Sabine Günther: „Widerstand und Lebenslust - Der zeitgenössische französische Philosoph Michel Onfray“

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http://perso.wanadoo.fr/michel.onfray SWR2 Wissen. Aus der Reihe S C H A U P L A T Z Redaktion: Tobias Krebs; Juergen von Esenwein; Sendung: Freitag, 21. Januar 2005, 8.30 h Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen. Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Einführung

Der 45-jährige Philosoph Michel Onfray bringt seit einiger Zeit frischen Wind ins französische Schul- und Universitätssystem. Als Autor von mehr als 20 Büchern und Lehrer plädiert er dafür, die gesamte Philosophiegeschichte auf ihr hedonistisches und libertäres Potential hin abzuklopfen. Er ist gegen Philosophie als Beruhigungspille und für eine Philosophie als Dynamit! Aus den Reizwörtern "Rebellion", "Anarchie" und "Libertinage" werden bei Onfray energische Aufrufe für ein selbstbestimmtes und genießerisches Leben. Vom öffentlichen Bildungssystem ab- und ausgestoßen, hat er sich 2002 im nordfranzösischen Caen mit einer privaten und kostenlosen Volksuniversität den geeigneten Rahmen für seine aufregend lehrreiche Redekunst geschaffen. Vor rappelvollem Auditorium und den Mikrofonen des öffentlichen Kultursenders bricht er lustvoll ein Tabu nach dem anderen, um zu beweisen, dass mit den Werkzeugen der Philosophen erstarrtes Denken wieder in Fluss gebracht und so das eigene Leben verbessert werden kann.
Zum  Schauplatz: Widerstand und Lebenslust (hier ohne Musik und O-Ton...)

Zitator: Die hedonistischen Philosophen mahnen: Vergesst nicht, dass ihr ei­nen Körper habt. Gebraucht ihn auf die beste Weise. Die Ewigkeit, aus der wir kommen und in die wir zurückgehen, wird lange dauern. Deshalb tut alles dafür, um euch in der Zwischenzeit eine fröhliche Existenz aufzubauen. Musik O-Ton 2 Montage aus sich überschneidenden Onfray-O-Tönen, ohne Übersetzung, eine Art Onfrayscher Klangteppich. Mit Musik montiert. Der Klangteppich dient nur der akustischen Vorstellung von Onfray. Die folgenden Zitate stimmen nicht mit den O-Tönen des Teppichs überein. Musik Zitator: Ich schlage eine Alternative zur herrschenden Ordnung vor, die für mich im hedonistischen Materialismus besteht. Man entwickle eine atomistische Theorie des Begehrens als Logik von Strömungen, die nach Expansion drängen. Man muss den Leib nehmen, wie er ist und die Seele als eine von tausend Modalitäten der Materie formulieren. Man schlage einen offenen, spielerischen, fröhlichen, dynamischen und poetischen Epikureismus vor. Man präzisiere die Modalitäten einer solaren Libertinage und eines leichten Eros Man lade zu einer Metaphysik des gegenwärtigen Augenblicks ein und zum reinen Genuss der Existenz. AnsagerIn: „Widerstand und Lebenslust – der zeitgenössische französische Philosoph Michel Onfray“, eine Sendung von Sabine Günther in der Reihe SCHAUPLATZ. Sprecherin 1: Michel Onfray, Jahrgang 1959. Doktor der Philosophie. Seit 2002 Di­rek­tor einer freien philosophischen Volkshochschule in Caen, Norman­die. Junggeselle. Bekennender Freigeist. Omnipräsent in den Me­dien, die mit seinem Widerspruchstalent Talkshows pfeffern. Er selbst aber ist für die tonangebende Pariser Gesellschaft und ihre Elite-Anstalten nicht zu sprechen, sondern bewegt sich mit viel Geschick zwischen den Fronten. Auf Fotos präsentiert er sich ausgesprochen fotogen, mit randloser Brille und verhalten aufsässigem Blick, als aufgeräumter, anpassungswilliger französischer Intellektueller; als säße er als Wissenschaftler fest im akademischen Sattel oder habe beste Aussichten auf eine verbeamtete Lebensstellung. – Doch das täuscht völlig. Onfray ist das ganze Gegenteil dieses Gelehrtentyps. Nichts scheint ihm verachtenswerter als die Schar der, wie er sie nennt, „Fachidioten“, die auf Staatskosten wirklichkeitsfremd Wissen anhäufe und es dann hilflosen Schülern und Studenten als blutleeren, nichtssagenden und opportunistischen Formelfraß vorsetze. Von den Schriften seiner diversen illustren Vorbilder Gaston Bachelard, Gilles Deleuze, Michel Foucault und Pierre Bourdieu genährt, lebt und schreibt Michel Onfray stolz und autonom wie ein Paria; er bespielt das Leben von der Außenkante her: herrenlos, ungläubig, respektlos. O-Ton 3, Michel Onfray, französisch A.: On crève de la prudence … Zitator: Wir werden noch daran zu Grunde gehen, immer Rücksicht nehmen zu wollen. Die Leute sind vorsichtig, berechnend, haben lauter Freun­­de. Nein, nein, ich will viele Feinde haben! Auf diese Weise ma­che ich mir ebenfalls viele Freunde. Ich behaupte tatsächlich, dass Gott nicht existiert, dass uns die Monotheismen anöden, dass Philosophen, die in Machtpositionen sind, keine Philosophen sind ... . Das bringt mir ebenso Freunde wie Feinde ein. Aber die Unvorsichtigkeit ist in meinen Augen eine größere philosophische Tugend als die Vorsicht. Sprecherin 2: Michel Onfray wuchs in dem normannischen Dorf Chambois auf, dessen Herz bis vor einigen Jahren im Rhythmus einer Käserei schlug. Da er die Welt nicht abstrakt interpretiert, sondern konsequent autobiographisch, und die Schlüsselereignisse seines Lebens zum Anlass für empfindsame und fein geschliffene Prosa nimmt, wis­sen die Leser seiner Bücher, dass es ihm als Kind vor der Fabrik graus­te, dass sie ihm wie ein monströses und phantastisches Tier erschien. Wenn er frische Milch vom Gutshof holen ging, verwandelten sich die Angestellten und Arbeiter vor seinen Augen in Marionetten, die er allmorgendlich im Bauch eines Leviathan verschwinden sah, eines menschenfressenden und menschenzerstörenden Ungeheuers. O-Ton 4, Michel Onfray, französisch A: Je procède d’un milieu modeste … Zitator: Ich komme aus bescheidenen Verhältnissen, und ich habe mir ge­schwo­ren, dass ich meiner Herkunft treu bleiben werde. Ich wollte die Demütigungen, die meine Eltern erfahren haben, niemals vergessen. Sie haben mich stark beeinflusst. Obwohl ich heute nicht mehr in dieser Welt lebe, versuche ich ihr treu zu bleiben. Ich möchte außerdem zurückgeben, was ich bekommen habe. ... Meine Eltern haben hart gearbeitet und konnten mir meine Fragen nicht beantworten. Ich wurde ins Internat geschickt und bin nur dank der Philosophie mit den Schmerzen meiner Jugend fertig geworden. Sprecherin 1: In den entscheidenden Jahren des Erwachsenwerdens schrieben sich - so Michel Onfray in seinem 2001 erschienenen Buch „Der Rebell – Ein Plädoyer für Widerstand und Lebenslust“ – „die Urerfahrungen einer Reizbarkeit erstmals in die Falten der Seele ein, von der man niemals mehr loskommt, was auch immer danach passieren mag.“ Zitator: Ich bemühte mich, diese Welt zu verstehen, indem ich las. Zunächst einmal Marx, denn er schien mir der einzige zu sein, der von den Verdammten sprach, der seine Gedanken ganz in den Dienst einer Revolte gestellt hatte, von der ich seither wusste, dass sie begründet und legitim war. Ich liebte Nietzsche, und die Linke erschien mir bereits wie meine einzig denkbare Familie. Ich war beunruhigt, was die Zukunft von Marx in unserem Jahrhundert anging: das marxistische Ideal fesselte mich, aber das sowjetische Schauspiel machte mich betroffen. ... Dann entdeckte ich die großen Texte der Anarchisten. Von diesem Moment an wusste ich, dass ich aus diesem Holz geschnitzt bin. Sprecherin 2: Michel Onfray studierte in Caen Philosophie, promovierte und unter­rich­tete danach neunzehn Jahre lang, von 1983 bis 2002, die Abiturjahrgänge einer Berufsschule in philosophischem Grundwissen. Er schreibt an gegen das asketische Ideal der jüdisch-christlichen Zivilisation. Fasziniert von Nietzsches Denken, das breiten Raum in On­frays Werk einnimmt, wirbt er für Lebenslust à la Epikur, Aristipp und Dio­genes. Sprecherin 1: Onfrays Begabung, philosophische Inhalte und Themen als spannende und mit vielerlei Gegenwartsbezügen versehene, gut lesbare Texte zu präsentieren, beschert ihm schnell kommerziellen Erfolg. Ebenso seine Kunst, antike Weisheiten als letzten Schrei des aktuellen, eines philosophischen Undergrounds zu verpacken. Sprecherin 2: Das war zu Beginn der neunziger Jahre. Damals kamen in Frankreich „Philosophische Cafés“ in Mode. Marc Sautet, Initiator des ersten Philo-Cafés in Paris und Betreiber einer philosophischen Praxis legte mit dem Bestseller „Ein Café für Sokrates“ den Grundstein für die euphorische Wiedergeburt der Philosophie im Zeichen therapeuti­schen Handelns. Hintergrundgeräusche in französischem Philo-Café. Sprecherin 1: Obwohl Michel Onfray von der Masse der Caféhausphilosophen auf Hän­den getragen wurde, ließ er sich nicht dazu hinreißen, seinen Hedonismus zu Dumping-Preisen zu verkaufen. Wer glaubte, bei ihm den schnellen Weg zum Glück zu finden, wurde schwer enttäuscht. So spielerisch in der Anleitung zur „solaren Erotik“ die „Eskapaden des masturbierenden Fisches, die „Possen des epikureischen Schweins“ und die „Tugenden des alleinstehenden Igels“ daherkamen, so energisch pochte Onfray an anderer Stelle auf ein nietzscheanisches, ein tragisches Verständnis des Hedonismus, bei dem die Sorge um sich die Bedeutung einer Anti-Moral hat, einer Herausforderung des Todes und einer kämpferischen Gestaltung des Lebens. Sprecherin 2: Verkörpert sieht Onfray seine Form des Hedonismus in der Gestalt des „Libertin“, einem radikalen Widerspruchs- und Freiheitsgeist, Kind der geschichtlich in Frankreich verankerten und bis heute aktiven libertären und anarchistischen Bewegung. Zitator: Der Libertin, in der ersten Bedeutung des Wortes, bezeichnet je­manden, der sich von allen gesellschaftlichen Zwängen frei gemacht hat und dem nichts über seine Freiheit geht. Er erkennt keinerlei Autorität an, die ihn kontrollieren könnte, weder auf dem Gebiet der Religion noch auf dem der Sitten. Er lebt immer entsprechend den Prinzipien einer autonomen Moral, die sich so wenig wie möglich nach der vorherrschenden Moral der Epoche und der Zivilisation richtet, in der er sich bewegt. Weder Götter noch Könige können ihm Fesseln anlegen – und noch weniger ein Partner oder eine Partnerin in einer amourösen, sinnlichen, sexuellen oder spielerischen Beziehung. Sprecherin 1: Michel Onfray plädiert für den hedonistischen Gebrauch des Lebens. Alles sollen wir dafür tun, um uns auf Erden eine fröhliche Existenz aufzubauen. Wer möchte dieser Empfehlung nicht folgen, stünden die Zwänge der Moral und des sozialen Alltags nicht in so eklatantem Widerspruch zu ihr. Folgt man Onfray, ist das richtige, sprich: hedonistische Leben, eine Frage des Wissens und der Einstellung. Nicht einmal neue Konzepte müssen dafür her; sie wurden alle schon formuliert und sind bei richtiger Anwendung ausgesprochen wirksam. Je nachdem, ob er die ethische oder politische Dimension des Hedonismus behandelt, stützt sich Onfray entweder auf die vor-christliche Antike oder auf den nach-christlichen Poststrukturalismus. Dazwischen liegen für ihn jene verhängnisvollen 2000 Jahre Kultur- und Zivilisationsgeschichte, die vom platonischen Idealismus, vom Christentum und dem deutschen Idealismus eines Kant sowie der Staatsvergottung Hegels bestimmt worden sind. Um sich einen athe­is­tischen, lebensbejahenden und spielerischen Hedonismus zu eigen machen zu können, müsste man sich zuallererst vom Glauben an ein besseres Jenseits befreien und bereit sein, das eigene Leben bewusst in die Hand zu nehmen. Onfray in seiner „Theorie des verliebten Körpers“: Zitator: Der Tod siegt als Vorbild in den geforderten festen und starren For­men: das Paar, die Treue, Monogamie, Vaterschaft, Mutterschaft, He­terosexualität und all die gesellschaftlichen Formen, die die sexuelle Energie fesseln und binden, um sie in einen Käfig zu sperren, zu domestizieren, wie Bonsais zu behandeln, in den Krämpfen und Verengungen, Verdrehungen und Behinderungen, Anspannungen und Hemmnissen. Die vorherrschenden Religionen und Philosophien verbünden sich immer (auch heute noch), um einen Bannfluch über das Leben auszusprechen. Eine Theorie der Libertinage setzt einen Atheismus voraus, der auf dem klassischen Gebiet der Liebe geltend gemacht und traditionellerweise durch einen kämpferischen Materialismus verstärkt wird. Sprecherin 2: Wie sieht dieser „kämpferische Materialismus“ bei Onfray aus? Vom his­torischen Anarchismus und den Situationisten um Guy Debord ebenso beeinflusst wie von den Konzepten einer Mikrophysik der Macht bei Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari, hält er eine revolutionäre Massenbewegung für nicht mehr zeitgemäß. Er setzt seine Hoffnungen auf punktuelle, mobile libertäre Aktionen, in denen eine Haltung, eine Art zu sein, eine Weise des Sprechens und des Handelns zu Zeichen des manifesten Widerstands gegen die „liberale Kontrollgesellschaft“ werden. Sprecherin 1: Onfray braucht die Theorie, um sich der Praxis zu versichern. Aus bereits vorhandenen Konzepten filtert er eine philosophische Betrachtung des Lebens heraus, bei der die Phantasie, die fünf Sinne und das sensuelle Verhältnis zur Sprache eine größere Rolle spielen als die Frage nach der Macht. Sein wesentliches Vorbild sind die antiken Vorsokratiker, die ihre Philosophie auf der Straße verkündeten und wie ein Lebenselixier verteilten. O-Ton 5, Michel Onfray, französisch Zitator: Es gibt keine antike Philosophie ohne philosophisches Leben. Die Philosophie wurde pervertiert, indem ihr die Aufgabe zugeschrieben wurde, Philosophen auszubilden. Aber das ist, auch wenn es heute noch gang und gäbe ist, nicht ihre Aufgabe. In der Folge von Michel Foucault und Nietzsche breitete sich die Idee aus, dass man Denken und Leben nicht trennen muss, dass man das Philosophieren dazu benutzen kann, die Welt und sich selbst zu verändern. Auf diese Weise wird das alte christliche Prinzip umgekehrt, demzufolge der Philosoph nur dazu diente, die Philosophiegeschichte zu reproduzieren. Sprecherin 2: Wer meint, es handle sich bei dieser Forderung lediglich um Wort­hül­sen eines frustrierten Philosophielehrers, der in seiner kalten Provinz mit bitterer Vergeltungslust an die besser dotierten Kollegen an der Sorbonne und am Collège de France denkt, täuscht sich abermals! Michel Onfray ging vor zweieinhalb Jahren zwar nicht, wie seine antiken Vorbilder, auf die Straße, aber er gab seine feste Anstellung als Lehrer auf, um mit einigen Freunden eine alternative unentgeltliche philosophische Volksuniversität zu gründen. Sprecherin 1: Bevor er dem staatlichen Ausbildungssystem und dem offiziellen Un­ter­richtsstoff adieu sagte, gab er seinen Berufsschülern noch schnell ein philosophisches Anti-Lehrbuch mit auf den Weg. Es beginnt mit der Frage: Solltet ihr zu Beginn des Schuljahres euren Philosophielehrer verbrennen? Nicht sofort, antwortet der Autor immerhin, gebt ihm noch eine Chance! Vielleicht ist euer Lehrer diesmal nicht der langweilige Beamte, den ihr erwartet, sondern ein echter sokratischer Ausbilder! Sprecherin 2: Onfrays Ziel, Anti-Philosophiegeschichte zu betreiben und zu lehren, konn­te dem staatlichen Bildungssystem nach der Veröffentlichung des „Anti-Manuel“ kaum mehr verborgen bleiben. Seine Verabschiedung als Lehrkraft wurde auf die Tagesordnung gesetzt. Wer Kant, Hegel und Descartes verachtet und an ihre Stelle die Vorsokratiker und Kyniker auf das Unterrichtsprogramm setzt, sowie Diderot, Li­bertins wie Charles Fourier und die Situationisten, passt nicht in den aka­demischen Lehrbetrieb. Obendrein fordert On­fray dazu auf, deren Ideen für das eigene Leben zu benutzen, hat an republikanischen Schulen tatsächlich nichts verloren – meinte jedenfalls die Kultusverwaltung. Kurze Zeit darauf schuf Michel Onfray mit Gleichgesinnten eine neue Vermittlungsplattform in Caen. Im Herbst 2002 eröffnete er die erste freie philosophische Volkshochschule, ein Unikum in Frankreich, wo es kaum Alternativen zum offiziellen Schul- und Universitätsbetrieb gibt. O-Ton 6, Michel Onfray, französisch Zitator: Als wir die Volks-Universität eröffnet haben und ich unsere Truppe vorstellte, standen 600 Leute vor der Tür. Die Sicherheitskräfte des Kunst-Museums in Caen mussten viele Zuhörer zurückweisen; es kam fast zu einem Aufruhr. Seitdem hat sich die Zahl der Zuhörer auf 300 bis 350 eingespielt, die zu meiner Vorlesung über hedonistische Philosophie kommen. Sprecherin 1: Kaum jemand erinnert sich noch daran, dass die freie Volkshochschule bzw. Volksuniversität vor über hundert Jahren in Frankreich schon einmal existiert hat. O-Ton 7, Michel Onfray, französisch Zitator: Die Volksuniversität, im Jahre 1898, ins Leben gerufen. Das denken die Franzosen, aber eigentlich existiert sie zuerst in den skandinavischen Ländern und kommt nach der Dreyfus-Affäre nach Frankreich. Die Intellektuellen gingen damals auf die Arbeiterklasse zu, um sie in Demokratie zu unterrichten. Seit 1848 bestand das Wahlrecht, und man war der Meinung, dass es gut wäre, die Leute etwas mehr aufzuklären, damit sie auf intelligente Weise wählen können. Inzwischen ist viel Zeit vergangen, aber das Anliegen ist immer noch dasselbe: Ich finde, dass man den Zugang der Menge zum Wissen noch mehr demokratisieren sollte. Seitdem es unsere neue Volksuniversität gibt, besteht die Alternative nicht mehr zwischen der Universität und dem philosophischen Café. Ich denke, man sollte das Beste von der Universität behalten, nämlich die Vermittlung von Wissen auf hohem Niveau und Seminare, die mit der Forschung verbunden sind. Und vom philosophischen Café wird bewahrt, dass es kostenlos ist, dass man kommen und gehen kann, wie man will und dass man jederzeit Fragen stellen kann. Und dann sollten wir das am wenigsten Interessante streichen, das in beiden Strukturen vorhanden ist: die Reproduktion des sozialen Systems durch die Universität, die klassische Vermittlung der Philosophie am Beispiel von Hegel, Descartes und Kant, den Prüfungsdruck ... und beim philosophischen Café streichen wir den Happening-Aspekt, den Gruppen- und Sprachtherapie-Effekt. Sprecherin 1: Onfray stellte für den Aufbau der philosophischen Gemeinschaft ein 5-Punkte-Programm auf und fordert: Zitator: Gegen die akademische Beschneidung der Philosophie. Gegen ihre Unterwerfung unter die nihilistischen Werte des freien Marktes! Eine pragmatische und gebrauchsfähige Theorie! Die Einführung des kostenlosen Philosophieunterrichts von der Kindheit an! Zugänglichkeit der Philosophie für all jene, die sie sich aneignen wollen, um an sich zu arbeiten und beim Aufbau der eigenen Subjektivität als souveräne Nomaden Unterstützung einfordern.  Sprecherin 2: Nach und nach werden weitere Volksuniversitäten eröffnet. Sie stüt­zen sich auf die von Kollege Pierre Bourdieu geforderten „kollektiven Intellektuellen“. Die Zuhörerschaft bildet die von Onfray geforderte Mikro-Gesellschaft, in der der Philosoph eine kritische Haltung sich selbst und den anderen gegenüber einnimmt und in der er eine Praxis des subversiven Denkens verankert. Deshalb besteht jede Vorlesung aus zwei Teilen: dem Vortrag und der Diskussion. Sprecherin 1: Im Studienjahr 2002/2003 sprach Onfray über das Christentum. Radikal atheistisch und der Marxschen These folgend, dass Religion „Opium des Volks“ sei, interpretierte er die Entwicklung des jüdisch-christlichen Glaubens als ideologisches Konstrukt. Vehement attackierte er das asketische Ideal, das Körper und Geist trennt, die Verheißung des Glücks in ein Jenseits verlegt und die Entfremdung des Menschen als naturgegeben hinnimmt. Sprecherin 2: Das war einem Teil seiner Zuhörerschaft zuviel. Es ging auf die Barrikaden. War er mit seinen Angriffen auf das Christentum angesichts einer immer noch überwiegend katholisch geprägten französischen Öffentlichkeit zu weit gegangen? Hätte er weniger stark darauf pochen sollen, dass es mit Ausnahme des Abtreibungsgesetzes von 1974 kein einziges Gesetz in Frankreich gibt, das nicht vor dem Hintergrund christlicher Ethik- und Moralcodes erlassen wurde? Onfray ist kein Mann der Konzessionen. Eher würde er auf die Hälfte seines Pub­likums verzichten, als seine atheistischen und libertären Überzeugungen auf Verträglichkeit mit der sogenannten „öffentlichen Meinung“ zuzuschneiden. O-Ton 8, Michel Onfray, französisch Zitator: Machen Sie etwas aus den Informationen, die ich Ihnen über Jesus ge­geben habe. Und erwägen Sie selbst, ob er wichtig ist oder nicht, ob Sie sich, wie Erasmus sagte, von der Philosophie eines Jesus inspirieren lassen können. Aber im Hinblick auf die Religionen sage ich Ihnen, dass ihre Existenz überholt ist. Ich bin mir absolut nicht sicher, ob die Wiedergeburt der Religionen das Beste ist, was uns augenblicklich passiert. Die Frauen sollten nicht eine Sekunde lang die Erneuerung der Religionen für wünschenswert halten, denn sie sind immer deren erste Opfer gewesen und sind es heute noch. (Beifall). Sprecherin 1: Kaum hatten die Vorlesungen in Caen begonnen, schon wurde die Idee der Volksuniversität in allen Medien gefeiert. Vom explosiven Inhalt seiner Lehre kaum beeindruckt, lagen Presse, Rundfunk und Fernsehen Onfray vor allem deshalb zu Füßen, weil Philosophie schon lange nicht mehr so spektakulär, verständlich und genussvoll, offensiv, humorvoll und engagiert vorgetragen worden war. Der nationale Kultursender „France Culture“ setzte im Sommer 2003 das komplette erste Vorlesungsjahr von Onfray aufs Programm; gleichzeitig erschien eine erste Edition der Vorlesungen unter dem Titel „Gegen-Geschichte der Philosophie“ auf zwölf CDs. Der erste Ableger der normannischen Volksuniversität ging in den Sommerferien nach Ajaccio auf Korsika. Sprecherin 2: 2004 lebten die Hörerinnen und Hörer von France Culture zwei Sommermonate lang erneut im Rhythmus der Onfrayschen Emphase. Diesmal ging es um Michel Montaigne – für Michel Onfray eine Art ‚alter Ego’. Beiden ist die Gratwanderung zwischen Literatur und Philosophie eigen. Beide suchen nach dem richtigen Leben am Leitfaden philosophischer Weltbetrachtung. Und es mangelt beiden Wer­ken an der Entwicklung von Konzepten, woran, Gilles Deleuze zufolge, ein echter Philosoph zu erkennen sei. O-Ton 9, Michel Onfray, französisch Zitator 1 : Ich [hingegen] meine, dass Montaigne ein Philosoph ist, auch wenn er kein einziges philosophisches Konzept geschaffen hat. Heute gibt es viele Leute, die der Meinung sind, dass die Schaffung von Neologismen ausreicht, ein Philosoph zu sein, weil es Gilles Deleuze so gefordert hat. Deleuze ist wie Sartre einer der letzten großen Philosophen, dessen methodologische, phänomenologische Auffassung der Philosophie aus dem 19. Jahrhundert stammt. Ich bestehe meinerseits darauf, dass wir eine Traditionslinie wiederfinden müssen, in der es einerseits „Philosophen“ und andererseits „Weise“ gibt. (...) Ich glaube, dass diese Unterscheidung die Frage nach der Zukunft der Philosophie erhellen kann. Sprecherin 1: Den von seiner Liebe zu extremen Formulierungen hingerissenen Onfray hört man in einer Vorlesung sagen, dass nur jener Philosoph groß sei, der keine Konzepte geschaffen habe. Zum Beweis der The­se knöpft er sich Immanuel Kant und seine „Kritik der reinen Vernunft“ vor, die – so Onfray - weder Kant noch einem seiner Leser ein phi­losophisches Leben gelehrt und ermöglicht habe. Die antiken Denker dagegen seien keine konzeptentwickelnden Philosophen im modernen Sinne, dafür aber echte Weise gewesen. Und Nietzsche? – als Lebensführer sonst sehr ausgiebig zitiert, fällt in diesem Falle mit seinen Konzepten unter den Tisch. Das liegt vor allem daran, dass Nietzsche diese so angelegt hat, dass sie sich gegenseitig aufheben. Nietzsche wollte anregen, keine schlüssigen Konzepte geben. Sprecherin 2:Soviel Verwirrung um die Konzeptualität der Philosophie? – Dahinter darf ein massiver Rechtfertigungsdruck gegenüber der staatlich verankerten, legitimierten philosophischen Lehre und Forschung vermutet werden. Philosophie und Leben sind immer noch zwei getrennte Bereiche, und sie sollen es, geht es nach – tatsächlichen oder selbsternannten - Experten, auch bleiben. Darauf erwidert Onfray: Zitator: Ein Denken, das weder auf das Handeln abzielt noch es wünscht, ist ohne Belang. Die reine Spekulation wiegt in der Philosophie genauso schwer wie ein Konzil der Kirchenväter, das müßige Fragen verhandelt und dessen eigentlicher Grund in etwas ganz anderem liegt, nämlich in der Anwendung der Rhetorik, die die Aufteilung der christlichen Welt und die reale politische Herrschaft zum Zwecke hat. Sprecherin 1: Als im 20. Jahrhundert Dadaisten, Surrealisten und – im Vorfeld der 68’er Studentenrevolte – die Situationisten forderten, Kunst und Leben zusammenzuführen, das Leben poetisch und die Kunst politisch zu machen, nannte man sie „Avantgardisten“, so radikal erschien der bürgerlichen Gesellschaft ihr Anliegen. Nichts anderes versucht gegenwärtig Michel Onfray mit seinen Lektionen in Philosophie. Auch wenn er der Theorie keine neuen Konzepte hinzufügt, weiß er doch, wie man sie neu beleuchtet und so synthetisiert, dass die grundlegenden Fragen des Lebens zum Vorschein kommen. Sprecherin 2: Onfray schreibt auf dem schmalen Grat, den die Literatur als Ge­fühls­motor von der sachlichen Beweisführung philosophischer Fragen trennt. Seine sprachintensiven Gedankenspiele sind den Werken französischer Philosophenkünstler bzw. Künstlerphilosophen wie Georges Bataille, Gaston Bachelard, Roland Barthes, Jean Baudrillard und anderen absolut ebenbürtig. Immer wirbt sein strikt persönlicher Stil für eine möglichst umfassende Teilhabe des Körpers an der Le­benswirklichkeit, ebenso für eine Intensivierung der Gefühle und gelingendes Leben, dessen ästhetische Dimensionen anders nicht zu fassen wären. In einem seiner eindrucksvollsten Werke, in „Formen der Zeit – Eine Theorie des Sauternes“ feiert Onfray in faszinierender Sprache den zu wahrer Lebenslust fähigen Körper, der, daraus folgend, bereit ist zum Widerstand gegen einen menschenverachtenden und menschenverbrauchenden Staatsleviathan.
Zitator: Der Wein aus Sauternes ist mehr als jeder andere eine Ausnahme, und das gilt in bezug auf die Weinberge des Bordelais wie die ganz Frankreichs, wenn nicht gar weltweit. Er bietet also eine Chance, in der alleinigen Perspektive der hedonistischen Zeit folgende Dinge zu zelebrieren und zu feiern: die aus Wahlverwandtschaften hervorgegangene Gemeinschaft, die Freundschaft, die – neben der Liebesleidenschaft vielleicht – den erhabendsten Trank darstellt; das Talent für Konversation, Sprache und Korrespondenzen, subjektive Synästhesien ...; das Umfeld und die Künste der Tafel, die besonders betont werden: es bedarf optimaler Bedingungen, um diese Zeit zu erleben ... und kennen zu lernen.
Auswahlbibliographie Onfray, Michel: Der Bauch der Philosophen, Kritik der diätetischen Vernunft, Frankfurt am Main (Campus Verlag) 1991 Onfray; Michel: Der Philosoph als Hund. Ursprung des subversiven Denkens bei den Kynikern, Frankfurt am Main (Campus Verlag)1991 Onfray, Michel: Der sinnliche Philosoph. Über die Kunst des Geniessens. Frankfurt am Main (Campus Verlag) 1992 Onfray, Michel: Philosophie der Ekstase, Frankfurt am Main (Campus Verlag) 1993Onfray, Michel: Die geniesserische Vernunft. Die Philosophie des guten Geschmacks, Zürich (Elster Verlag) 1996 Onfray, Michel: Formen der Zeit. Eine Theorie des Sauternes, Berlin (Merve) 1999 Onfray, Michel: Der Rebell. Ein Plädoyer für Widerstand und Lebenslust, Stuttgart (Klett-Cotta) 2001 Onfray, Michel: Theorie des verliebten Körpers, Berlin (Merve) 2001