Raimund Allebrand: Das Medium ohne Botschaft . Wie der digitale Event unser Leben ersetzt

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Der digitale Event ersetzt unser Leben

SWR2 Wissen: Aula - Raimund Allebrand: Das Medium ohne Botschaft . Wie der digitale Event unser Leben ersetzt
Sendung: Montag, 25. Mai 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

AUTOR
Raimund Allebrand studierte Philosophie, kath. Theologie und Psychologie. Auf Tätigkeiten in Hochschule und Erwachsenenbildung und einen längeren Forschungsaufenthalt in Südspanien folgte ein Volontariat als Nachrichtenjournalist. Allebrand arbeitete als Hörfunkredakteur und Dozent in der Journalistenausbildung sowie freiberuflich als Fachjournalist und Buchautor. Heute praktiziert er als Psychotherapeut mit eigener Praxis in Bonn.
Buch:
- Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn – Wie man mit Coolness sein Leben ruiniert. ehp-Verlag. 2013.
Homepage:
www.raimund-allebrand.de

ÜBERBLICK
Womöglich wäre der Medienkritiker Marshall McLuhan heute verblüfft zu erleben, wie genau seine zu Beginn des Fernseh-Zeitalters formulierte Prognose Jahrzehnte später realisiert ist: The medium is the message. Das Medium wurde in der Tat zur Botschaft und entwickelt jetzt sein Eigenleben. Digitale Medien ersetzen zunehmend die Realitäten unseres Lebens und damit in wachsendem Maße auch uns selbst. Das Internet bietet einen konkurrenzlosen Weg, herauszutreten aus der Anonymität des eigenen Lebensvollzuges und sich auf den Social-Media-Plattformen zu stilisieren. Und wo bleibt das wirkliche Leben? Der Journalist, Buchautor und Psychotherapeut Raimund Allebrand präsentiert eine aktuelle Medienkritik.

 

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Medium ohne Botschaft – Der digitale Event ersetzt unser Leben".
Sie haben richtig gehört, wir leben nicht mehr richtig, einfach so in der Realität, wir leben als künstlich aufgeblähte Inszenierungen auf Facebook oder Twitter oder sonstwo im digitalen Nirwana, wir blähen uns und unser Leben zum permanenten Event auf: Schaut her, was ich Tolles gekocht habe, guckt, wie ich lebe, wie wunderbar mein Urlaub war! Das ist zum Lebensersatz geworden, deshalb ist es für jeden User wie ein kleiner Tod, wenn er mal offline ist.
Ja, richtig, das ist die gute alte Tradition der Medienkritik, aber das macht sie nicht unwahrer. Raimund Allebrand, Journalist, Buchautor, Psychotherapeut, zeigt, warum wir das wirkliche Leben verloren haben, bei ihm begann der Verlust während der Zugfahrt.
Raimund Allebrand:
Ein Bekenntnis zum Unbehagen an der Kultur, genauer am Verweilen in der Deutschen Bahn. Vor allem auf den Kurzstrecken des Nahverkehrs zwischen der rheinischen Metropole Köln und meinem Wohnort Bonn ist mir Zugfahren zusehends verleidet. Nicht chronische Verspätung, verschmutzte Waggons und überfüllte Abteile auf dem Serviceniveau eines Schwellenlandes sind der Grund. Mein Missbehagen reicht tiefer: Beim Aufenthalt in den Abteilen der Bahn fühle ich mich zunehmend nutzlos und verloren. Wie kann es dazu kommen?
Halbstündige Fahrten im Nahverkehrszug überbrücke ich wie ehedem mit Lektüre der Tageszeitung, schaue für Minuten dösend aus dem Fenster, beobachte insgeheim die Mitreisenden – letztere allesamt mit Dingen beschäftigt, die unaufschiebbar sind. Verdrahtet und vernetzt starren sie konzentriert auf kleine Bildschirme, bewegen Augen und Daumen im Fluss einer atemlosen Mitteilung – mit einem Wort: Sie sind online und deshalb momentan sozial isoliert. Gleichzeitig tätigen sie permanent einen ebenso simultanen wie digitalen Verkehr, der indes an mir vorüberzieht.
Denn es gibt mich gleichsam gar nicht auf dieser Strecke zwischen Köln und Bonn. Und das ist ziemlich das Gegenteil eines angenehmen Gefühls. An meiner grenzenlosen Unwichtigkeit während dieser Bahnfahrten besteht kein Zweifel. Auf einen Blickkontakt zu hoffen geschweige denn einen Wortwechsel mit anderen Reisenden, wäre wohl Übermut. Zudem: Kein Schwein ruft mich an. Was auch schwierig wäre, denn über ein Smartphone verfüge ich nicht und mein Handy bleibt ausgeschaltet, weil mir Klingeltöne während der Fahrt peinlich sind. Was also ist zu tun?
Drei Lösungen bieten sich an zur Verbesserung des Selbstgefühls: Nicht länger Bahnfahren (damit würde mein Leben kompliziert) oder sich ebenfalls ein Smartphone besorgen (was einer Kapitulation gleich käme); oder aber ich überprüfe generell mein Verhältnis zur digitalen Medienwelt, zu ihren Botschaften und den damit verbundenen Emotionen. Damit sind wir beim Anlass dieses Beitrags.
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Womöglich sind meine Selbstzweifel das Ergebnis eines Irrtums, der sich aufklären ließe, einer simplen Verwechslung mithin, die sich berichtigen lässt. Vereinfacht gesagt wird es zum Problem, dass ich während des Berufsverkehrs zwischen Köln und Bonn nichts Dringendes zu tun habe, nichts Unaufschiebbares jedenfalls, das sich nicht ebenso nach der Ankunft erledigen ließe. Deshalb habe ich medial und simultan nichts mitzuteilen. Unterdessen tätigen andere Reisende einen zeitgleichen Datenverkehr, empfangen wichtige Botschaften und senden dringende Nachrichten, oder sie recherchieren im Internet nach Information, die scheinbar unverzichtbar sind.
Nehmen wir an, es ginge durchaus nicht um Wichtigkeit und Dringlichkeit, sondern lediglich um, sagen wir, unterschiedliche Konzepte von Normalität. Das würde einiges ändern. Der Online-Modus wäre dann gleichsam der Normalzustand, mit allen Konsequenzen, die das mit sich brächte. Wer einmal beobachtet hat, mit welcher Hast Flugreisende nach der Ankunft ihre Mobiltelefone wieder in Betrieb nehmen, muss ans Nachdenken kommen. Oder auch nicht, denn eine permanente Erreichbarkeit gilt in unserer Alltagskultur längst als normal und selbstverständlich und somit als alternativlos.
Zwar haben wir uns immer weniger zu sagen, doch wir bewerkstelligen
dieses kommunikative Burnout 24 Stunden täglich mit atemberaubender Aktualität. Wer zuweilen in Zug oder Restaurant unfreiwillig Zeuge eines x-beliebigen Handy-Dialogs wird, kann davon Lieder singen. Was hier stattfindet, ist die permanente Affirmation von Relevanz, leider ohne hinreichenden Grund. Denn Bedeutsamkeit lässt sich aus der simultanen Informationsübermittlung nicht ohne weiteres ableiten. Und die Frage nach Dringlichkeit oder gar Unverzichtbarkeit wird in den meisten Fällen souverän ignoriert. Es besteht die technologische Option der Gleichzeitigkeit, also muss sie genutzt werden. Inhalte sind hier nebensächlich, entscheidend ist meine Teilnahme am simultanen und digitalen Datenverkehr.
In zurückliegenden Zeiten vor der großräumigen Digitalisierung wurden die damals schnellen Medien eher selten eingesetzt und nur bei entsprechender Veranlassung. Ein Telegramm beispielsweise kündete immer von Wichtigkeit, der Inhalt war oft nicht angenehm, zuweilen ging es um Leben oder Tod. Heute ist es gerade umgekehrt: Eine Relevanz wird über elektronische Medien erst hergestellt. Und zwar mühelos. Das flächendeckend verbreitete Mobiltelefon und seine Aura ständiger Erreichbarkeit bringt uns die Illusion einer permanenten Nachfrage. Tatsächlich ist sie aber selten gegeben.
Wer nicht gerade als Notarzt arbeitet, im Minutentakt an der Börse über Millionen entscheidet oder einen dringenden familiären Zwischenfall betreut, tätigt per Handy in der Regel einen Nachrichtenverkehr, der keineswegs notwendig ist, sondern terminlich zumeist aufschiebbar, wenn nicht ohnehin überflüssig. Allerdings verlöre damit das Telefon eine wichtige Funktion: unsere Einbindung in gesellschaftliche Bezüge zu unterstreichen und damit unsere soziale Relevanz; uns also einzureden, dass wir unverzichtbar sind. Wer nicht täglich eine gewisse Anzahl zumeist inhaltsleerer SMS erhält oder auf seinem Web-Profil zigfach besucht wird, ist offensichtlich nicht gefragt und muss sich Sorgen machen um seine soziale Akzeptanz.
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Lange Zeit war das Modell von Sender und Empfänger ein fester Bestandteil nahezu jeder Medientheorie, bis es im Internet-Zeitalter obsolet wurde. Theoretisch soll zwischen dem Urheber einer Nachricht und ihrem Adressaten eine Botschaft auf den Weg kommen, die sich eines mehr oder minder schnellen Mediums bedient. Die entsprechende Auswahl wäre demnach abhängig von der Relevanz des Inhalts. Dieses Konzept ist nun allerdings hoffnungslos veraltet und Relevanz als Kriterium hat längst ausgedient, denn: Das Medium selbst wurde zur Botschaft!
Der Visionär Marshall McLuhan wäre heute womöglich verblüfft zu erleben, wie genau seine zu Beginn des Fernseh-Zeitalters formulierte Prognose Jahrzehnte später realisiert ist: The medium is the message.
Das Medium ersetzt die Botschaft und entwickelt jetzt sein Eigenleben. Als wirklich gilt eine medial konstruierte Realität. Medien ersetzen zunehmend die Realitäten unseres Lebens und damit in wachsendem Maße auch uns selbst. Kein Wunder, wenn man sich da zuweilen überflüssig fühlt.
Das Internet bietet einen konkurrenzlosen Weg, um herauszutreten aus der Anonymität des eigenen Lebensvollzuges. Gleichzeitig signalisiert es Aktualität und Relevanz und bedient ein Profilierungsbedürfnis von Zeitgenossen, die private Lebensvollzüge ohne gesellschaftliche Bedeutung im Cyberspace publizieren. Über diese Präsenz im universalen Medium lässt sich eine zumindest gefühlte Prominenz leicht erlangen. Wer es genauer wissen will, kann periodisch über die jeweiligen Zugriffszahlen feststellen, ob sich eine anonym bleibende Öffentlichkeit mehr oder minder zufällig auf seine private Website verirrt hat. Direkter ist allerdings die Kommunikation über Chat-Rooms, die einen Dialog über Themen und Ereignisse simultan ermöglichen, am aktuellsten über die angesagte WhatsApp.
Manchem ersetzt die Usergemeinde seines Profils seines Profils im Internet einen Freundeskreis. Ohne Internet-Präsenz und die damit mögliche Teilhabe unzähliger sogenannter "Freunde" am eigenen täglichen Lebensvollzug wäre man gleichsam ein halber Mensch. Jüngere Nutzer können sich zumeist nicht erinnern, dass dies jemals anders gewesen sei.
Digito, ergo sum - ich bin digital, also gibt es mich. Ein vom SMS-Verkehr geprägtes Kommunikationsgebaren im Telegramm-Stil wirft seine Schatten auf das Gesprächsverhalten ganzer Generationen. Schüler der Mittelstufe, die sich nach dem Unterrichtsende hastig verabschieden, um von zuhause über SMS und Chat sofort wieder in Kontakt zu treten, sind keine Seltenheit. Gemessen an den Anwendungsmöglichkeiten des elektronischen Mediums scheint ein Gespräch unter vier Augen
weniger attraktiv. Dass die Mitteilungsdichte am Ende auf wenige Worte begrenzt bleibt, die über floskelhafte Anrede kaum hinausgehen und sofort vom Gegenüber mit ebensolchen Floskeln beantwortet werden, ist manchem Nutzer kaum noch bewusst. Trumpf ist lediglich eine Unmittelbarkeit und Aktualität der Übermittlung. Die elektronische Kommunikation gleicht somit einem fortgesetzten Monolog. Ein dürftiger Inhalt konterkariert die scheinbare Dringlichkeit der Botschaften.
Real ist jedoch eine medial vermittelte Welt. Teilhabe um jeden Preis, man könnte sonst etwas versäumen. Eingebettet in den Zusammenhang elektronischer Medien,
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die generell Wichtigkeit und Prominenz signalisieren, wird noch der kleinste persönliche Nutzungsanlass scheinbar zum Event.
Wie schon gesagt, das Medium wurde zur Botschaft. Ein weitgehender Verzicht auf Inhalte bei gleichzeitiger Betonung einer großformatigen medialen Darstellung prägt neben der elektronischen Medien-Kultur aber auch die gegenwärtige Event-Landschaft – und es mangelt nicht an Beispielen, dies zu belegen.
Als Irlands Touristenattraktion Nummer eins firmiert heute nicht eine historische Gedenkstätten wie die St. Patricks-Kathedrale oder das Trinity-College, sondern ein Brauerei-Disneyland namens Guinness Storehouse. Seit der Eröffnung im November 2000 folgten rund fünf Millionen Besucher dem legendären Ruf der irischen Biermarke und fanden den Weg in ein Dubliner Industrieviertel, das ein aufwendig konvertiertes ehemaliges Lagerhaus beherbergt. Keineswegs, dass man hier dem Brauer über die Schulter sähe, denn Produktion und Vermarktung des Gerstensaftes wurden längst schon weltweit ausgelagert. Wer aber bereit ist, einen bescheidenen Betrag zu investieren (15 Euro, zum Vergleich: Prado 12 €, Louvre 10 €), wird über Förderbänder und Rolltreppen durch ein simuliertes Brauerei-Imperium geleitet; erlebt auf Großleinwänden Hopfenfelder, die sich im Winde wiegen, hört die wahre Geschichte von Arthur Guinness und seinem Bier und bald schon auch das Plätschern eines rot-braunen Gebräus, wie es aus der Flasche ins Glas schießt; erhält tiefe Einblicke in die Geschichte eben jenes Industriegebäudes, das er soeben bevölkert; und darf zum Abschluss in 46 Metern Höhe ein Pint Original-Guinness genießen mit kostenlosem Rundblick über Dublin, dabei erfüllt vom schmeichelhaften Gefühl, soeben von Millionen Fans rund um den Globus beneidet zu werden.
Sofern er nicht zuvor im viele hundert Quadratmeter messenden Guinness-Store des Grundgeschosses hängen blieb, das alle erdenklichen Mitbringsel, Andenken, Kleidungsstücke und Merchandise-Produkte zu überteuerten Preisen, aber mit dem Werbeaufdruck der Firma feilbietet. Ähnlich zwei Dutzend großformatiger Shops mit gleichem Sortiment – deren flächendeckende Verteilung über die Innenstadt vermuten lassen, dass sämtliche Einwohner Dublins längst im Sold einer Brauerei stehen, die sich ihrerseits als globales Kulturereignis feiern lässt und durch Hunderttausende Besucher jährlich in diesem Nimbus bestätigt wird: Wenn Dublin, dann Guinness! An die Stelle von Lebensstil, Ideologie und Weltanschauung tritt hier das Branding einer Biermarke und macht alle Anstalten, erstere zu ersetzen.
Zum Jahrestag des Untergangs der Titanic im April 2012 sah auch das irische Belfast einen Anlass, den Event-Dampfer zu entern. Wo das einstige Prachtschiff der White-Star-Linie seinerzeit vom Stapel lief, findet sich mittlerweile eine neunzig Millionen Pfund teure Besucheranlage, Flaggschiff eines in der Nachbarschaft entstehenden Titanic-Viertels, das Touristen aus aller Welt anlockt. Der sechsstöckige Bau mit glänzender Aluminium-Verkleidung verfügt genau über die Höhe der historischen Titanic von Kiel bis Deck und bietet darüber hinaus manche historische Reminiszenz. Aufwendige interaktive Installationen veranschaulichen in neun Galerien die Geschichte des Katastrophendampfers – ein Erlebnispark auf höchstem Niveau, so die die Frankfurter Allgemeine Zeitung – inklusive virtueller Tauchfahrten zum Meeresgrund. Dass menschliche Hybris und technischer Leichtsinn vor hundert Jahren im nördlichen Atlantik mit einem Eisberg kollidierten, bietet jetzt Anlass zu
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einer weiteren Nachahmung des Guggenheim-Effektes aus Bilbao. Es wird gewiss nicht die letzte sein.
Kurzum: Persönliche Pilgerziele, die ein jeder mit biographischen Ereignissen verbinden kann (wie das Grab meiner Mutter oder jene Holzbank mit Blick auf mein altes Schulgebäude) oder Symbole des kollektiven Gedenkens mit historischer Tragweite (wie z. B. das Brandenburger Tor), sie werden längst schon verdrängt durch Orte und Daten, deren inszenierte Bedeutsamkeit das Publikum in den Bann eines Spektakels zwingt. Sollte ich mich dennoch unbehaglich fühlen und bemerken, dass die mühsam konstruierten Anlässe weder für mich noch für meine Lebenswelt von Bedeutung sind, so ist dies reiner Zufall. Suggestive Wirkungen eines millionenfach besuchten Massenevents lassen die sogenannte Sinnfrage gar nicht erst aufkommen.
Etwa beim sogenannten Literaturmarathon, den der größte europäische Hörfunksender alljährlich anlässlich der rheinischen LitCologne zur Aufführung bringt. Im Zehnminutentakt kommen insgesamt 100 Autoren als Live-Übertragung zu Wort, es mangelt nicht an professionellen Sprechern, Moderatoren, Musikern und kostenlosem Kaffegetränk, und auf den Gängen des WDR lässt es sich im Schlafsack übernachten, falls uns mitternächtlich die Müdigkeit überkommt. Dabeisein ist alles, auch wenn die Literatur hier als Waffe gegen sich selbst verwendet wird und gegen ein Publikum, das nicht mehr zu sich selber findet.
Brot und Spiele, dazu hat man ihn schließlich, den Event! Und der unterscheidet sich deutlich von Übungen wie etwa dem Besuch eines Vortrags, eines Konzertes, von einem Kinoabend oder einer herkömmlichen Sportveranstaltung. Traditionelle Kulturangebote werden unter anderem frequentiert, den Horizont zu erweitern, Neues zu erfahren oder Bekanntes zu bestätigen, einen guten Film oder einen hervorragenden Dirigenten zu erleben oder einfach um Bekannte zu treffen, als Mittel gegen die Langeweile. Dieses Motiv sieht sich allerdings enttäuscht, wenn die Erwartung nicht eingelöst wird, etwa der Referent unverständlich, der Film oder das Spiel langweilig war und sich die Investition des Abends also nicht lohnte.
Ein Event ist demgegenüber per Definition stets erfolgreich. Genauer gesagt: Das Gelingen verlagert sich in ein Publikum, das den Erfolg durch seine Anwesenheit hervorbringen muss. Der Event richtet sich nicht nach einem bestimmten Bildungseffekt, Erkenntnisgewinn oder Unterhaltungswert, sondern nach dem Zuspruch der großen Zahl. Ein Event gelingt deshalb immer, sofern nicht in Gestalt der Technik Unkalkulierbares dazwischenkommt, oder aber es handelt sich nicht um ein Ereignis, das diese Bezeichnung verdient. Entscheidendes Kriterium ist Aktualität und Prominenz der Happenings, wie sie bewiesen wird durch die lebhafte Aufnahme und Teilnahme des Publikums und ein daraus resultierendes großformatiges Ambiente.
Als beispielsweise der Fußball noch ein Sport war, erreichte er zwar breite Kreise unserer Gesellschaft, aber durchaus nicht alle und nicht jeden. Anders in Ländern, deren nationale Identität mit gelegentlichen Triumphen im Stadion steht und fällt. Aber in Deutschland war die Intensität von Fußballbegeisterung und Fanverhalten lange Zeit relativ: abhängig vom sozialen Milieu, von regionaler Identifikation oder einfach eine Frage des persönlichen Freizeitverhaltens. Von flächendeckender
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Verbreitung einer nahezu suggestiv ausgeübten Fußballpassion konnte noch vor kurzem keine Rede sein. Diese bislang eingeschränkte Bedeutung des Leders für Gesellschaft und Medien sollte sich allerdings schlagartig wandeln im Gefolge der von Deutschland ausgerichteten Weltmeisterschaft 2006.
Traditionelle Übertragungen von Meisterschaftsspielen waren bis dato in der Lage, für rund zwei Stunden die Aufmerksamkeit längst nicht aller Kneipen und Wohnzimmer der Republik zu binden. Inzwischen erzielt der Fußball jedoch eine vordem ungeahnte Flächendeckung mit suggestiver Breitenwirkung. Inklusive der Vor- und Nachberichte zur jeweiligen Veranstaltung beansprucht ein Spiel ganze Übertragungsabende, Kommentatoren wie Experten kommen über Stunden vor und während der Veranstaltung und während des Ereignisses mit ausführlichen Analysen zu Wort, und im Zuge eines oftmals vergeblichen Versuchs zur Intellektualisierung des Geschehens sehen sich auch Stürmer und Verteidiger zu mehr oder minder sinnvollen Kommentaren vor der Kamera genötigt. Dass sich gleichzeitig in Deutschland eine Tradition des Public Viewing etablierte, hat allerdings wenig zu tun mit einem sprunghaft gestiegenen Interesse am Sport.
Mit der neuartigen Verfügbarkeit von Großbildschirmen geht die magnetische Wirkung eines Masseneffektes einher, der ganze Stadtviertel als Fanmeile lahmlegen kann; der unbedarfte Nicht-Fan darf hier nur fernbleiben, wenn er soziale Isolation nicht fürchtet. Zumal sich ein hierzulande bislang schwach entwickelter Patriotismus zunehmend über den Fußball kristallisiert. Sollte sich diese Symbiose verstärken, wird man in naher Zukunft unter einer saisonalen Diktatur des Leders nur mehr als erklärter Fußballnarr auch politisch korrekt Deutscher sein: Denn Fußball wurde vom Sport zum Event und als solcher zu einer Regel, die Ausnahmen ungern duldet.
Die Botschaft des Events ist nicht kognitiver Natur. Sein Effekt ist nicht Veränderung, sondern Bestätigung. Darin liegt auch sein reaktionärer Beitrag. Der Event findet seine Bestätigung in sich selbst. Die elektronischen Medien avancierten längst zum Dauer-Event des postmodernen Zeitalters und produzieren eine Prominenz, die sich nur über Medien herstellen lässt. An dieser Stelle erkennen wir die Melodie, wie sie uns aus den digitalen Medien auf breiter Front entgegenschallt: Geadelt durch unsere Teilnahme, die uns gleichzeitig in der eigenen Prominenz bestätigt, wirft uns der Event zurück auf die eigene Existenz. Denn das Medium wurde zur Botschaft und ersetzt bereits die Realität, die es vermitteln sollte.
Eine Lehre zumindest lässt sich aus der jüngsten Diskussion um die Abhörpraktiken weltweit netzgebunden agierender Geheimdienste ableiten: Im Digitalzeitalter wird alles Medien-Mögliche auch realisiert. Wenn wir von einer neuen technologischen Variante erfahren, ist sie unter Garantie bereits umgesetzt, und alles Speicherbare wird auch festgehalten, um es irgendwann gegen irgendwen zu verwenden. Die globalen Reaktionen auf Vorwürfe gegen die nordamerikanische NSA und andere Geheimdienste in der Abhör- und Kopieraffaire erlauben nur eine Alternative: Mitmachen oder Aussteigen. Entsprechend verhalten fielen die Proteste aus gegen eine totalitäre Datenüberwachung, ja: sie waren kaum wahrnehmbar. Denn unser Dabeisein setzt mediale Nutzung voraus und ein Preis der Abschaltung wäre heute bereits auf weiten Strecken die eigene soziale Nichtexistenz.
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Wer digitale Netzwerke kontrollieren kann, besitzt ein Monopol, das der Kontrolle von Atemluft oder von sauberem Wasser gleichkommt, mit ähnlichen Konsequenzen. Selbst der Protest gegen das digitale Imperium bedient sich der Medien des Imperiums. Digitalisierung ist deshalb totalitär oder, wie man neudeutsch sagt: alternativlos. Letztere Formulierung lässt allerdings aufhorchen, denn als alternativlos galt noch vor kurzem die Rettung maroder Banken, die es verstanden, aller Welt ihre ultimative Systemrelevanz einzureden. Eines ist klar: Solange jeder mitmacht, wird der Event weitergehen.
Freilich stößt simultane Übertragung an ihre Grenzen, wenn gerade nichts geschieht und es deshalb nichts zu berichten gibt. Dies zeigt sich besonders deutlich beim medialen Konzert anlässlich eines Flugzeugabsturzes der Linie German Wings in Frankreich. Zwar bewegten die hohe Zahl der Opfer und tragische Begleitumstände die Gemüter, gleichwohl gab es über längere Strecken wenig mitzuteilen, denn die Nachrichtenlage war tagelang recht dürftig. Dass man nichts Neues beitragen konnte, war allerdings keineswegs Anlass zu medialer Zurückhaltung. Über das Publikum ergoss sich stattdessen eine Litanei aus Spekulation und Dramatisierung. Dass man auch schweigen kann, wenn es nichts zu sagen gibt, ist für ein zeitgleich funktionierendes Medium offenbar keine Option. Und somit ersetzt der totalitäre Event längst schon unsere existentielle Betroffenheit von Ereignissen. Denn was uns zu betreffen hat, sagt uns eben der Event.
In einem bekannten Märchen von Hans-Christian Andersen wird allerdings ein Kaiser vorgeführt, der sich seinem Volk in Unterwäsche präsentiert und diese dürftige Bekleidung für die neueste Mode hält. Weil aber auch seine Untertanen die nicht vorhandenen neuen Kleider dazu fantasieren, wird der Irrtum nicht aufgeklärt, bis ein Kind schließlich unbefangen ruft: Aber er hat ja gar nichts an!, und mit diesen knappen Worten die gemeinsame Inszenierung platzen lässt.
König und Untertanen, Medien und Publikum sind verschworen durch eine gegenseitige Komplizenschaft. Die Omnipräsenz audiovisueller Angebote und der Millionenerfolg eventartiger Veranstaltungen ist nicht vorstellbar ohne eine aktive Beteiligung des Publikums. Anbieter und Nutzer leiden offenbar unter derselben Pandemie, erzielen aber im harmonischen Ensemble ihrer Rollenverteilung einen erheblichen Krankheitsgewinn, indem sie sich ihren jeweiligen Beitrag gegenseitig bestätigen. Nebenbei wird millionenfach umgesetzt und ordentlich verdient, weil auch teuer bezahlt.
Weil das Medium die Botschaft ersetzen musste, kann nur eine digital vermittelte Realität Anspruch erheben auf Wirklichkeit. Die damit verbundene Inszenierung wurde wirklicher als das Leben selbst und vermittelt nicht etwa Realitäten, sondern tritt an deren Stelle: Dabeisein ist alles, entscheidend für meine Existenz ist die Teilnahme am Medium. Bin ich überhaupt gefragt? Eine Beteiligung am medialen Dauer-Event ist längst unvermeidbar, wenn ich die Bedeutung meiner eigenen kleinen Person retten will, die sich aus der Nachfrage über simultane Medien ergibt.
Unterdessen produzieren die Stars des postmodernen Zeitalters, Fernsehen und Internet, tagtäglich jene Prominenz, die sich nur über Massenmedien herstellen lässt und uns von ihnen abhängig macht. Allerdings führt allgemeine Reizüberflutung zu atemloser Langeweile, und nach dem Event kommt – der nächste Event. Die mit der
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Digitalisierung einhergehende Eventisierung von allem und jedem wird dabei zunehmend zu einem Selbst-Ersatz. Die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit wird dabei ersetzt durch Freizeitgestaltung.
Und eines Tages gibt es dann womöglich wenig zu gestalten, weil der Kontakt zum eigenen Selbst, zur eigenen Emotion und zur eigenen Intention in der Zwischenzeit verloren ging. Was bleibt, ist ein Medium – ohne Botschaft.
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