, für Bildung und Kunstgenuss ebenso wie für die Beförderung der Dummheit und Löschung des Bewusstseins.
Wir sind es, die über die Nutzung entscheiden, wir wählen die Vertreibung der Zeit oder den Zuwachs an Lebenseinsicht. Die Angebote sind vorhanden, etwa bei 3sat und arte, und sie sind durchaus kurzweilig.
Der Hinwendung zu uns selbst, der Selbstachtung Priorität zu geben, ist für niemanden leicht - schon gar nicht in einer Gesellschaft, die ständig bemüht ist, neue Ablenkungen zu erfinden und sie in multimedialen Geräten zusammenzubasteln.
Halten wir uns unabgelenkt überhaupt noch aus? Wer in seinem Straßentelefon zugleich einen Fotoapparat, eine Videokamera, einen Internetzugang mit facebook und twitter, email, SMS, MMS, Computerspiele und einen ganzen Kaufladen von Klingeltönen mit
sich herumträgt, kann diese erstaunliche Erfindung zwar durchaus sinnvoll nutzen - er kann sich aber auch im Angebot tausender Abschweifungen verlieren, ja ihnen verfallen. Weil die Erlebnisgesellschaft Spaß haben will, sofort und in der Tasche, kann die Zeitvertreibindustrie zum Zweck ihres wirtschaftlichen Erfolgs den kritischen Gebrauch ihrer Einrichtungen verhindern. Sie braucht keine autonomen Menschen, sondern Dauerkonsumenten ohne Bewusstsein. Wir, die so genannten Nutzer, sollten lernen, diesem permanenten Übervorteilungsprozess standzuhalten.
Die Frage ist, ob wir das wollen und ob wir es noch können. Wie selbstverständlich genießen wir den gepriesenen allumfassenden Service, die vielfältigen Navigationshilfen - nicht nur zur Adressenfindung, sondern in jeder Hinsicht: zur Lebensorientierung, Wissensspeicherung, Kommunikation. Ob aber das Wort Freundschaft bei facebook noch Freundschaft bedeutet, ob Nachrichten in der twitter-Welt vertrauenswürdig sind, ob die lexikalischen Auskünfte von wikipedia der Wahrheit entsprechen, entzieht sich weitgehend unserer Beurteilung. Unterhaltsam ist es jedenfalls, sich in diesen Welten treiben zu lassen - vergnüglicher als in der Realität, die man sich wenigstens akustisch via mp3-player und Knopf im Ohr verschönern kann...
Das Problem der Langeweile haben wir wahrlich gelöst. Nicht gelöst haben wir die Probleme, die durch die Beseitigung der Langeweile entstanden sind. Ein gewisser Karl Gottlieb Windisch hat einst noch geglaubt, mit kurzweiligen Traktaten und Geschichten die Menschen zu Sitte und Anstand erziehen zu können, und seiner Zeitschrift den optimistischen Titel verliehen: Der vernünftige Zeitvertreiber. Aber das war 1770. Wir sind heute vielleicht näher an einer Utopie, wie sie der satirische amerikanische Spielfilm Idiocracy (Herrschaft der Idioten) aus dem Jahr 2006 schildert: die Vereinigten Staaten im Zustand totaler Verblödung, wo ein Kinohit den Oscar für das beste Drehbuch bekommt, in dem neunzig Minuten lang ein menschliches Gesäß gezeigt wird, und wo ein mit entsetzlicher Dummheit geschlagener einstiger Wrestler und Pornostar ins Präsidentenamt aufgestiegen ist.
Der Film war sehr amüsant und - ein Flop. Kritiker meinten, er hätte einen zu deutlichen Beigeschmack von Wahrheit...

Gert Heidenreich: Das Netz, das Glück, die Beziehung – Die Gesellschaft und das Internet

SWR2 Aula -  Autor: Gert Heidenreich *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 1. April 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
___________________________________________________________________
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zum Autor:
Gert Heidenreich, geb. 1944, lebt als freier Schriftsteller in Oberbayern. Er studierte alte und neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft, Soziologie und Philosophie und arbeitete als Theaterautor und als Journalist für mehrere Rundfunkanstalten und renommierte Zeitungen und Zeitschriften. Seit 1970 unternahm er weltweite (Lese-) Reisen, auch für das Goethe-Institut, die ihn u. a. nach Afrika, Ägypten, Island, Japan, USA, Russland, Usbekistan und Kirgistan führten. Außerdem ist er als Sprecher für Rundfunk, Fernsehen und Hörverlage tätig und Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Gert Heidenreich hat zahlreiche Preise erhalten, darunter den Adolf Grimme Preis.
Bücher (Auswahl):
- Mein ist der Tod. LangenMueller. März 2012.
- Das Fest der Fliegen. LangenMueller. 2009.
- Die Nacht der Händler. LangenMueller. 2009.
- Im Dunkel der Zeit. Kriminalroman. dtv. 2008.
- Mein ist der Tod". Kriminalroman. LangenMüller. 2012

ÜBERBLICK
Kunstaktion Netzwerk in StuttgartDas Netz ist die zentrale Metapher der vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen wir gelernt haben, uns als verknüpfte Wesen und die Welt als Flechtwerk einander überlagernder Handels- und Kommunikationsnetze zu sehen. Wir denken und leben im Netz. Wer vernetzt ist, hat gute Beziehungen in die Höhe und Breite der Gesellschaft. Der Schriftsteller Gert Heidenreich nimmt das Netz unter die Lupe und zeigt, warum es die Gesellschaft und das Miteinander nicht nur voran bringt.

INHALT
Ansage
Mit dem Thema: „Das Netz, das Glück, die Beziehung – Gesellschaft und Internet“.
Das Netz ist die zentrale Metapher für unsere Gegenwart und unsere Gesellschaft. Wir denken und leben im Netz, wer vernetzt ist via Facebook, hat viele Freunde und viel Kommunikation, wer twittert, schafft sich einen sozialen Resonanzraum, wer zu wenig weiß, behebt das Defizit mit Wikipedia. Das Netz ist alles, und genau das ist unser Problem.
Das sagt der Schriftsteller Gert Heidenreich; für ihn ist das Netz schön und gut, allerdings bleibt bei der ganzen Netzeuphorie eines auf der Strecke, die Frage nach der Bildung. Dazu jetzt die SWR2 Aula von Gert Heidenreich.
Gert Heidenreich:
Manchmal ist es nicht falsch, auf sehr alte Geschichten zurückzugreifen, wenn man versucht, sich die Gegenwart und ihre mögliche Zukunft zu erklären. Da gibt es ein Ereignis im Alten Testament, in dem vordergründig von Gold und Sünde, eigentlich jedoch von der Ungeduld die Rede ist.
Da riss alles Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von ihren Händen und bildete das Gold in einer Form und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat!
Mögen die Parallelen zur zügellosen Geldgier unserer Jahre, die in die allenthalben bedauerte Krise geführt hat, auf der Hand liegen, wenn man liest, wie das Volk dem goldenen Götzen das Kostbarste opfert, was es hat: seine Hoffnung. Eine mindestens ebenso bedenkenswerte Botschaft des Textes aber liegt in der unmittelbaren Vorgeschichte des Tanzes ums Goldene Kalb, nämlich in der Herleitung des Sündenfalls. Im 2. Mose, Exodus, 32, heißt es: Als aber das Volk sah, dass Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berg zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mache uns einen Gott, der vor uns her geht.
Einfach gesagt: Sie konnten nicht abwarten, bis Moses mit den Gesetzestafeln unterm Arm wiederkehrte. Sie wollten die Erlösung jetzt und sofort. Was daraus wurde, ist bekannt: Moses zerbricht die Gesetzestafeln, Gott muss neue schreiben und in zähen Verhandlungen davon abgebracht werden, am Volk der Israeliten seinen Zorn auszulassen. Der Tanz ums Goldene Kalb ist zur kritischen Metapher für die Verabsolutierung materieller Werte geworden. Wovor die Geschichte warnt, ist aber mehr als nur die Verherrlichung des Mammon. Sie handelt von Menschen, die nicht genug Vorstellungsvermögen und nicht genug Geduld haben, um sich auf die Gesetze, sprich: die nötigen Regeln einer für alle bekömmlichen Gesellschaft einzulassen. Ihr Problem ist, dass sie nicht verstehen, was auf ihrem Exodus eigentlich vorgeht; dass sie auf den ungeheuren Wandel, der ihnen durch die Zehn
Gebote bevorsteht, nicht vorbereitet sind. Diese Leute haben offensichtlich ein Bildungsproblem, das lebensgefährlich ist. Sie haben nicht gelernt, die eigene Lage kritisch zu reflektieren und daraus sinnvolle, das heißt verantwortbare Folgerungen abzuleiten. Stattdessen wenden sie sich zurück und unterwerfen sich einem selbst geschaffenen Götzen.
Sie merken, wohin uns dieser kleine exegetische Ausflug führt: In unsere Gegenwart und ihre Götzen. Einiges spricht dafür, dass wir das Vorspiel einer ebenso ungeheuerlichen Veränderung erleben, wie sie damals den Israeliten widerfuhr, und dass wir auf die gewaltigen Verwerfungen und Verschiebungen in den Weltgewichten, auf den Verlust sicher geglaubter Vereinbarungen und den möglichen Gewinn neuer Perspektiven geistig und seelisch ebenso schlecht vorbereitet sind, wie es damals das Volk war, das in eine ungewisse Zukunft ging.
Das klingt kulturpessimistisch, aber wenn ich eine Hoffnung in unserer Lage habe, dann ist es die Fähigkeit des Menschen zur Kultur, die Kraft der Kultur für die Erhaltung der Zivilisation. Ich bin ein Kulturoptimist bis an die Grenze der Fahrlässigkeit. Zugespitzt: Ich setze auf den Kern jeder Kultur seit der Aufklärung: auf Bildung. Und schon stellt sich die Frage: Welche Bildung, welche Inhalte, wie gewertet, wie vermittelt, mit welchem Ziel oder gar Zweck? Keine pädagogische Antwort aus den fünfziger, siebziger oder neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts scheint mehr zu passen. Vielleicht muss man auch hier noch sehr viel weiter zurück greifen.
Glücklicherweise haben wir das Netz. Es wird uns schon sagen, ob vielleicht Aristoteles klüger war, als wir es zurzeit sind. Das Netz ist die zentrale Metapher der vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen wir gelernt haben, uns als verknüpfte Wesen und die Welt als Flechtwerk einander überlagernder Handels- und Kommunikationsnetze zu sehen. Wir denken Netz. Wir leben Netz. Wir haben Netzwerke und Netzagenturen, sprechen von neuronalen und mobilen Netzen. Die Bordcomputer unserer Autos werden zum Zweck der Unfallvermeidung miteinander vernetzbar, und die Waffenindustrie arbeitet an tödlichen Drohnen, die als Schwarm über das Ziel herfallen und sich wechselseitig so informieren, dass jede weiß, welche Zerstörungsaufgabe die andere schon erledigt hat.
Das Netz trägt und fängt, es informiert und kontrolliert, späht aus und verleiht Macht, es definiert menschliche Existenz oder versucht es zumindest: Wer keine Netzadresse hat, scheint nicht in der Welt zu sein, wer sein Gesicht nicht an facebook verkauft und nicht dem niedlichen Twittervögelchen seinen banalsten Alltag als Tweet anvertraut, gerät in Verweigerungsverdacht. Das Netz erklärt Nichtnutzer zu Nichtsnutzen. Andererseits: Was wüssten wir ohne Twitter über den Aufstand der Syrer gegen den Massenmörder an der Spitze ihres Staates?
Das Netz ist unschuldig – wie ein Messer.
Es wird geliebt, gehasst, gefürchtet, bewundert und zum Teufelszeug erklärt, das uns angeblich verdummt, entmündigt und entwürdigt.
Das Netz fasziniert – wie der Apfel vom Baum der Erkenntnis.
Vor allem aber ist es nahezu überall verfügbar und jedem Nutzer-Willen gefügig. Ein derartiges Weltinstrument hat es in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben; es beeinflusst unseren Alltag mehr, als es die katholische Kirche in ihren höchsten Machtphasen konnte.
Entscheidend für seinen Erfolg ist, dass es Freiheit verspricht. Freiheit von Ort und Zeit, Freiheit vom Unwissen, Freiheit von Langeweile und Langsamkeit. Die Kehrseite ist bekannt: Google hat längst zugegeben, dass amerikanische Geheimdienste mehrfach auf das Datenmaterial der Server in den USA und Europa zugegriffen haben. Wer das tut, erhält nicht nur ein paar wichtige Informationen, er greift auf das virtuelle Spiegelbild der Welt zu.
Das Netz behauptet, dezentral zu sein und an jeder seiner Stellen gleichberechtigt. Unsere Web-Adressen, Suchwege, Interessen, Verhaltensweisen, Konsumvorlieben, Hausfassaden, unsere Emailtexte, blog-Kommentare, Fotos und so fort sind jedoch in Servern zusammengefasst, jeder Mausklick hinterlässt dort eine Spur. Wer über die Spurensumme verfügt, hat eine Machtfülle, von der Kaiser Karl V. und sein Sohn Philipp II., in deren Reich die Sonne nicht unterging, nur träumen konnten.
Das Netz ist ein dienstbarer Geist, so lange wir einigermaßen zivilisierte Zustände haben und die Menschen in der Lage sind, zu wissen, was zivilisiert Sein heißt und wie man es macht.
Im gegenteiligen Fall, der Barbarei, gnade uns Gott. Ein autoritärer Staat kann sich kein besseres Instrument wünschen. Auch wenn es in gewissem Maße freiheitlichen Widerstand ermöglicht: Keine geheimpolizeilich angelegte Datenbank kann so effektiv sein wie die Summe der über Jahre freiwillig abgegebenen, gespeicherten und miteinander abgeglichenen Persönlichkeitsprofile. Das Netz ist ein Menschensammler, und seine Betreiber sind unersättlich.
Seit wir uns im Netz spiegeln, sind Kontrolle der Macht und Rechtssicherheit für das Individuum nicht allein moralisch, sittlich und juristisch wünschenswerte Attribute des freiheitlichen Rechtsstaates. Sie sind unabdingbare Voraussetzungen dafür geworden, dass uns das Netz mehr nutzt als schadet. Alles kommt darauf an, dass es gelingt, diese Voraussetzungen zu erhalten oder herzustellen.
Dazu bedarf es einer aufmerksamen Öffentlichkeit, vor allem einer Pädagogik, die junge Menschen für diese Fragen sensibilisiert und ihnen Kriterien vermittelt, nach denen sie den politischen Zustand ihrer Gesellschaft möglichst unvoreingenommen beurteilen können. Wieder sind wir bei Fragen der Bildung, und es geht dabei keineswegs nur um politische Theorie.
Wenn Frank Schirrmacher und Günther Jauch Oberflächlichkeit und Datenmüll beklagen und sich davor fürchten, das Netz könne ihnen ihre humanistische Bildung abfischen, begründen sie ein begreifliches Unbehagen mit einer falschen Vermutung. Denn es ist nicht nur die Größe des Netzes, die unser Leben radikal verändert hat und noch weit mehr verändern wird – es ist vor allem sein steigendes
Tempo trotz wachsender Datenmenge. Das Netz hat die Geschwindigkeit zum Fetisch unseres Denkens gemacht, und längst werden unter diesem Fetisch nicht nur Produktionsabläufe auf Kosten der Menschen zeitlich optimiert. Auch die Bildungspolitik will Schulzeit einsparen und gleichzeitig den Stoff, also die Datenmenge, in bestimmten Fächern erhöhen. Leicht zu erkennen, woher das Prinzip Schneller mehr Input stammt: Vorbild ist das Netz.
Ich gehöre zur 68er-Generation. Vielleicht wichtiger als die damit verbundenen Hoffnungen und Irrtümer ist, dass ich zur Vor-Fax-Generation gehöre, das heißt: Ich entstamme dem inzwischen unvorstellbar langsamen Briefpostzeitalter. Und heute? Wenn es mir zu lange dauert, ein Dokument per Email zu empfangen, zu bearbeiten und wieder zu mailen, lege ich auf einem Server einen gemeinsamen Ordner mit meinem entfernten Partner an und arbeite mit ihm in einer Cloud gleichzeitig an den Änderungen. Wer sich dabei wo befindet, spielt keine Rolle. Der Zeitverlust durch Übermittlung schrumpft gegen Null.
Das heißt: Unsere Erwartung hat sich an einen Zeittakt gewöhnt, bei dessen unerklärter Verzögerung wir sofort den Verdacht haben, dass es irgendwo einen Fehler geben muss, einen Haken, eine Panne. Erinnern Sie sich an die Israeliten, die nicht warten konnten, bis Moses mit den Zehn Geboten aus Gottes Schreibwerkstatt zurückkehrte – nach vierzig Tagen, was nicht viel für die Erarbeitung von Regeln ist, die weitgehend unbestritten bis heute Bestand haben?
Zeiterwartung und Zeitgefühl, Zeitmanagement und Zeiteinteilung beeinflussen eine Gesellschaft mehr als ideologische Vorgaben oder sozialpolitische Eingriffe. Die Beschleunigung kennt vorerst keine Grenzen. Kaum haben wir uns an den neuen, schnelleren Computer gewöhnt, kommt der doppelt so schnelle Prozessor auf den Markt. Letzthin wurde bekannt, dass ein neues Internet-Unterseekabel zwischen den Börsenplätzen New York und London verlegt werden soll, das 300 Millionen Dollar kostet. Es ermöglicht Spekulanten eine um 6 Millisekunden schnellere Verbindung. Trotz der deutlich höheren Nutzungsgebühren werden große Hedgefonds durch die um 6 Millisekunden verkürzte Datenlaufzeit bis zu hundert Millionen Dollar im Jahr mehr verdienen. Verkäufe und Käufe in diesem Tempo können ausschließlich von Computern getätigt werden. Das hat nicht nur technische Ähnlichkeit mit den vorhin erwähnten selbständigen Drohnenschwärmen, an denen die US-Militärindustrie, und gewiss nicht nur sie, arbeitet. Es hat durchaus inhaltliche Verwandtschaft.
Von den vernetzten Geldmärkten geht ein Krieg aus, in dem gegenwärtig ganze Volkswirtschaften zugrunde gehen. In kritischen Kommentaren über Spekulanten und Rating-Agenturen ist oft von unersättlicher und verantwortungsloser Geldgier die Rede, so als ginge es nur um den Tanz ums goldene Börsenkalb. Darum geht es auch, denn offenbar kriegen manche den Hals nicht voll und ignorieren, dass ihre Geldgefräßigkeit auf Teufel komm raus für soziale Unruhen und den davon profitierenden Extremismus verantwortlich ist. Wer die letzten Jahre die Wirtschaftsseiten gelesen hat, kann sich aber eines anderen Eindrucks kaum erwehren:
Es geht nicht mehr nur um Geld im Sinne von angehäuftem Reichtum. Die Gier der Spekulanten und Investoren hat sich offenbar darauf gerichtet, sich mittels des Geldes politische Macht anzueignen. Der Gier nach Geld folgt die Gier nach Herrschaft. Wir erleben die Umkehr der Weltreichkonstruktionen, in denen die Erlangung der Macht noch der Geldgier voran ging, die freilich stets auf dem Fuß folgte, manchmal übrigens mit wirtschaftlichen Konsequenzen, die uns bekannt vorkommen: Philipp II. beispielsweise hat für sein Reich mit Dauersonne dreimal den Staatsbankrott erklärt.
Für den gegenwärtigen Versuch der Kaufleute, sich zu Königen zu krönen, bedurfte es keiner Verschwörung. Rating-Agenturen, die so tun, als hätten sie in den vergangenen Jahren alles richtig gemacht, spielen mit dem Schicksal von Staaten, die sich selbst – seinerzeit von denselben Agenturen kräftig ermuntert – durch ungehemmte Schuldenaufnahme zum Spielball der Banken gemacht haben. Die Nationen-Bewerter mussten sich um politische Macht nicht bewerben, sie haben sie von den Regierungen, vor allem der USA und Europas, nachgeworfen und von den Medien bestätigt bekommen. Politische Entscheidungsprozesse sind viel zu umständlich, um den Ratings und rasanten Zinssprüngen im Netz Einhalt zu gebieten. Ein entmündigender und gefährlicher Zustand.
Gefährlich vor allem für die Armenhäuser der Welt, denn ein Großteil dortiger Hungersnöte wird durch die Spekulation mit den Grundnahrungsmitteln Mais, Weizen und Reis verursacht –
genau besehen ein weltweit betriebener Genozid, an dem sich Börsen bedenkenlos beteiligen und die Preistreiber skrupellos bereichern.
All dies funktioniert nur mit der noch immer zunehmenden Geschwindigkeit der vernetzten Zahlenströme, die Geld oder Güter bedeuten, aber nicht sind. Das Netz selbst ist daran nicht schuld. Es beschleunigt nur den Verfall politischer Regulierungsmacht und den Aufstieg des Kapitalistischen Fundamentalismus.
In solcher Lage hört man gehäuft eine Vokabel: Vertrauen. Bezeichnender Weise wird lauthals um das Vertrauen der Märkte gebuhlt. Wie steht es mit dem Vertrauen der jungen Generation in die Fähigkeit dieser Gesellschaft, lebenswerte Zukunft zu gestalten oder wenigstens zuzulassen? Diese Frage halte ich für vorrangig. Denn diejenigen, die jetzt lernen, sich in der Welt zurecht zu finden, werden einst entweder in einer Gesellschaft leben, in der sie ihre Individualität nach Möglichkeit frei entwickeln können, oder in einer, in der sie biologische, möglichst kostengünstige Faktoren des Bruttoinlandprodukts sind.
Vertrauen in die Welt und in die eigene Zukunft zu haben, ist die Grundvoraussetzung für demokratische Teilnahme, für Engagement, Voraussetzung für Hoffnung, Neugier, Mut. Setzen wir einmal idealistisch voraus, dass in den Binnenwelten von Schule und Familie Vertrauen und emotionale Sicherheit vorhanden seien: Was ist mit der Außenwelt? Was hält sie an soliden Vorbildern, Leitlinien, Wegmarken bereit?
Schon immer redet die politische Klasse davon, der Jugend Chancen zu verschaffen. Doch wer fragt danach, wie eigentlich das politische und gesellschaftliche Bild unseres Landes auf seine jüngeren Generationen wirkt? Wer von Vertrauen spricht, muss Verlässlichkeit bieten, muss sich beim Wort nehmen lassen und sich hüten, Zukunftsformeln in die Welt zu blasen, die mit seinen wahrnehmbaren und nachprüfbaren Handlungen nicht übereinstimmen. Ist erst der Eindruck von Unaufrichtigkeit entstanden, helfen auch keine Blogs oder Chatrooms der Parteien mehr. Zu viel Glaubwürdigkeit wurde durch handfeste Skandale, nicht minder durch Hanswurstiaden verspielt: die Guttenbergiade und die Wulffiade standen ja dem Berlusconismo unserer gedemütigten italienischen Nachbarn kaum nach.
Wie sollen Lehrer ihrem Auftrag gerecht werden, vernünftige, mündige und engagierte Demokraten aus der Schule zu entlassen, wenn die Gesellschaft, in die sie gehen, die eben gelernten Ideale ignoriert – um es euphemistisch auszudrücken? Wie sollen Eltern in einem Land, in dem sich Spitzenversager und die Verursacher von Parteispendenskandalen und Korruptionsaffären gut dotiert zur Ruhe setzen, ihren Kindern den Zielbegriff Anständigkeit vermitteln? Bedenkt eigentlich jemand in der politischen Klasse die Wirkung öffentlicher Lügen auf Kinder, die lernen sollen, die Wahrheit zu sagen? Bedenkt jemand den Eindruck, den die unbekümmerte Geldscheffelei so mancher Unternehmensvorstände bei einer Jugend hinterlässt, der man Verantwortung für die Solidargemeinschaft predigt?
Vertrauen und Verlässlichkeit: Jeder Pädagoge kennt die Bedeutung dieser Worte. Sind sie öffentlich verspielt, werden sie auch privat entwertet. Wenn Familien da nicht gegenhalten können, und das ist immer häufiger der Fall, ist die Schule kompensatorisch gefordert. Ihr erklärtes Ziel aber, autonome Persönlichkeiten zu entlassen, wird mehr und mehr davon verstellt, dass die Schule politisch zum Institut für angepasste Informationsvermittlung und gesellschaftsgerechte Konditionierung ausgerichtet wird. Aus ihr sollen junge Menschen mit zehn Tools an jedem Finger als nützliche Wirtschaftsfaktoren in die Welt gehen. Sie gehen aber nicht, sie taumeln. Das Gehen nämlich, das selbständige Gehen, erwirbt man durch Wissen und Werkzeuge allein nicht. Dazu braucht es die Verwandlung von Wissen in Bewusstsein; und die in vielen Sonntagsreden geforderte Ausbildung sozial-emotionaler Kompetenzen.
Die alltägliche Wirklichkeit außerhalb der Schule aber besteht gerade in ihrer öffentlich am stärksten präsenten oberen politischen Etage häufig nur aus Als-Ob-Verhaltensweisen und Parolen. Ihr auffälligstes Signal ist Unglaubwürdigkeit. Das heißt: Schule befindet sich mit ihren Erziehungszielen in einem permanenten und für den Nachwuchs leicht erkennbaren Widerspruch zur Realität der Gesellschaft, auf die sie doch die Jugend vorbereiten will und soll. Ein Dilemma für die Erwachsenen. Eine Tragödie für manche Kinder, die unter dem Eindruck einer perfiden Rosstäuschergesellschaft aufwachsen und keine Chance sehen, sie zu ändern. Kaum etwas ist schlimmer, als resigniert und gleichsam abwinkend ins selbstbestimmte Leben einzutreten.
Nun sind junge Menschen aber auch gewitzt. Alle sind auf ihre Weise klug. Sie leben besser in der Gegenwart als die Erwachsenen, weil sie alles vor sich haben, die Erwachsenen hingegen viel hinter sich her schleppen. Und so kann nicht verwundern, dass im jungen Kopf das Netz eine ganz andere Rolle spielt als im alten. Ins Netz geboren, werden sich diese Generation und die künftigen ihr Leben lang nicht mehr daraus lösen können. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als das Netz so gut wie möglich zu begreifen und zu nutzen.
Das bringt Vorteile: Das Netz weiß mehr als die Eltern, auch mehr als die Lehrkraft. Das Netz hilft allerdings auch bei der Vorspiegelung erbrachter Leistungen, vorwiegend im Bereich der Geisteswissenschaften, besonders häufig in der Literatur, die im derzeitigen Deutschunterricht vorwiegend analysiert und kaum mehr erfahren wird. Dazu passt das Netzangebot an Inhaltsangaben und Interpretationen.
Doch die Literatur ist nicht geschrieben, um analysiert, zusammengefasst und historisch eingeordnet zu werden. Literatur ist dazu geschrieben, ihre Leser in Konflikte, aus denen sie fast ganz besteht, und in deren möglichst intensives Erleben zu verwickeln. Beim Lesen wird unwillkürlich das Verhalten der Helden beurteilt und die eigene Position im Konflikt bestimmt. Literaturgeschichte und -wissenschaft sind schön und gut; sie taugen nur überhaupt nichts, wenn man die Literatur selbst nicht lesend erfahren hat. Ein Roman, von dem Schüler zum Zweck von Stilanalyse und Epochenzuordnung Auszüge kennen, ist ihnen entgangen, genauer gesagt: Er wurde ihnen vorenthalten. Seine ausführliche Lektüre hätte ihnen etwas beigebracht über den Menschen, seine Neigungen, seine Stärken und Schwächen, über die Zeitläufte, über Liebe, Tod, Eifersucht, Verwirrung, Geiz, Hochmut, Mitleid, Demut, Trauer, Machtbesessenheit, Empörung und Enttäuschung, den Übermut der Ämter und den Mut vor Königsthronen; all dies nicht als abstrakte Reduktion, sondern im Miterleben und – unvermeidlich geschieht das – sich identifizierend: ein multipler Erkenntnisprozess, der in der Antizipation von Lebenslagen besteht, die auf jeden jungen Menschen zukommen werden wie das Amen in der Kirche. Es ist hilfreich, das vor-erfahren zu haben, dem man später standhalten muss. Zugleich lernt man den Reichtum der Sprache kennen, der wiederum die eigene Ausdrucksfähigkeit fördert. Im Netz lernt man nicht, was im Buch steht. Im Netz stehen fremde Lese-Ergebnisse bereit. Die selbst gelesenen Bücher trägt man im Kopf.
Im Netz wird demnächst das gesamte enzyklopädische Weltwissen aufgehoben sein. In der Weltliteratur aber wird das Schicksal des Menschen unaufhörlich erneuert. Die Literatur, und nicht die Literaturanalyse, müsste darum in der Schule das primäre, lustvolle und für die Bildung einer autonomen Persönlichkeit entscheidende Instrument sein. Wer auf diese Fülle verzichtet, ignoriert die Erfahrung der Menschheit mit sich selbst, denn die ist sprachlich ganz und gar in der Literatur aufgehoben. Wenn Goethe im Faust I den Mephisto zum Schüler sagen lässt: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum, spricht er die eigene Überzeugung aus: Wer sich von Sekundärem nährt, lebt auch aus zweiter Hand. Wer hingegen die Literatur in ihren Werken und nicht in vorverdauter Form liest, erwirbt, wie der Neurobiologen Gerhard Roth sagt, "die
Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen der Anderen hineinzuversetzen und die Gefühle und das Verhalten der Anderen zu antizipieren“.
Dass die Gehirnforschung das Lesen von Büchern dringend empfiehlt, ist ein alter Hut, und jedermann kann wissen, dass mangelnde Sprachbeherrschung ein verhängnisvolles Lernhindernis für alle Disziplinen ist. Es geht dabei nicht allein um Gehirntraining, sondern um die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, Kontext mitzudenken, Bedeutung zu ermitteln. Die Semantische Kompetenz, die man beim Lesen von Belletristik erwirbt, bezieht sich nicht allein auf das Verstehen literarischer Mitteilungen – so wie die semantische Kompetenz etwa in Chemie uns ermöglicht, komplizierte chemische Vorgänge nachzuvollziehen oder selbst ausdrücken zu können. Die semantische Kompetenz, die beim Lesen vorzugsweise erzählender Literatur entsteht, greift über die Literatur selbst hinaus, sie wird gleichsam Teil von Lebenskompetenz.
Die Sprache ist das entscheidende Instrument, um uns in der Welt verständlich zu machen und sie zu verstehen. Erklären kann man die Welt großteils auch in Formeln, Bildern, Piktogrammen und Statistiken. Verstehen nicht.
Womit werden nun kommende Generationen mehr Mühe haben? Mit dem Erklären oder dem Verstehen? Mit dem Wissen oder mit seiner Bedeutung? Was wird ihr Kopf vorrangig leisten müssen?
Es gehört keine Science-Fiction-Phantasie dazu, eine Prognose zu wagen. Den Bereich des Erklärens wird mehr und mehr das Netz übernehmen, es ist der neue Universalgelehrte, mit dessen Wissensfülle und Geschwindigkeit kein Mensch konkurrieren kann. Seine multimedialen Darlegungsmethoden sind unübertrefflich, und jeder didaktisch noch so ausgefuchste Professor könnte keine auch nur annähernd ebenbürtige Informations-Schau bieten. Das Netz ist – oder wird sein – der perfekte Instruktor, das heißt: perfekt zur Unterrichtung – wie auch zur Irreführung.
Was bleibt als Aufgabe der Lehre, da sie auf Dauer nicht als Konkurrenz zum allwissenden Netz bestehen kann? Sie wird zu seiner Partnerin, sie kooperiert. Es bleibt ihr gar keine Wahl: Sie muss die Schüler dafür ausbilden, sich im Netz zurechtzufinden und es skeptisch und kritisch, also intelligent zu nutzen.
Damit schafft die Schule sich in ihrer gegenwärtigen Gestalt selbst ab. Sie wird sich dann auf jene Aufgaben konzentrieren, die das Netz nicht ausführen kann: gebildete, menschliche, kritikfähige, neugierige und lebenszugewandte Köpfe heranzubilden, die sich selbst besser verstehen und dafür sorgen, dass die Gesellschaft dem Netz nicht unterliegt, sondern es als Instrument beherrscht. Mit ein paar Korrekturen an den Lehrplänen wird das nicht gelingen.
Die Schule wird sich von einer Institution zur Wissensvermittlung in eine zur Bedeutungsvermittlung wandeln müssen, sie wird für naturwissenschaftliche Information das Netz heranziehen; und sie wird pädagogisch sehr viel mehr dafür da sein, dass Kinder die Menschenwelt und sich in ihr begreifen können. Sie wird
folglich ihr Schwergewicht auf die Geisteswissenschaften und die Künste legen. Lehrkräfte werden sich vor allem als Helfer ins Leben begreifen und ihren Beruf dafür vielleicht neu definieren müssen.
Ich weiß, dass diese Vorstellung von Bildungszukunft der landläufigen Ansicht diametral widerspricht. Noch hängen wir ja am Bild des Nürnberger Trichters, der längst zum Einfüllstutzen für das Internet geworden ist. Noch bereiten wir die Jugendlichen informativ auf die Wirtschaft, die Sozialstrukturen und den Markt vor, sie sollen nicht mit alten Fragen, sondern mit neuen Antworten gefüttert und für die Anforderungen der sogenannten Wissensgesellschaft trainiert werden.
Das ist bereits jetzt ein überholtes Konzept. Denn es kann die Frage, die ja über aller Erziehung steht, nicht mehr hinreichend beantworten: Was braucht es, um aus unseren Kindern Menschen werden zu lassen, die sich in der Welt verstehen und ein erfülltes, gelingendes Leben führen können? Aristoteles nannte das in seiner Nikomachischen Ethik Eudaimonia. Seiner Ansicht nach ist das, was den Menschen kennzeichnet, sein ergon, die Begabung zur Vernunft. Hinzu kommen Sprache, sittliches Verhalten und politische (staatsbürgerliche) Verantwortlichkeit. Die Fähigkeiten und Tugenden, im richtigen Maß, also in menschengemäßer Weise ausgeübt, führen zum Lebensglück. Die Suche danach ist seither das große Thema der Weltliteratur.
Auf die Frage des unglücklichen und am Ende verblendeten Faust, wie wir erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, fand er keine naturwissenschaftliche Antwort. Auch das Netz würde ihm bei dieser Frage nicht helfen. Wo er als Mann des Mittelalters den Ausweg in die Magie wählte, steht es uns frei, mit einer neuen geisteswissenschaftlichen Perspektive uns selbst besser zu begreifen und unsere Umwelt menschengemäß zu gestalten: ohne Goldenes Kalb, ohne Ungeduld, mit einem neuen Verständnis für die Langsamkeit der Bildung. Das wäre nicht weniger als eine zweite Renaissance.
Vielleicht haben wir diese Renaissance sehr bald nötig, wenn wir Europa erhalten wollen.