Prof. Norbert Sachser: “Lust auf Neues, Spaß am Lernen
Verhaltensbiologische Anmerkungen zur Neugier”
Redaktion: Ralf Caspary
SWR2 AULA - Sendung: Sonntag, 19. September 2004, 8.30 Uhr, SWR2. Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrückliche Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Neugier, Spiel und Lernen: Verhaltensbiologische Anmerkungen zur Kindheit
1. Lernen durch Neugier und Spiel
Die etwa 4250 verschiedenen Säugetierarten, die auf unserem Planeten leben, haben völlig unterschiedliche ökologische Nischen besetzt und unterscheiden sich entsprechend charakteristisch in vielen Aspekten ihres Lebens. Denken wir beispielsweise an eine Fledermaus und einen Maulwurf, denken wir an einen Elefanten oder einen Fischotter. Dennoch haben vermutlich alle Säugetiere eines gemeinsam: In ihrer Kindheit und Jugend sind sie ausgesprochene „Neugierwesen“, die ohne unmittelbare Notwendigkeit aktiv neue Situationen und Objekte aufsuchen und erkunden. Das Neugierverhalten bietet dem Tier die Möglichkeit zum Sammeln und Verfeinern von Objekt- und Raumkenntnissen. So lernt es seine Umwelt genauer kennen und vergrößert durch die erworbenen Lernerfahrungen seine Überlebenschancen. Es entdeckt neue Nahrungsquellen, es merkt sich Versteckplätze oder auch einen günstigen Ort für den Bau des Nestes (vgl. hierzu die gängigen Lehrbücher der Verhaltensbiologie: z.B. Eibl-Eibesfeld 1987; Franck 1997; Immelmann 1982; Manning und Dawkins 1998).
Das Neugierverhalten von Tieren zeigt viele Übereinstimmungen mit dem Spielverhalten, und beide Verhaltenssysteme lassen sich häufig gar nicht klar voneinander trennen. Auch das Spielverhalten kommt vor allem bei den höchstentwickelten Wirbeltieren, den Säugetieren und einigen Vogelarten, vor allem den Papageien vor. Es ist in der Regel auf Jungtiere beschränkt, doch kann es in einzelnen Fällen bis zu einem gewissen Grad auch im Alter erhalten bleiben, wie z. B. bei den Affen, zu denen biologisch gesehen auch der Mensch zählt. Bei Tieren kann zwischen den Bewegungsspielen eines einzelnen Tieres - beispielsweise die Bocksprünge einer Gazelle, den Objektspielen mit unbelebten Gegenständen, denken wir an das Spiel einer Katze mit einem Garnknäuel - und dem Sozialspiel mit Artgenossen unterschieden werden. So ein Sozialspiel kann man in jedem Zoo zwischen Affenkindern sehen, man kann es aber auch zwischen jungen Hunden sehen, man kann es im Prinzip bei allen sozial lebenden Säugetieren finden. Spielverhalten ist mit erhöhtem Energieaufwand und im natürlichen Lebensraum der Tiere oftmals mit verstärkter Gefährdung verbunden. Denn wenn Tiere spielen, ist das auffällig, und zwar auch für die Raubfeinde. Und auch bei Tierkindern kann beim Spielen, wenn sie ausgelassen herumtollen, sehr viel passieren. Sie können beispielsweise auch vom Felsen fallen und sich die Knochen brechen. Also: Spiel ist bei Säugetierkindern durchaus gefährlich. Dennoch nimmt es in der Entwicklung aller Säugetierkinder einen breiten Raum ein. Deshalb muß es nach Darwinscher Logik mit einer wichtigen biologischen Funktion und deutlichem Nutzen für das Individuum verbunden sein: Und dieser Nutzen besteht darin, dass das Jungtier bzw. das Kind lernt!
Säugetiere sind durch das Wirken der natürlichen Selektion im Laufe von Jahrmillionen also so konstruiert, dass sie nicht nur passiv an stattfindenden Ereignissen lernen, sondern aktiv - quasi neugierig - Unbekanntes erkunden. Zusätzlich wird durch ihr Spiel ein Experimentierfeld geschaffen, in dem nicht nur wichtige Lernerfahrungen mit unbekannten Objekten und Situationen gemacht werden, sondern in dem es auch zu Innovationen kommen kann. Werden diese „Erfindungen“ dann von Artgenossen nachgeahmt, können bereits bei den Tieren Änderungen des Gruppenverhaltens durch Tradition entstehen. Das bekannteste und beste Beispiel hierfür ist das sog. „Kartoffelwaschen“ einer japanischen Affenart, den Rotgesichtsmakaken.
Ein japanischer Kollege - Izawa - beschreibt es folgendermaßen; er sagt: „Eines Tages im Herbst 1953 beobachtete ich, wie ein anderthalb Jahre altes Weibchen, nämlich die „Imo“, eine sandverschmutzte Süßkartoffel (Batate) am Futterplatz aufnahm. Sie tauchte die Kartoffel ins Wasser und wischte den Sand mit den Händen ab. Durch dieses Waschen der Kartoffel und das Abwischen des Sandes schmeckt den Affen wahrscheinlich diese Kartoffel deutlich besser. Durch diese Tat hat „Imo“ aber eine bestimmte Affenkultur in ihre Gruppe auf der Insel Koshima eingeführt. Einen Monat später fing nämlich einer von „Imos“ Spielgefährten an, ebenfalls Kartoffeln zu waschen, und nach vier Monaten machte „Imos“ Mutter dasselbe. Durch die täglichen Begegnungen zwischen Müttern und Jungtieren, Schwestern und Brüdern, Gleichaltrigen und Spielkameraden breitete sich dieses Verhalten allmählich aus und 1957 - vier Jahre später - waren 15 Affen Kartoffelwäscher. Ein- bis dreijährige Tiere
lernten es am häufigsten. Drei fünf- bis siebenjährige und zwei erwachsene Weibchen lernten es ebenfalls. Interessanterweise hat es aber kein Männchen in der Gruppe jemals gelernt, auf jeden Fall nicht die Männchen, die älter als vier Jahre waren. Später, als das Kartoffelwaschen weiter verbreitet war, gaben es die Mütter regelmäßig an ihre Kinder weiter......Nach zehn Jahren war Kartoffelwaschen Teil der normalen Tischsitten des Trupps.“ (Izawa 1988, S. 293f.
Mittlerweile kennt die Verhaltensbiologie zahlreiche Beispiele für Innovation und Traditionsbildung (Reader/Laland 2003). Charakteristisch erscheint dabei Folgendes: Auf der Grundlage von Neugier und Spiel wird Neues in der Regel von den Jungtieren erfunden. Die Weitergabe bekannten Wissens erfolgt dann aber häufig von der älteren Generation an die jüngere, vor allem von den Müttern an ihre Kinder.
2. Neugier, Spiel und Lernen erfordern ein „entspanntes Feld“
Wir sehen also, dass Neugier und Spiel charakteristische Merkmale im Verhalten der Säugetierkinder sind. Allerdings ist es wichtig sich klarzumachen, dass diese Verhaltenssysteme nicht automatisch in jeder beliebigen Situation aktiviert werden. Hierfür bedarf es nämlich eines sog. „entspannten Feldes“, das sowohl Anregung als auch Sicherheit bietet. Fehlt eine der beiden Komponenten, so kommt es zu einer deutlichen Reduktion von Neugierverhalten und Spiel. Ein zu geringes Maß an Anregung findet sich beispielsweise in reizarmen und deprivierenden Lebenswelten, wie sie häufig in der Labortier- und landwirtschaftlichen Intensivhaltung gefunden werden, aber auch immer noch häufig in schlecht geführten Zoos. Entsprechend spielen die Tiere unter solchen Bedingungen kaum; statt dessen kommt es häufig zur Ausbildung von Bewegungsstereotypien. So kann man im Zoo, in deprivierenden Umwelten, häufig beispielsweise bei Eisbären sehen, dass sie immer wieder eine Acht laufen. Und es gibt sogar ein ganz berühmtes Foto, auf dem die Fußabdrücke des Eisbären in den Waschbeton eingewaschen sind und es zeigt deutlich diese Acht, die dieses Tier immer wieder läuft, jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr, immer wieder aufs Neue. Ein weiteres Beispiel bei sozial lebenden Spezies für eine fehlende Anregung, ist das Fehlen eines Sozialpartners: Wachsen nämlich die Jungtiere von Arten, die normalerweise im Sozialverband leben alleine auf, so ist das Neugier- und Spielverhalten deutlich reduziert (Sachser 2001). Schauen wir uns die zweite Komponente an: Ein zu geringes Maß an Sicherheit resultiert häufig daraus, dass die zum Überleben notwendigen Grundbedürfnisse nicht oder nur mit großem Aufwand gedeckt werden können. So stellt bei einer kleinen ostafrikanischen Affenart - den Meerkatzen - das Spiel der Jungtiere normalerweise ein sehr auffälliges Verhaltensmerkmal im natürlichen Lebensraum dieser Tiere dar. In Zeiten starker Dürre tritt es aber kaum auf, da die Affen unter diesen ungünstigen Bedingungen fast ihre gesamte Zeit und Energie für die Nahrungssuche verwenden (Lee in Manning/Dawkins 1998). Auch bei Gefährdung durch Raubfeinde wird kaum Spielverhalten zu beobachten sein, ebenso wenig in Zeiten, in denen die erwachsenen Tiere der Gruppe in eskalierte Auseinandersetzungen verwickelt sind. Leben die Tierkinder jedoch in einer Umwelt, die ihnen ein genügendes Maß an Anregung und Sicherheit gibt, so ist das Auftreten von Neugierverhalten und Spiel sehr wahrscheinlich - woraus sich dann Lernen automatisch ergibt.
3. Die Rolle der Umwelt während der Verhaltensentwicklung
Man kann sich fragen, welche Rolle spielt denn nun die Umwelt während der Verhaltensentwicklung für die Ausprägung von Neugier, Spiel und Lernen. Bezüglich der Ausprägung des individuellen Verhaltens bestehen grundsätzlich große Unterschiede zwischen den verschiedenen Individuen derselben Art. Dies trifft auch auf das Neugier-, Spiel- und Lernverhalten zu. Es gibt Tiere, die lernen gut; es gibt Tiere, die lernen schlecht. Es gibt Tiere, die sind sehr neugierig; es gibt Tiere, die sind weniger neugierig. Eine Analyse, welche Faktoren für diese Differenzen verantwortlich sind, weist der Umwelt während der Verhaltensentwicklung bereits bei den nicht-menschlichen Säugetieren eine Schlüsselrolle zu.
Untersuchungen an Rhesusaffen machten in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erstmals deutlich, welchen Einfluß frühe soziale Erfahrungen auf das spätere Verhalten der Tiere haben können: Im Gegensatz zu Affen, die im Sozialverband aufwachsen, verhalten sich einzeln groß gewordene Tiere in neuen Situationen furchtsam und depressiv, gegenüber fremden Artgenossen jedoch hyperaggressiv. Einzeln aufgewachsene Rhesusaffen können z. B. keine „normalen“ innerartlichen Sozialbeziehungen mehr aufbauen und sie sind zur sozialen Kommunikation unfähig (Harlow/Harlow 1962). Wir wissen heute, dass sich diese Befunde nicht nur auf Affen, auf Primaten beschränken. Wahrscheinlich bedürfen alle Säugetiere adäquater Sozialisationsbedingungen, um als Erwachsene den Anforderungen ihrer Lebenswelt gerecht zu werden (Sachser 2001).
Ein wesentliches Prinzip, das in solchen Untersuchungen erkannt wurde, ist das Folgende: Um ihre Umwelt in einer angstfreien und nicht-belastenden Art und Weise erkunden zu können, bedürfen Säugetierkinder in der frühen postnatalen Phase, also in der Phase direkt nach der Geburt „Sicherheit gebender Strukturen“ (Gandelmann 1992; Sachser 2001). Diese Funktion kommt bei vielen Arten der Mutter zu; sie dient als Sicherheitsbasis für das Kind. Von dieser Sicherheitsbasis aus, wird die Welt erkundet. Als Sicherheitsbasis können bei anderen Arten aber auch Vater und Mutter, ein größerer Familienverband oder die gesamte soziale Gruppe dienen. Wird beispielsweise in das Gehege eines isoliert aufgewachsenen Affenkindes - beispielsweise eines Rhesusaffen, eines Totenkopfäffchens - ein fremdes Objekt eingebracht, z. B. ein Ball, so wird dieses Jungtier mit großer Angst auf die Veränderung in der gewohnten Situation reagieren und sich für lange Zeit regungslos in eine Ecke zurückziehen. Ist in der gleichen Situation jedoch ein geeigneter Sozialpartner vorhanden, z. B. die Geschwister oder die Mutter, so wird das Jungtier sich dem Objekt vorsichtig nähern. Kurz vor Erreichen des Ziels wird die Angst jedoch größer sein als die Neugier, und es wird zum Sozialpartner zurücklaufen und - wenn es die Mutter ist - sich fest an diese Mutter klammern. Wenn das Jungtier dann wieder genügend Sicherheit „getankt“ hat, wird es einen erneuten Versuch wagen, das fremde Objekt zu erreichen. Nach einigen Anläufen wird ihm dies dann auch gelingen. Das neue Objekt wird dann inspiziert, es wird mit ihm gespielt, und es werden so dessen charakteristische Merkmale und Eigenschaften erlernt. In der frühen postnatalen Phase sind demnach „Sicherheit gebende Strukturen“ von fundamentaler Bedeutung, damit es beim Kind zum Lernen durch Neugier und Spiel kommen kann, damit es seine Lebenswelt überhaupt erkunden kann.
Aber nicht nur diese soziale Situation, in der das Tier sich befindet, sondern auch die Strukturierung des Raumes hat deutliche Auswirkungen auf das Verhalten der Säugetiere. So berichtete der kanadische Psychologe Hebb bereits 1947, dass Ratten, die er als Haustiere hielt, und die frei in seinem Wohnzimmer herumliefen, deutlich bessere Ergebnisse in Lernexperimenten erzielten als Artgenossen, die immer in einer Standardlaborhaltung, in einem einfachen, unstrukturierten Käfig lebten. Dieser Befund lenkte das Forschungsinteresse auf ein bis heute hoch aktuelles Thema, das in der internationalen Literatur als „Environmental Enrichment“, übersetzt als „Umweltanreicherung“ bezeichnet wird. Tiere, die in einer reichstrukturierten („enriched“) Umwelt aufwachsen, in der sie klettern können, in der sie sich verstecken können, in der komplexe Signale vorhanden sind, die unterscheiden sich deutlich in ihrem Lernverhalten von Artgenossen, die in einer kaum oder gar nicht strukturierten Umgebung („impoverished“) groß werden, in der es keine Anregungen gibt. So machen Tiere weniger Fehler bei Problemlösungsaufgaben und sind in unbekannten Situationen und gegenüber neuen Objekten explorationsfreudiger. In ihrem Heimatgehege spielen sie deutlich mehr und entwickeln keine Bewegungsstereotypien. Diese Unterschiede im Verhalten korrespondieren mit morphometrischen, neuroanatomischen und neurochemischen Unterschieden im Zentralnervensystem. So weisen in einer reich strukturierten Umwelt aufgewachsene Tiere im Vergleich zu „Impoverished-Artgenossen“ beispielsweise einen größeren Cortex, eine stärkere Verzweigung der Dendriten und eine höhere Anzahl an Synapsen im occipitalen und temporalen Cortex auf. Die positiven Auswirkungen einer reich strukturierten Umwelt auf Gehirn und Verhalten werden vor allem damit erklärt, dass „Enriched-Tiere“ weitaus mehr Möglichkeiten haben, Informationen aus ihrer Umwelt zu verarbeiten und zu speichern. Diese Erfahrung soll in zentralnervösen Veränderungen resultieren, wie der Ausbildung neuer Synapsen, die dann langfristig das Verhalten der Tiere beeinflussen (Gandelmann 1992; Marashi u. a. 2003).
Bei der Analyse der Verhaltensontogenese konzentrierte sich die Forschung über viele Jahrzehnte fast ausschließlich auf die frühe postnatale Phase. Doch bereits pränatale Einflüsse können die Verhaltensentwicklung tiefgreifend modulieren. Leben Hausmeerschweinchen während der Trächtigkeit in einer instabilen sozialen Umwelt, in der die Sozialpartner häufig wechseln, so verhalten sich ihre Töchter im späteren Leben wie Männchen. Diese Maskulinisierung des Verhaltens geht mit männchentypischen Differenzierungen in Teilen des limbischen Systems einher, die für die Steuerung des geschlechtstypischen Verhaltens bei dieser Art verantwortlich sind. Interessanterweise kommt es auch zur Beeinflussung von Gehirnarealen (Hippocampus), die für Lernen und Gedächtnis von Bedeutung sind sowie physiologischen Systemen (Sympathikus-Nebennierenmark-System), die das Neugierverhalten vermitteln. Zu erklären ist diese pränatale Beeinflussung des Verhaltens so: Die trächtigen Weibchen reagieren auf Veränderungen ihrer sozialen Umwelt mit der Ausschüttung bestimmter Hormone, die durch die Plazenta in den embryonalen Blutkreislauf gelangen und die Gehirndifferenzierung der Embryonen beeinflussen (Kaiser u. a. 2003). Zweifellos wird die zukünftige Forschung noch vielfältige Zusammenhänge zwischen der pränatalen Umwelt und der Gehirnentwicklung sowie dem Verhalten der Nachkommen aufzeigen.
Das Zentralnervensystem ist in den frühen Phasen seiner Entwicklung durch externe Reize besonders leicht zu modifizieren. So erklärt sich auch, warum die prä- und frühe postnatale kindliche Umwelt besonders nachhaltige Auswirkungen auf die Verhaltensentwicklung hat. Neuere Forschung zeigt jedoch: Auch spätere Phasen können von entscheidender Bedeutung sein: So ist bei sozial lebenden Säugetieren die Pubertät ein entscheidender Lebensabschnitt, in dem in Interaktionen mit Artgenossen wesentliche soziale Fähigkeiten für das weitere Zusammenleben erworben werden (Sachser/Hierzel/Dürschlag 1998). Letztlich bleibt bei hochentwickelten Säugetieren - wie beispielsweise Menschenaffen, Delfinen oder Elefanten - das Verhalten bis ins hohe Alter plastisch: Lebenslanges Lernen ist möglich.
Vergleichen wir die Verhaltensentwicklung von Säugetieren und Vögeln, so ergibt sich ein bemerkenswerter Unterschied, der gerade mit Blick auf den Menschen von großer Bedeutung erscheint: Bei vielen Vogelarten erfolgen wichtige Aspekte der Verhaltensentwicklung so, dass bestimmte Ereignisse innerhalb einer sensiblen Phase stattfinden müssen, quasi nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip verlaufen und zu irreversiblen Resultaten führen. Wir sprechen in diesen Fällen von Prägung. Diese Beispiele sind in der Vergangenheit oft vorschnell auf den Menschen übertragen worden. Auch in der Säugetierentwicklung lassen sich Phasen erkennen, in der bestimmte Erfahrungen besonders wichtig sind, und wenn diese Erfahrungen nicht gemacht werden, kann dies schwerwiegende Folgen haben, wie beispielsweise die Harlowschen Untersuchungen an Rhesusaffen zeigen. In der Regel können solch sensible Phasen bei Säugetieren aber nicht so genau umrissen werden wie bei den daraufhin untersuchten Vogelarten, vielmehr hat es den Anschein, dass sich die sensible Phase über den größten Teil der Kindheits- und Jugendentwicklung erstreckt. Auch scheint das Ergebnis dieser prägungsähnlichen Vorgänge nicht zu ganz so dauerhaften Ergebnissen zu führen. Umlernen scheint bei vielen Säugetieren zwar schwierig, aber immerhin möglich zu sein. Erfahrungen haben auf alle Entwicklungsstufen Einfluss, manche vorübergehend, aber kaum irreversibel, da viel Zeit für spätere Erfahrungen bleibt, die die Entwicklungsrichtung verändern können (Manning/Dawkins 1998). Säugetiere bleiben zeitlebens für Erfahrungen „offene Systeme“, und Verhaltensentwicklung ist bei ihnen eher ein kontinuierlicher Prozess. Diese Erkenntnis auf der Ebene des Verhaltens korrespondiert sehr gut mit den jüngsten Erkenntnissen der Neurowissenschaften: Das Säugetiergehirn ist offensichtlich wesentlich plastischer als noch vor wenigen Jahren angenommen wurde!
4. Die Rolle der Gene
Die Verhaltenssteuerung der Säugetiere ist multifaktoriell. Ob ein bestimmtes Verhalten ausgelöst und wie es gesteuert wird, hängt in der Regel sowohl von Reizen aus der Umwelt ab, als auch von inneren Faktoren, wie Geschlecht, Alter, sozialem Status, Erfahrungen, kognitiven Fähigkeiten, genetischer Veranlagung oder hormonellem Zustand. Es gelingt entsprechend nicht, komplexes Verhalten auf einzelne dieser Faktoren zu reduzieren (Sachser 2002) - auch nicht im Fall von Neugier, Spiel und Lernen.
Durch die Entwicklung neuer molekularbiologischer Techniken können seit einigen Jahren gentechnisch veränderte Nagetiere erzeugt werden, die überaus vielversprechende Modellsysteme darstellen, um den Weg vom Gen zum komplexen Verhalten zu analysieren. So wurden in den letzten Jahren einzelne Gene identifiziert, die beispielsweise an der Steuerung des Tagesrhythmus und Sexualverhaltens, aber auch des Lernverhaltens beteiligt sind: Es besteht daher die berechtigte Hoffnung, die dem Verhalten zugrunde liegenden neuronalen und hormonellen Mechanismen bis auf ihre molekulare Basis hin zu entschlüsseln. Doch selbst diese Gene bestimmen das Verhalten keinesfalls. Dies ist auch nicht verwunderlich, denn Verhalten entsteht immer aus einer Gen-Umwelt-Interaktion (z. B. Rampon u. a. 2000; van Dellen u. a. 2000), deren Wechselwirkungsmechanismen allerdings nicht einmal in Ansätzen verstanden ist.
Illustrieren lässt sich dieses Prinzip folgendermaßen: Jede natürliche Population von Tieren zeigt bzgl. nahezu allen Verhaltens eine große Variabilität. Werden Ratten beispielsweise auf ihre Lernleistung in einem Labyrinth getestet, so gibt es einige wenige „sehr intelligente“ Tiere, die nur wenige Fehler machen und einige wenige „sehr dumme“ Tiere, die sehr viele Fehler machen. Die meisten Tiere sind durch eine mittlere Anzahl an Fehlern charakterisiert. Nun wird auf ausgesuchte Merkmale hin selektiv gezüchtet: Die „intelligentesten“ Männchen werden mit den „intelligentesten“ Weibchen verpaart und die „dümmsten“ Männchen mit den „dümmsten“ Weibchen. Der resultierende Nachwuchs wird wieder auf seine Lernleistung getestet, und es wird nach dem gleichen Schema wie in der Elterngeneration weiterverpaart. Nach weniger als zehn Generationen entstehen so zwei Populationen von Ratten, die nicht mehr bzgl. des Merkmals „Lernleistung in einem Labyrinth“ überlappen: Es wurden Populationen von „genetisch intelligenten“ und „genetisch dummen“ Ratten erzeugt. Dieses Beispiel zeigt: Es gibt eine genetische Disposition für bestimmte Lernleistungen. Es zeigt aber nicht, dass Gene die Intelligenz der Ratten determinieren. Denn wuchsen die „genetisch dummen“ Ratten in einer reichhaltigen Umwelt auf, so waren sie den „genetisch intelligenten“ Ratten in Lerntests überlegen, wenn diese in einer reizarmen Umwelt groß geworden waren (Cooper und Zubek 1958).
5. Mögliche Implikationen für die Praktische Pädagogik und die Erziehungswissenschaft
Durch das Wirken der natürlichen Selektion wurden alle nicht-menschlichen Säugetiere im Laufe von Jahrmillionen so „programmiert“, dass sie ihre Umgebung durch Neugier und Spiel erkunden. Hierbei machen sie automatisch Erfahrungen, die benötigt werden, um den Herausforderungen einer komplexen Lebenswelt gewachsen zu sein. Auch der Mensch gehört biologisch gesehen zu den Säugetieren und teilt mit seinen tierlichen Verwandten aufgrund gemeinsamer Abstammung viele Aspekte der „Hard- und Software“, die für die Verhaltenssteuerung verantwortlich ist. Deshalb würde es sehr überraschen, wäre der Mensch bzgl. Neugier, Spiel und Lernen einen evolutionären Sonderweg gegangen und wären seine Kinder keine ausgesprochenen Neugierwesen, die ohne unmittelbare Notwendigkeit aktiv neue Situationen und Objekte aufsuchen und erkunden. Vielmehr stellen Neugier und Spiel sowie deren Verwobenheit mit dem Lernen ein altes Säugetiererbe dar und gehören aus neuro-, verhaltens- und evolutionsbiologischer Sicht zweifellos zur „Natur des menschlichen Kindes“. Dieser
Verweis auf eine genetische Veranlagung bedeutet jedoch keinesfalls, dass Neugier, Spiel und Lernen automatisch auftreten müssten. Bereits bei den nicht-menschlichen Säugetieren lassen sich Voraussetzungen benennen, damit es zur Aktivierung dieser Verhaltenssysteme kommen kann. Diese Voraussetzungen dürften in gleicher Weise auf das menschliche Kind zutreffen und damit auch für die Praktische Pädagogik und die Erziehungswissenschaft von Interesse sein.
Eine wesentliche situative Voraussetzung für das Auftreten von Neugierverhalten und Spiel ist das „entspannte Feld“, das sowohl durch Sicherheit als auch Anregung gekennzeichnet ist. Hier treten Neugierverhalten und Spiel nahezu unerschöpflich auf, weil zumindest das Spiel eine sich selbst belohnende Verhaltensaktivität darstellt, und zwar durch die positiven Emotionen, die es selbst erzeugt (Knierim u. a. 2001). Damit bedürfen aber auch die Lernvorgänge, die im Kontext des Spielverhaltens ablaufen, keiner weiteren positiven oder negativen Verstärkung zum Beispiel durch erwachsene Sozialpartner. Solche Lernvorgänge sind intrinsisch motiviert und nahezu unermüdbar. Wenn es also gelingt, möglichst viele „entspannte Felder“ während der Verhaltensentwicklung für menschliche Kinder zu erzeugen, so würden viele Lernprozesse aus eigenem Antrieb erfolgen und bedürften nicht der externen Motivierung durch Erziehende. „Entspannte Felder“ könnten in allen Phasen und Räumen der Entwicklung bereit gestellt werden. Ich sehe keinen Grund, sie auf spezifische Lebensabschnitte und Situationen zu beschränken.
Im „entspannten Feld“ wird nicht nur erkundet, gespielt und das gelernt, was eh schon jeder weiß, sondern hier wird auch bereits bei den nicht-menschlichen Säugetieren experimentiert und Neues erfunden. Bei den mit weit größeren kognitiven Fähigkeiten und manuellen Fertigkeiten ausgestatteten menschlichen Kindern ist dieses Prinzip sicherlich in noch weit größerem Ausmaß verwirklicht. Deshalb dürfte das Agieren im „entspannten Feld“ wesentlich dazu beitragen, generelle Problemlösungsstrategien eigenständig zu entwickeln. Ich vermute sogar: Die Zahl der nobelpreisverdächtigen deutschen Forscherinnen und Forscher würde deutlich steigen, wenn bereits von frühester Kindheit an „entspannte Experimentierfelder“ zur Verfügung ständen.
Aus biologischer Sicht lässt sich also argumentieren, dass während der Verhaltensentwicklung in „entspannten Feldern“ Neues erfunden wird und wesentliche Bewältigungsstrategien erlernt werden, die das Individuum benötigt, um sich in seiner sozialen und nicht-sozialen Lebenswelt zu verorten. Aber bereits bei den Tieren sieht das „entspannte Feld“ für den Schimpansen anders aus als für die Maus und für den Hund anders als für die Katze. Die Gretchen Frage für den Menschen lautet daher: Was genau beinhaltet das „entspannte Feld“ für das menschliche Kind? Wie sieht es für den dreijährigen Jungen und wie für das zehnjährige Mädchen aus? Wie kann es auf das individuelle Temperament zugeschnitten werden? Wie sind „entspannte Felder“ in der Schule, im Kindergarten, in der Familie beschaffen? Erschöpfende Antworten auf diese Fragen sollte die Erziehungswissenschaft allerdings nicht von der Neuro-, Verhaltens- oder Evolutionsbiologie erwarten. Hierfür bedarf es meines Erachtens vor allem ihres eigenen fachspezifischen Wissens. Die Aufgabe der Biowissenschaften sehe ich eher darin, den allgemeinen Rahmen vorzugeben, wie eine im Einklang mit der „Biologie des Menschen“ aussehende Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aussehen könnte und hierüber in den interdisziplinären Diskurs mit anderen Disziplinen zu treten.
So kann die moderne Stressforschung beispielsweise wichtige Anregungen zum Verständnis von „entspannten Feldern“ beim Menschen geben: Das Gefühl der Sicherheit, eine von zwei Grundvoraussetzungen für das „entspannte Feld“, geht mit niedrigen Serumkonzentrationen des Hormons Kortisol einher, Unsicherheit mit erhöhten Werten. Diese „Stresshormonkonzentrationen“ sind niedrig, wenn Ereignisse und Situationen vertraut, vorhersag- und kontrollierbar sind, wenn sich das Individuum in einem sozialen Netz befindet oder soziale Unterstützung durch einen Bindungspartner erhält (Sachser/Hierzel/Dürschlag 1998; Sachser 2001). Eines oder mehrere dieser Merkmale sollten deshalb auch Bestandteil des „entspannten Feldes“ für den Menschen sein. Das zweite wesentliche Merkmal „entspannter Felder“ ist die Anregung des Individuums durch externe Stimuli. Physiologisch gesehen geht diese mit einer moderaten Aktivierung des Sympathikus-Nebennierenmark-Systems einher, was sich in einer nicht zu niedrigen aber auch nicht zu hohen Ausschüttung des Hormons Adrenalin äußert. Interessanterweise kennt die Verhaltensendokrinologie bereits seit vielen Jahren den umgekehrt U-förmigen Zusammenhang zwischen Lern- und Gedächtnisleistung auf der einen und den Adrenalinkonzentrationen auf der anderen Seite: Bei zu niedrigen und zu hohen Konzentrationen dieses Hormons wird schlecht, bei mittleren Konzentrationen am besten gelernt (Nelson 2000). Dies erklärt, warum das „entspannte Feld“ Lernprozesse fördert. Es sollte demnach auch für den Menschen so beschaffen sein, dass Anregung gegeben und Langeweile sowie Übererregung vermieden werden.
Vor diesem Hintergrund könnte wahrhaft interdisziplinäre Forschung so aussehen: „Entspannte Felder“ werden entsprechend des theoretischen und Erfahrungswissens der Erziehungswissenschaft und der Praktischen Pädagogik für Kinder und Jugendliche alters- und situationsgerecht konstruiert, Hormonkonzentrationen durch endokrinologische Methoden (nicht-invasiv) ermittelt und das Verhalten mit Hilfe pädagogischer, psychologischer und ethologischer Methoden erfasst und analysiert. Die interdisziplinäre Zusammenschau der so ermittelten Befunde könnte zu einem Durchbruch im Verständnis des „entspannten Feldes“ beim Menschen führen.
Alle Säugetiere sind in ihrer Kindheit und Jugend Neugierwesen. Sie erkunden aktiv ihre Umgebung, lassen sich auf Neues ein, lernen auf spielerische Weise. Neugier ist ein wichtiger Motor der kognitiven Entwicklung, allerdings tritt sie nur in bestimmten Situationen auf, die Anregungen und zugleich Sicherheit bieten. Das hat vor allem die moderne Verhaltensforschung gezeigt. Norbert Sachser, Professor für Verhaltensbiologie an der Universität Münster, beschreibt das Neugierverhalten von Tieren und Menschen und zeigt die pädagogischen Konsequenzen.
Biographisches Norbert Sachser, geboren 1954, studierte Biologie, Chemie und Soziologie, 1984 Promotion im Fach Verhaltensforschung, 1992 Habilitation am Lehrstuhl für Tierphysiologie der Universität Bayreuth. Sachser ist Professor für Zoologie und leitet die Abteilung für Verhaltensbiologie an der Universität in Münster