Dr. Heidi Salaverría: Falscher Rhythmus . Gesellschaft aus dem Takt?

SWR2 Wissen: Aula - 
Autorin und Sprecherin: Dr. Heidi Salaverría; Website: www.salaverria.de heidi@salaverria.de
(ungekürztes Manuskript)
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 25. April 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Der richtige Rhythmus ist schon bei Platon wichtig für ein gelungenes Leben und sogar für eine angemessene Form des Gemeinschaftslebens. Dann aber wurde der Rhythmus in der abendländischen Zivilisation ins Abseits gedrängt, er wurde mit Emotion, Archaik und Dumpfheit in Verbindung gebracht. Das hat sich wiederum geändert: Heute haben die Deutschen ein Faible für Tango, und angesichts der Wirtschaftskrise wird gefragt, ob da nicht vieles aus dem Takt geraten ist. Die Philosophin Heidi Salaverría erläutert die gesellschaftliche Bedeutung von Rhythmus und Takt.

* Zur Autorin:
Heidi Salaverría, Dr. phil., geb. 1969 in Caracas/Venezuela, lebt als freie Autorin,
Dozentin und Künstlerin in Hamburg. Sie studierte und forschte in Buenos Aires,
Hamburg und Philadelphia in den Fächern Philosophie, Kunstgeschichte, Kunst,
Psychologie. Sie lehrte u. a. an den Universitäten Lüneburg, Flensburg und
Hildesheim. Seit 2002 veranstaltet sie außerdem Philosophische Shows u. a. am
Kampnagel-Theater in Hamburg, am Staatstheater Stuttgart, in der Kunsthalle
Bremen.

Bücher:
- Spielräume des Selbst. Pragmatismus und kreatives Handeln. Akademie-Verlag. 2007.
- Die Kunst der Anerkennung: Eine Swiki-Konversation. (zus. mit Kurd Alsleben und
Antje Eske). Books on Demand. 2006.


Quellenhinweise, zum jeweiligen Absatzende: 1 - 14
1 William James, Die Wahrnehmung der Zeit, in: Walther Ch. Zimmerli, Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der
Modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 2007, 35.
2 Simone Mahrenholz, Rhythmus als Oszillation zwischen Inkommensurablem. Fragmente zu einer Theorie der
Kreativität, in: Simone Mahrenholz/Patrick Primavesi (Hg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten.
Schliengen 2005, 157.
„Seinseinseinsein“ ist kein Satz, und selbst experimentelle Gedichte benötigen
3 Sören Kierkegaard, Entweder-Oder, Teil I und II, München 2005, 262f.
SWR2 AULA vom 25.04.2010
Falscher Rhythmus – Gesellschaft aus dem Takt?
Von Dr. Heidi Salaverría
4 Dewey, Kunst als Erfahrung, Ffm. 1980, 179.
5 Trasbylos Georgiades, Musik und Rhythmen bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik,
Hamburg 1958, 104.
6 Ebd., 103.
7 Ebd., 97.
8 Ebd., 99.
9 Ebd., 101.
10 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Michel Moldenhauer (Hg.), Werke Bd. 3, Frankfurt/M, 59.
11 Dieter Mersch, Maß und Differenz. Zum Verhältnis von Mélos und Rhythtmós im europäischen Musikdenken,
in: Mahrenholz/Primavesi (Hg.), Geteilte Zeit.., a.a.O., 39.
12 Mersch, ebd., 47.
13 Gille Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1997, 427.
14 Dewey, a.a.O., 193.
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INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Falscher Rhythmus? Die Gesellschaft und der Takt“.
Irgendwie scheinen wir ja so etwas Archaischem wie dem Rhythmus plötzlich wieder
einen wichtigen Platz einzuräumen: Wir reden vom gesunden Lebensrhythmus, vom
Gleichgewicht, wir reden von der Balance zwischen Bewegung und Ruhe, wir
zelebrieren auf geradezu esoterische Weise den Flow, den Bewusstseinszustand, in
dem alles im wohltuenden Rhythmus nur noch fließt.
Heidi Salaverría ist Philosophin und Performancekünsterlin aus Hamburg, sie mag
den Tanz, also den Rhythmus, und in der SWR 2 Aula zeigt sie zwei Dinge: Erstens:
Wir haben einen falschen viel zu rationalen Begriff von Rhythmus, zweitens, gerade
deshalb müssen wir eine andere ästhetisch geprägte Rhythmustradition
wiederentdecken.
Heidi Salaverría:
Jeder weiß scheinbar, was Rhythmus ist. Rhythmus ist, wenn man mit muss.
Rhythmus ist so allgegenwärtig, dass man ihn oft nicht einmal mehr bemerkt: Das
Herz schlägt, wir atmen ein und aus, wachen und schlafen, leben und sterben. Unser
Planet zieht seine Kreisbahn um die Sonne, es gibt Ebbe und Flut, Tag und Nacht,
Jahreszeiten ... – nicht nur unser Organismus, der gesamte Kosmos scheint einem
geheimen Puls zu folgen, in dem bestimmte Ereignisse, Momente, Zustände oder
Prozesse eintreten, zu Ende gehen und nach einer Weile wieder auf ähnliche Weise
von vorne beginnen.
Auch in den von uns produzierten Dingen scheint Rhythmus zu stecken, er spielt
offenbar für unser Weltverhältnis und für unser Weltverständnis eine zentrale Rolle,
denn auch die von uns hergestellte technische Umwelt funktioniert in Taktungen:
Uhren, Klingeltöne, bewegte Bilder und Ampelschaltungen ticken, klingeln und
flackern im Takt. Allerdings ist nicht nur die materielle Welt rhythmisiert. Die Sprache
selbst wäre ohne pulsierende Struktur undenkbar. Besonders deutlich wird dies in
der Poesie oder daran, ob beim Witzerzählen Pointen zünden oder nicht. Auf einer
noch grundsätzlicheren Ebene jedoch als der ästhetischen Frage nach der
Gelungenheit von Sprachkunst und der Vermeidung von Überdruss oder
Überforderung ist Rhythmus notwendige Bedingung jeder Verständlichkeit.
Um etwas als etwas lesen oder hören zu können, muss dazwischen nichts sein.
Zeichen ohne Lücken sind unlesbar, ja sogar der einzelne Strich eines Buchstabens
wäre ohne die ihn umgebende Leere in Form von weißem Papier oder
Bildschirmhintergrund unsichtbar. Das gesprochene Wort braucht die Pause, um
gehört zu werden, und die Pause nach der Pause will, jedenfalls im lebendigen
Gespräch, gefüllt sein. In unserer geschriebenen Sprache akzentuiert die
Zeichensetzung die Rhythmik des Lesens und damit des Verstehens. Sogar auf
grammatischer Ebene benötigen wir ein sinnvolles Spannungsverhältnis von Subjekt,
Prädikat und Objekt, welches zu einem Ganzen zusammengeführt wird.
„Seinseinseinsein“ ist kein Satz, und selbst experimentelle Gedichte benötigen
strukturierende Akzente, um Ohr und Auge Anhaltspunkte zu liefern. Sie merken:
Gerade aufgrund seiner Allgegenwärtigkeit ist es nicht ganz leicht zu klären, was
Rhythmus ist und auf was sich der Begriff ausdehnen lässt. Rhythmus entsteht durch
den Wechsel von Ruhe und Anspannung, von Anwesenheit und Abwesenheit, von
Fülle und Leere. Dennoch: Wenn alles Rhythmus ist, wird der Begriff trivial. Wir
müssen also einige Bestimmungen vornehmen, um einen ergiebigen
Rhythmusbegriff zu gewinnen.
Klar ist, dass dieser irgendetwas mit Zeit und strukturierten Zeiteinheiten zu tun hat.
Der so genannte „Stream of consciousness,“ also der beständige Bewusstseinsstrom
unserer Gedanken, inspirierte Schriftsteller wie Virginia Woolf und James Joyce
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer neuen literarischen Form. Eine, in der
wir der jeweiligen literarischen Figur beim Denken zuhören können (z. B.: „Was
mögen wohl in diesem Moment die Zuhörer an den Radios denken?“) Der Begriff
stammt jedoch nicht aus der Literatur, sondern von dem Pragmatisten William
James. Selbst durchaus literarisch begabt, verglich er in seiner Psychologie den
Bewusstseinsstrom mit dem Leben eines Vogels, in dem sich immer wieder Flugund
Ruhephasen abwechseln. Um in dem Bild zu bleiben: Wenn der Vogel
rhythmisch begabt ist, lebt er besonders lange! Denn das Denken (also unser Vogel)
kann sich nur zu Höhenflügen aufschwingen, wenn es sich zwischenzeitlich auf
einem Ast ausruhen kann.
Doch scheint die Sache mit dem Rhythmus nur zu funktionieren, wenn die
Gegensätze nicht unverbunden nebeneinander stehen bleiben, sondern, wie James
in Bezug auf das Zeitempfinden ausgeführt hat, wenn sie eine verbindende Mitte
haben: „Die praktisch erkannte Gegenwart ist keine Messerschneide, sondern ein
Sattelrücken mit einer gewissen ihm eigenen Breite, auf den wir uns gesetzt finden,
und von dem aus wir nach zwei Seiten in die Zeit hineinblicken. Die Einheit [...]
unserer Zeitwahrnehmung ist eine Dauer, die ein Bug und ein Heck –
gewissermaßen ein rückwärts- und ein vorwärtsblickendes Ende – hat.“1
Der für das Zeitempfinden so charakteristische Sattelrücken, dem unser „ich denke“
aufsitzt, bewegt sich demnach zwischen Erinnerung und Antizipation und funktioniert
nur durch eine Verbindung zwischen beiden Enden des Sattels. Wenn diese
Verbindung unterbrochen oder gestört ist, beispielsweise durch Demenzerkrankung,
führt das zu einem Verlust des Zeitempfindens und letztlich zu einem Verlust der Ich-
Identität. Aber in welchem Verhältnis stehen Zeitempfinden und Rhythmus? Sie sind
nicht deckungsgleich! Vielmehr hilft der Rhythmus dabei, das Zeitempfinden zu
strukturieren. So hat sich beispielsweise herausgestellt, dass man manchmal durch
Musik Demenzkranke erreichen kann, die auf Sprache oder andere Impulse nicht
mehr reagieren. Das liegt vermutlich nicht nur daran, dass bestimmte Lieder an
besonders frühe Erinnerungen gekoppelt sind und deswegen aus dem
Langzeitgedächtnis aufgerufen werden können. Sondern es liegt auch an der in der
Musik kondensierten Rhythmik, die das Zeitliche bindet, wie der Philosoph Andreas
Luckner formuliert hat. Dieses Binden hängt damit zusammen, dass Musik und
insbesondere Rhythmus nicht nur auf einer rein verstandesmäßigen Ebene
verstanden werden können. Die Philosophin Simone Mahrenholz hat es so
ausgedrückt: „Einen Rhythmus erfasst man entweder mit dem Körper oder gar nicht.
1
Man muss ihn reproduzieren können, oder man versteht ihn nicht. Man ‚hat’ ihn, oder
man hat ihn nicht. Das heißt zugleich: Man versteht ihn als Ganzes, oder man
versteht ihn nicht. Damit ist er etwas Gestalthaftes.“2 Die rhythmische Bindung
gelingt also nur, wenn der Körper mitspielt. Wenn sie gelingt, kann eine Verbindung
über den Sattelrücken hinweg hergestellt werden und sogar ein größerer Bogen
gespannt werden als ohne den Rhythmus. Das Verbinden der Zeitempfindung mit
dem Rhythmus zu einem Spannungsbogen lässt sich hierbei besonders gut an der
Musik veranschaulichen, weil diese die Zeitkunst schlechthin ist und uns besonders
direkt berührt. Die Verbindung von Erinnerung und Antizipation – auf dem
Sattelrücken der Zeitempfindung – lässt sich jedoch auf ähnliche Weise mit anderen
Künsten erzeugen: Auch Malerei, Architektur, Fotografie und auf besondere Weise
Comics, Filme, Tanz und Theater leben durch gelungene Rhythmisierungen. Um die
Wirkung des Rhythmus zu spüren, braucht es also nicht unbedingt Musik. Wichtig ist
vielmehr ein ästhetisches Moment oder, wie John Dewey sagen würde, die
ästhetische Erfahrung. Ich komme gleich darauf zurück.
Man kann stundenlang fernsehen, und, obwohl die ganze Zeit rhythmisch
irgendwelche Bilder geflackert haben, hinterher gar nicht mehr wissen, was man sich
eigentlich angeschaut hat. Es gibt also durchaus Fälle von Rhythmisierung, die das
Zeitempfinden nicht binden und die keinen Bogen von Erinnerung und Antizipation
ermöglichen – im Gegenteil! Wer sich mehrere Stunden nacheinander möglichst
schlechte, d.h. zusammenhangslose und widersinnige Filme und Werbeclips
anschaut, bis er ganz durcheinander ist, kann sich wohl eher in den Zustand eines
Demenzkranken hineinversetzen und trägt aktiv dazu bei, selbst längerfristig Patient
zu werden! Irgendjemand hat einmal gesagt, dass längerer Fernsehkonsum
nachträglich zu Langeweile rückwärts führt. Das liegt daran, dass die rhythmischästhetische
Balance verloren gegangen ist. (Von dieser Diagnose möchte ich
allerdings entschieden die Rezeption hervorragender US-amerikanischer HBOFernsehserien
ausnehmen.)
Das Problem lässt sich am Bild des Vogels von James weiter erhellen: Dadurch,
dass James den Bewusstseinsstrom mit dem Leben eines Vogels vergleicht, betont
er auch dessen Körperlichkeit und Endlichkeit. Der Bewusstseinsvogel kann nicht
ständig fliegen, sondern muss sich immer wieder ausruhen. „Die Ruheplätze,“ so
schreibt James, „werden normalerweise durch irgendwelche sinnlichen Vorstellungen
besetzt, deren Besonderheit darin besteht, dass der Geist sie sich für unbestimmte
Zeit vor Augen halten und ohne Veränderung betrachten kann.“ Die Flugplätze
hingegen seien mit Gedanken von Bezügen gefüllt, die, seien sie nun statisch oder
dynamisch, zwischen den Ruheplätzen erlangt werden. James schlägt sodann vor,
die Ruheplätze als substantivische und die Flugplätze als transitive Teile des
Bewusstseinsstroms zu bezeichnen. Es scheine doch so zu sein, so schließt James
seine Überlegung ab, dass das Hauptziel unseres Denkens darin besteht, jeweils zu
einem anderen substantivischen Ruheplatz zu gelangen als zu dem, von dem wir uns
gerade entfernt haben. Und man könne annehmen, dass der wesentliche Nutzen der
transitiven Flugabschnitte darin besteht, uns von einer substanziellen
Schlussfolgerung zur nächsten, also zu einer anderen, zu einer davon
unterschiedenen Schlussfolgerung zu führen.
2
Wenn nun jemand mehrere Stunden apathisch vor dem Fernseher gesessen hat und
sich fragt, warum er Langeweile rückwärts verspürt, dann kann das daran liegen,
dass sein Denken zu lange auf einem Ruheplatz hängen geblieben ist, und zwar in
einem doppelten Sinn: nicht nur im Sessel vor dem Fernseher, sondern auch in
einem substantivischen Teil seines Bewusstseinsstroms, der schon lange nicht mehr
transitiv unterwegs war. Anders gesagt: Wenn das Verhältnis von Aktivität und
Passivität aus dem Ruder läuft und der Bewusstseinsstrom nicht in der von James
angeregten Weise optimal ornithologisch ausbalanciert ist, dann verlieren wir die
Orientierung, und die Verbindung zwischen Erinnerung und Antizipation wird brüchig.
Das trostlose Komplement par excellence zu dieser Tristesse ist eine Situation, in der
die quälende Erfahrung von Langeweile vorwärts gemacht wird – nämlich in der
Schlaflosigkeit! Wer nicht schlafen kann und das schon öfter erlebt hat, also bereits
zu Beginn einer schlaflosen Nacht deren zunächst nicht absehbares schlafloses
Ende antizipiert, befindet sich in der genauen Gegenposition zur Couch-Potato: Denn
in diesem Fall ist das arme Vögelchen des Bewusstseinstroms im Flug zwischen
zwei unerreichbaren Ruheplätzen gefangen. Es möchte gerne landen, kann aber
nicht. So bleibt es in einem transitiven Flugabschnitt hängen – die Gedanken von
Bezügen gefüllt, welche sich dringend absetzen müssten. Man könnte in diesem Fall
auch von einer innerpsychischen Rückkopplung sprechen. Dialektisch steigern lässt
sich dieses Unglücks schließlich noch, wenn der unglücklich Schlaflose versucht,
seine Insomnia durch stundenlangen Konsum nächtlicher Dauerwerbesendungen im
Fernsehen zu überwinden: Eskalation und fataler Antiklimax dieses arhythmischen
Bewusstseinsstroms! Am Ende sitzt der Mensch wieder in seiner Couch, der Vogel
des Bewusstseinsstroms hingegen ist nun vollständig verwirrt und gibt erst recht
keine Ruhe.
In der Sache kommt das Kierkegaards Charakterisierung des unglücklichsten
Menschen schon recht nahe. Kierkegaard schreibt in „Entweder-Oder:“ „Die
unglücklich hoffende Individualität vermochte nicht, sich in ihrem Hoffen selbst
präsentisch zu werden, so wenig wie die unglücklich sich erinnernde. Die
Kombination kann nur sein, dass das, was den Menschen hindert, in seinem Hoffen
präsentisch zu werden, die Erinnerung, das, was ihn hindert, in der Erinnerung
präsentisch zu werden, die Hoffnung ist. [...] Das, worauf er hofft, liegt also hinter
ihm, das, woran er sich erinnert, liegt vor ihm. Sein Leben ist nicht rückwärts
gerichtet, jedoch in doppeltem Sinne verkehrt. [...] Hierüber könnte man wahnsinnig
werden, und doch wird er es nicht, und das ist sein Unglück. Sein Unglück ist, dass
er zu früh auf die Welt gekommen ist und daher stets zu spät kommt.“3
Nach dem bislang Gesagten steht fest: Rhythmus ist nicht gleich Rhythmus. Zu
Beginn unserer Ausführungen standen Beschreibungen rhythmischer Phänomene in
Dingen der Alltagswelt, am Ende stand das Problem der Strukturierung von
Zeitempfindungen des Bewusstseinstroms. Lässt sich das alles unter einen Begriff
fassen? Muss man sich nicht entscheiden – ob Rhythmus nun eine Sache der
objektiven oder der subjektiven Welt ist? Der Pragmatist Dewey wandte sich
entschieden gegen statische Rhythmus-Modelle, die er spöttisch als „Tick-Tack-
Theorien“ bezeichnete. Stattdessen schlug er vor, Rhythmus als „geordnete Variation
3
des Wandels“4 zu definieren, der grundlegend mit der ästhetischen Organisation von
Energien zu tut hat. Damit favorisiert er, oberflächlich betrachtet, ähnlich wie sein
Kollege James, die subjektive Sicht auf den Rhythmus. Tatsächlich geht es ihm
indessen darum, den ungeliebten Körper-Geist-Dualismus zu überwinden oder
besser gesagt: zu zeigen, inwiefern die Annahme einer solchen Opposition einem
Irrtum aufsitzt.
Die unterschiedlichen Rhythmuskonzeptionen in Philosophie und Alltag scheinen
damit zusammen zu hängen, welche Haltung man zum Körper, welche zum Körper-
Geist-Verhältnis hat. Das Spannungsfeld möglicher Rhythmuskonzeptionen
manifestiert sich schon in den unterschiedlichen Formulierungen: Die einen sprechen
von Metrik, Takt, Gleichmaß und Versmaß, die anderen von Puls, Energien, Groove
und Timing – dazwischen liegen Welten. Im ersten Fall legt das Vokabular einen
festgelegten und zählbaren Maßstab nahe: Metronome, Maschinen, Atomuhr und
naturwissenschaftliche Berechnungen. Im zweiten Fall subjektiv-körperliche
Empfindungen, individuelle oder gemeinschaftliche Akzente, Nuancen und
Entwicklungen.
Wieviel Variation im Sinne Deweys, wie viel Ordnung Rhythmus verträgt, welchen
Status man diesem beimisst und inwiefern bestimmte Formen besser, schlechter
oder sogar verderblich sein können, darüber wurde in der Philosophie seit Anbeginn
gestritten, auf die wir nun einen kurzen Blick werfen wollen.
Der Begriff des Rhythmus wird zum ersten Mal systematisch von Platon behandelt.
Vorher, bei den Vorsokratikern, gab es widersprüchliche Theorien über das
Verhältnis von Welt und (strukturierter) Bewegung: Heraklit sprach vom Werden, war
aber blind für das Sein. Er sagte: „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in
denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“ Parmenides sprach dagegen vom
bleibenden, unveränderlichen Sein und war dafür blind für das Werden. Platon
schließlich postuliert die ewigen Ideen und trennt diese von der werdenden
Erscheinungswelt. Er formuliert ein hierarchisches Philosophiemodell, in dem der
abendländische Körper-Geist-Dualismus allererst installiert wird. Dieser Dualismus
spiegelt sich auch in seinem Rhythmusbegriff wider:
Seit Platon wird nämlich in der europäischen Philosophie und ihrem Musikdenken der
Rhythmus der Sprache und der Harmonie untergeordnet. Dabei darf man nicht
vergessen, dass Musik im alten Griechenland nicht wie bei uns verstanden wurde.
Der Begriff Musiké lässt sich nicht mit Musik oder Dichtung übersetzen, sondern ist
seiner grammatischen Form nach ein Adjektiv und bedeutet so viel wie: musisch, auf
die Musen bezogen. Auch handelt es sich bei der Musiké nicht um Kunstwerke, denn
so etwas wie unseren neuzeitlichen Kunstbegriff gab es damals noch gar nicht.
Wichtig war die ethisch-erzieherische Funktion der Musiké, Hand in Hand mit der
Gymnastik: Nur durch das harmonische Zusammenspiel beider, so nahm man an,
konnte das Ziel der Erziehung erreicht werden: Mut und Weisheitsliebe in den
Menschen zu wecken!
4 - 5
So steht letztlich zwischen der unverbundenen Welt der Erscheinungen und dem
Reich der Ideen der Mensch, der diese Kluft durch seine Liebe zur Weisheit, also
durch die Philosophía überwinden kann, wenn er das Zeug dazu hat. Doch was die
allgemeine Einschätzung der Fähigkeiten zur Weisheitsliebe anging, war Platon
bekanntlich nicht sonderlich basisdemokratisch eingestellt! Interessant ist gleichwohl,
welches Gewicht er in der Bildung potenzieller Philosophen der Musiké einräumt. So
erzählt Sokrates in einer Passage des Phaidon von einem wiederkehrenden Traum,
der ihm sagte: „Mache und betreibe Musiké, da ja die Philosophie die mächtigste
Musiké ist.“6
Hören wir zur Stellung des Rhythmus bei Platon eine Passage aus dem zweiten
Buch des „Staates,“ in der Sokrates mit Glaukon spricht: „Unter allen Umständen
kannst du doch mit voller Sicherheit zunächst bestätigen, dass das Lied (Melos) aus
drei Bestandteilen zusammengesetzt ist, aus Logos, Harmonia und Rhythmus.“ Und
Glaukon antwortet: „Ja, das kann ich.“ Sokrates: „Es müssen aber doch Harmonia
und Rhythmus dem Logos folgen.“ Und Glaukon antwortet: „Selbstverständlich.“7 An
die Harmonien, so führt Sokrates fort, sollte sich die „Erörterung über die Rhythmen
anschließen in dem Sinne, dass wir nicht einem bunten Gemisch derselben und einer
Mannigfaltigkeit der Schritte (Versmaße) nachjagen, sondern unser Augenmerk
darauf richten, welches die Rhythmen für ein wohlgesittetes und mannhaftes Leben
sind. Haben wir dies gefunden, so müssen wir den Versfuß und die Melodie sich
nach dem Logos eines Mannes dieser Lebensart richten lassen, nicht umgekehrt des
Logos nach Versfuß und Melodie.“8 Und Glaukon stimmt ihm selbstverständlich zu!
„Ist nun, mein Glaukon, die Erziehung durch Musiké nicht darum von entscheidender
Wichtigkeit, weil Rhythmus und Harmonia am meisten in das Innere der Seele
eindringen und sie am stärksten ergreifen?“ Glaukon pflichtet ihm bei. „Wer also am
besten mit der Musiké die Gymnastik mischt und sie in angemessener Weise der
Seele zuführt, den dürften wir mit vollstem Recht als den vollendeten Musikos und
als harmonischten Mann bezeichnen, weit mehr als den, welcher die Saiten richtig zu
stimmen weiß.“ Glaukon erwidert: „Und das mit Recht, mein Sokrates.“ 9
Gut 2000 Jahre später kommt Hegel, der Denker der Bewegung des Denkens, und
unterzieht den Rhythmus einer zunächst scheinbar ganz anderen Analyse: Rhythmus
resultiert laut Hegel aus der schwebenden Mitte und der Vereinigung von Metrum
und Akzent, bewegt sich also zwischen dem Gleichmaß und dessen widerständigem
Moment. Wesentlich ist dabei das Moment der Spannung, Hegel spricht sogar von
einem Konflikt. Diese Spannung, dieser Konflikt findet nicht nur auf der Ebene
körperlicher oder kosmologischer Taktungen statt, sondern manifestiert sich auch
und vor allem wesentlich in der Sprache, auf der Ebene des Satzes zwischen Subjekt
und Prädikat. Zugleich entsteht durch die Einheit des Satzes, durch die Identität des
erzeugten Sinns, Harmonie. Hegel schreibt:
„Dieser Konflikt der Form eines Satzes überhaupt und der sie zerstörenden Einheit
des Begriffs ist dem ähnlich, der im Rhythmus zwischen dem Metrum und dem
Akzente stattfindet. Der Rhythmus resultiert aus der schwebenden Mitte und
Vereinigung beider. So soll auch im philosophischen Satze die Identität des Subjekts
6 - 9
und Prädikats den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht
vernichten, sondern ihre Einheit soll als eine Harmonie hervorgehen.”10
In Hegels dynamischer und zugleich hierarchischer Theorie, in welcher die
notwendigen Widersprüche, in die sich das Denken verwickelt, auf immer neuen
Ebenen dialektisch aufgehoben werden, um schließlich ihren höchsten Punkt, die
Philosophie, anzustreben. In dieser Theorie ist die Figur des Rhythmischen zentral,
weil sie die Bewegung der Spannung und des Konflikts einerseits und ihrer
harmonischen Einheit andererseits umfasst. Am Ende jeder Bewegungseinheit steht
die – für nichtphilosophische Ohren unglaubliche – Identität von Identität und
Nichtidentität. Wenn das nicht rhythmisch ist!
Auch in Hegels Ästhetik spielt der Rhythmus eine große Rolle, doch wird die Kunst
der Philosophie untergeordnet, ja, die Kunst überlebt sich, hebt sich auf, und wird
von der Philosophie abgelöst! Letztlich bleibt die zentrale Funktion des Rhythmus
dem philosophischen Begriff unterstellt, und nimmt, wie bei Platon, eine
untergeordnete Rolle ein.
Der Philosoph Dieter Mersch hat herausgearbeitet, dass das europäische
Musikdenken von diesem hierarchischen Prinzip bestimmt ist, nämlich der
Unterordnung des Rhythmós unter das Mélos. Zwar hat Rhythmus in der
europäischen Philosophie eine unbestrittene Relevanz, bleibt jedoch dem tonalen
Gefüge untergeordnet. Überdies orientiert sich das Maß des Rhythmus am Versmaß
und daher einerseits am Vorrang der Sprache und andererseits an einer „mensuralen
Logik,“ in der das Zählen im Vordergrund steht.11 Schon bei Platon wird, wie wir
gerade gesehen haben, Rhythmus der Sprache und der Harmonie untergeordnet.
Das setzt sich in der europäischen Musiktradition fort. Das Problem eines Vorrangs
des Vers-Maßes und des Tonalen wird insbesondere im Vergleich zu
nichteuropäischer Musik und Rhythmik spürbar, welche sich mit dem Schema des
Metrischen vielfach gar nicht erfassen lassen. Auch bei Hegel wird der Rhythmus der
Melodie nachgeordnet. Sogar bei Adorno findet sich diese Hierarchisierung, wenn er
der freien Atonalität Schönbergs hohen ästhetischen Rang zuspricht, das rhythmisch
arbeitende Sacre du Printemps Strawinskys hingegen als reakionär und regressiv
verurteilt. Mersch folgert: „Zwar speist sich Adornos Affront aus jener Mystifikation
des Leiblichen, wie sie die faschistischen Körperkulte zelebrierten, doch wird diesen
einzig eine Sublimation entgegengestemmt, wie sie bürgerlicher Triebunterdrückung
entstammt.“ 5
Man kann also, zusammenfassend gesagt, in der abendländischen Philosophie und
Musiktheorie eine Favorisierung des Metrischen, des Gleich-Maßes, des Taktes und
Zahlwertes feststellen. Daraus resultierten im westlichen Wertesystem der Moderne,
Post- und Post-post-moderne bis heute Vorurteile gegenüber dem Rhythmus als
regressiver Kraft. Speziell in Deutschland speisen sich diese Vorurteile aus der
Geschichte. Denn im Nationalsozialismus wurde Rhythmus ideologisch missbraucht,
indem dieser sowohl überhöht, als auch reduziert wurde. Die Auflösung von
Individualität in einer durch rhythmische Strukturen, wie etwa Militärmärsche,
10 - 12
hypnotisierten Masse spiegelt jedoch selbst ein eingeschränktes Konzept von
Rhythmus wider, nämlich einen metrisch gewalttätig gleichgeschalteten Rhythmus, in
dem der abweichende Akzent nichts zu suchen hat. Gille Deleuze und Félix Guattari
behaupten sogar: „Nichts hat weniger Rhythmus als ein Militärmarsch“13
Wie Deleuze und Guattari formuliert auch die Philosophie des Pragmatismus,
insbesondere die von Dewey, ein anderes Rhythmuskonzept, welches wesentlich mit
seinem Begriff von ästhetischer Erfahrung zusammenhängt, der eben bereits zur
Sprache gekommen war. Ästhetische Erfahrung erhält bei Dewey eine politische
Dimension, da sowohl die engen Grenzen der Kunst als auch die anerkannten
Rezeptionsweisen, also beispielsweise aufs Metrische reduzierte
Rhythmuskonzepte, problematisiert werden. Dewey strebt eine kapitalismuskritische
Demokratisierung von Kunst an, was einerseits bedeutet, Kunst allen
Gesellschaftsschichten zugänglicher zu machen, andererseits und grundsätzlicher
jedoch beinhaltet, den bestehenden Status von Kunst in Frage zu stellen. Damit wird
einer Entwicklung entgegengetreten, in welcher Kunst sich mit zunehmender
geistiger Entrücktheit von den Alltagserfahrungen entfernt und stattdessen
zusehends musealisiert und verdinglicht wird. Seine Kritik lautet, dass die Forderung
nach Autonomie von Kunst und Ästhetik, also nach ihrer Abgetrenntheit, man könnte
auch sagen: nach ihrer Abgehobenheit vom Alltag, die Kunst implizit
instrumentalisiert: Nur bestimmte (z. B. musealisierte, körperfeindliche, elitäre)
Kunstformen werden als solche identifiziert und zu Trophäen des Kapitals. Sie
werden, wie später Pierre Bourdieu schrieb, zum klassenstiftenden Element, und
zwar gerade dadurch, dass man die feinen Unterschiede im Geschmacksurteil als
transzendental erscheinen lässt und eben nicht als gesellschaftlich hervorgebracht!
Indem Dewey seinen Fokus auf die ästhetische Erfahrung und damit auf dass
Prozesshafte des Ästhetischen legt, rückt er von der Fetischisierung etablierter Kunst
und von der ihr korrespondierenden vermeintlich geistig-entrückten Urteilsdistinktion
ab. Die primäre Aufgabe von Ästhetik sollte hingegen in der Bereicherung von
Erfahrung und nicht in einer angenommenen selbstzweckhaften Schönheit liegen.
Ästhetik hat durchaus einen Nutzen, nämlich den, eine vorübergehende Kohärenz
des genießenden Selbst zu ermöglichen, nicht nur in der Rezeption von
Kunstwerken, sondern potenziell in allen Lebensbereichen. Vermeintlich hohe Kunst
ist für Dewey hingegen zu sehr vom alltäglichen Leben abgeschnitten. Ebenso wie
das Verhältnis hoher und niedriger Kunst ist das Verhältnis alltäglicher und
ästhetischer Erfahrung wechselseitig bedingt: Die vorherrschende Alltagsform,
Erfahrungen zu machen, ist nämlich eine verkümmerte, die entweder in Ziellosigkeit
oder in mechanische Routine umkippt, entweder stagniert oder haltlos wird.
Die Meisten kennen aus dem Alltag die Erfahrung von Stress und Zeitdruck, welche
sich dann oft genug, nachdem die drängenden Aufgaben erledigt sind, nicht in
zufriedener Entspannung auflösen, sondern in merkwürdiger Leere oder Langeweile.
Das ist das, was Dewey mit der mechanischen Routine bzw. Ziellosigkeit der
Erfahrung im Sinn hat. Auch die vorhin beschriebenen Verwirrungen des
Bewusstseinsvogels bei James sowie der Langeweile rückwärts und der
Schlaflosigkeit können als aus dem Takt geratene Erfahrungen verstanden werden.
Mit Dewey können wir nun sagen, dass sie auch Resultat gesellschaftlicher
13
Normierungen sind. Oftmals strukturiert ein zu mechanischer und fremdbestimmter
Rhythmusbegriff den Alltag und die Erfahrungen auf eine Weise, der andere
Möglichkeiten an Erfahrungs- und Handlungspotenzialen fast in Vergessenheit
geraten lässt. Wie wir gesehen haben, wurzelt diese eingeschränkte
Rhythmusvorstellung in einer mächtigen philosophischen Tradition. Dass Kunst dann
diese Einschränkung kompensieren soll und dabei selbst oftmals diesen
Einschränkungen verhaftet bleibt, überrascht daher nicht.
Dewey ist klug genug, seiner polemischen Kritik an der „Tick-Tack-Theorie“ keine
schablonenhafte exotisierende Idealisierung vermeintlich archaischer, urwüchsiger
Rhythmen von „Naturvölkern“ gegenüberzustellen. Er schreibt: „Man hat auch den
Trommelschlag der Wilden als das Modell von Rhythmus hingestellt, so dass aus der
‚Tick-Tack-Theorie’ die ‚tom-tom-Theorie’ wurde,“ die man für monoton und primitiv
hält. „Für die vermeintlich objektive Basis dieser Theorie ist es allerdings misslich,
dass ‚tom-tom-Schläge nicht isoliert, sondern als Faktoren in einem viel komplexeren
Ganzen“ zu sehen sind. 14
Wie sieht es denn 2010 bei uns mit der Rhythmusfreundlichkeit aus? Einiges hat sich
verändert in den letzten Jahrzehnten: Viele Menschen haben angefangen, sich mit
fernöstlichen Meditationstechniken auseinander zu setzen. Zunehmend setzt sich im
Alltagsverständnis die Einsicht durch, dass der richtige Atemrhythmus für körperliche
Entspannung und Anspannung unerlässlich ist. Im Zusammenhang mit sportlichen
Bewegungen ist auch an den Begriff des „Flow“ zu erinnern, der hierzulande in den
Neunziger Jahren zunehmend Beachtung fand. Dieser wurde von dem Psychologen
Mihaly Csikszentmihalyi entwickelt (dessen Name in heiterem Gegensatz zu seinem
Programm steht) und umschreibt den Glückszustand, in dem man mühelos und
zugleich konzentriert in einer Aktivität aufgeht. Ursprünglich für den Kontext von
Extremsportarten entwickelt, stellte sich „Flow“ auch als Zustand höchster Kreativität
heraus und wurde bald zu einer Art goldenem Gral für Motivationstrainer. Inhaltlich
kommt dieser Zustand dem recht nahe, was John Dewey mit Rhythmus im Sinn hat –
auch wenn Dewey sicherlich der Nachgeschmack kapitalistischer
Leistungsmaximierung bitter aufgestoßen wäre.
Das Interesse an körperorientierter Auseinandersetzung mit Takt und Timing wächst
also. Sie wird gleichwohl besonders willkommen geheißen, wenn daran eine
Funktion geknüpft wird: bessere sportliche Leistungen, schnellere Entspannung,
höhere Kreativität. Rhythmus unabhängig von einer unmittelbar praktischen Funktion
wird jedoch im heutigen Abendland nicht ganz so begeistert aufgenommen.
Die Kehrseite eines Wertesystems, in dem Sprache und Melós oben und Rhythmus
unten stehen, manifestiert sich oftmals noch in einer idealisierenden Exotisierung des
ganz Anderen, welches bitte auch das Andere bleiben soll. Viele Zeitgenossen
tanzen gerne Tango oder Salsa, doch wenn es um den ästhetischen Rang dieser
Musikformen geht, wird manchmal ein fast kolonialer Gestus spürbar. Stellen Sie sich
bloß einmal vor, jemand würde ein kubanisches Salsaorchester mit den, sagen wir
einmal, Berliner Philharmonikern auf eine Stufe stellen! Es wird dann doch lieber,
halb sehnsüchtig, halb herablassend von der Lebensfreude der Latinos und ihrem
feurigen Temperament geschwärmt. Werden die Rhythmen zu komplex und für
europäische Ohren verwirrend, lobt man deren archaische Energie. Dabei wird
übersehen, dass doch, was Rhythmus angeht, das europäische Verständnis
archaisch zu nennen ist! Was den musikalischen und auch den nichtmusikalischen
Flow angeht, können wir von außereuropäischer Kultur und Philosophie noch viel
lernen! 14