Uwe Springfeld: Wie sich Gefühle berechnen lassen

 

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SWR2 Wissen

Aus der Reihe: "Der vermessene Mensch" (7/12)

Autor: : Uwe Springfeld
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Günter Maurer
Sendung: Samstag, 5. September 2015, 8.30 Uhr, SWR2 Wissen SWR 2014
Bitte beachten Sie:
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ÜBERBLICK
Informatiker tüfteln zunehmend an Programmen, die die Gefühle von Nutzern erfassen sollen. Aus Stimme und Körperhaltung, aus Mitteilungen in Chats und aus der Mimik. Mit solchen Methoden soll vor allem auch die "Verständigung" zwischen Mensch und Maschine verbessert werden - etwa wenn Autofahrer künftig ihren Fahrzeugen Anweisungen geben. Doch zugleich wird die eigene Gefühlswelt computertechnisch durchleuchtet: Ist der Jobkandidat so selbstsicher, wie er erscheint? Ist ein Passant nur aufgeregt oder sucht er eine Schlägerei? Wie zugewandt ist der Kandidat einer Partnerbörse wirklich? (Produktion 2014

MANUSKRIPT
Radio Akademie Intro: Der vermessene Mensch
Ansage:
Wie sich Gefühle berechnen lassen
Von Uwe Springfeld
Atmo EEG-Experiment ankommen
Sprecher (erzählt):
An der Klinik für Allgemeine Psychiatrie in Heidelberg vermessen die Forscher die Gefühle im Keller. Die Dame am Empfang schickt einen also eine Treppe hinunter und dann rechts den langen Gang entlang. Dann sitzt man einen Augenblick vor dem EEG-Raum, dem Raum fürs Elektroenzephalogramm, und lässt seinen Blick schweifen. Wie man eben umherschaut, wenn man wartet. Der Blick trifft auf eine dunkelhaarige Frau, die ein paar Meter weiter ebenfalls wartet. (Wie im Selbstgespräch:) Oh. Jetzt dreht sie sich weg. War ich zu indiskret? – Hab so das Gefühl.
Atmo
Sprecher:
Man wird in den EEG-Raum geführt. [Ein kühler Raum mit weißen Wänden, weißem Schreibtisch, weißer Magnettafel mit Notizen auf weißem Papier gegenüber einer weißen Tür. Die Winterlandschaft auf dem Kalender eines Herstellers für Medizin-Elektronik und das daneben hängende Janosch-Poster – „Oh wie schön ist Panama“ - bringen nur wenig Heimeligkeit.] Die Leiterin der Arbeitsgruppe Persönlichkeitsstörung, Katja Bertsch, verkabelt einen:
Cut 1: Katja Bertsch
Wir messen eine Veränderung in der elektrischen Aktivität, das ihr Gehirn, also ihre Hirnzellen, herstellen. Und das macht eben das EEG attraktiv. Dass wir schauen, was passiert, während Sie zum Beispiel gleich Bilder sehen, mit der elektrischen Aktivität ihres Gehirns.
Sprecher:
Man bekommt eine weiße Gummihaube mit Löchern darin aufgesetzt, zusätzlich fixiert mit einem Brustgurt. Und während einem die Wissenschaftlerin mit Wattestäbchen eine schmierige, elektrisch leitende Paste durch die Löcher in die Haare drückt, fragt man sich, wie viel Freude und Leid; Spannung und Gelassenheit, Liebe, Hass und Leidenschaft; Verzweiflung, Hoffnung und Zuversicht, wie viel Misstrauen und Vertrauen, Zutrauen und Selbstvertrauen in einem steckt. Dann wird man verkabelt.
Atmo verkabeln
Sprecher:
Und man sagt sich: Es braucht doch eindeutige Gefühle, wenn man sie messen will. Gefühle, wie man sie nur aus der Literatur kennt. Rein, klar und unverfälscht. In diesem Moment schämt man sich und wird verlegen. Denn das letzte, vollkommen eindeutige
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Gefühl, zu dem man fähig war, hieß nicht Liebe, nicht Freude oder Zuversicht. Das Gefühl war Hass. Ein sauberer, ein tiefer und ehrlicher Hass auf seinen Computer. Ein Hass mit cholerischem Ausraster. Man hatte gebrüllt, getobt und auf die Computertastatur eingeschlagen, bis der Kunststoff gesprungen war. An genau so einen Computer wird man jetzt im Keller der allgemeinen Psychiatrie in Heidelberg angeschlossen.
Sprecherin:
Ein Gebäude weiter in ihrem Büro sagt die ärztliche Direktorin der Allgemeinen Psychiatrie, Sabine Herpertz, dass solche reinen, eindeutigen Gefühle sehr selten beim Menschen seien.
Cut 2: Sabine Herpertz
Das ist für Menschen oft gar nicht so einfach, genau zu sagen, wie viel Ärger ist zum Beispiel in dem Gefühl, wie viel Angst. – Wir kennen durchaus, dass wir uns nur angespannt fühlen. Um auch Gefühle steuern zu können, ist es ganz wichtig, sich einen genauen Eindruck über die Qualität des eigenen Gefühls zu machen. Und das auch lernen zu bewerten.
Sprecherin:
Und doch gibt es sie, die reinen Gefühle. Jedenfalls laut einiger wissenschaftlicher Theorien. Elementargefühle könnte man sie nennen, Basis- oder Grundgefühle. Sabine Herpertz spricht von Qualitäten. Emotionalen Elementarqualitäten. Gefühle, die laut verschiedener psychologischer Theorien die Zutaten des undifferenzierten, emotionalen Breis sind, den sich Jedermann im Alltag zusammenkocht. Für einen ordentlichen Stress nehme man beispielsweise viel Ärger, reichere ihn mit einer großen Portion Angst an, mische das Ganze mit einem Schuldgefühl zu einer breiigen Konsistenz, schmecke alles mit einer Prise Ekel ab und verfeinere das Gefühlspüree durch einen Hauch Freude. Nur, wer schmeckt heraus, was man sich emotional angerichtet hat? Und wer erkennt, wenn man sich durch Hinzufügen weiterer Freude plötzlich wichtig fühlt, bedeutend, unersetzlich?
Die Emotionen wissenschaftlicher Theorien mögen scharf voneinander abgegrenzt sein. Im Alltag dagegen gehen sie oft durcheinander. Und darüber, zu wie vielen verschiedenen Elementar-Emotionen ein Mensch fähig ist, streiten sich die Wissenschaftler. Manche sagen sechs, andere behaupten neun. Angst und Ärger, Traurigkeit und Freude, Ekel sind es in jedem Fall. Und dann kommen, je nach Forscher, noch Scham, Schuld und Interesse dazu. Ob die Überraschung, die manche dazuzählen, überhaupt ein Gefühl ist, weiß man nicht genau.
Wie soll man im alltäglichen Gefühlschaos wissen, was überhaupt ein Gefühl ist und was nicht? Man hat eine Ahnung davon. Oder, wie man heute sagt: Man hat ein Bauchgefühl von der Sache. Doch: Wovon genau hat man das Bauchgefühl? Was ist ein Gefühl? Ist Liebe ein Gefühl? Ist Hunger ein Gefühl? Ist mit-kalten-Füßen-zu-frieren ein Gefühl? Ist ein Bauchgefühl ein Gefühl? Nein, sagt Susanne Herpertz zu Hunger, Kälte und Bauchgefühl.
Cut 3: Sabine Herpertz
Bei Gefühlen, da unterschiedet man für gewöhnlich drei Komponenten – einmal ist ein Gefühl immer eine Verhaltensdisposition, zum anderen hat ein Gefühl ein körperliches Korrelat und zum Dritten bewertet ein Mensch sein Gefühl und teilt es anderen Menschen mit.
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Sprecherin:
Das, was ein Mensch als zutiefst persönliches Erleben empfindet, nämlich ein Gefühl wie beispielsweise Ärger, besteht immer aus den gleichen drei Bestandteilen. Zum einen reagiert der Körper, ganz unmittelbar. Die Atmung geht tief, Puls und Blutdruck steigen, der Blick wird eng. Zum Zweiten schaltet sich das Bewusstsein ein, man bewertet den Ärger. Man mag ihn nicht. Und zum Dritten reagiert selbst ein rationaler Mensch auf das Unbehagen. Entweder mit Streit, oder indem er den Ärger ignoriert und sich bewusst anderen Dingen zuwendet.
Einige Gefühle kann man messen. Einzeln. Mit psychologischen Tests. Papierbögen mit Simpel-Fragen zum Ankreuzen. Beispielsweise den State-Trait-Ärgerausdrucks-Inventar, genannt STAXI, der den Ärger misst, der sich in Wut ausdrückt. Er ist in drei Teile gegliedert. Wie fühlt man sich im Moment der Wut? Wie fühlt man sich im Allgemeinen? Und wie reagiert man in Momenten der Wut? Dabei muss man Sätze auf einer Skala von eins bis vier ankreuzen, von „trifft fast nie zu“ bis „trifft fast immer zu“. Sätze wie:
Sprecher:
Ich bewahre meine Ruhe. Ich fresse die Dinge in mich hinein. Ich halte meine Gefühle unter Kontrolle. Ich werde laut. Ich fahre aus der Haut.
Sprecherin:
Ein anderer Test, die Rosenberg-Skala, gibt das Selbstwertgefühl wieder. Die UPPS Impulsive Behaviour Scale misst die Impulsivität. Der „Compass of Shame Styles“, in Kurzform CoSS genannt, gibt die Stärke des Schamgefühls wieder, der „Test of Self-Conscious Affect shortform“, genannt TOSCA, fasst die Stärke von Scham und Schuld in Zahlen.
Cut 4: Sabine Herpertz
Ist ja gerade bei psychischen Erkrankungen ein großes Problem, dass Gefühle recht diffus erlebt werden – und Patienten lernen genau zu differenzieren. Ist es jetzt Ärger, ist es Angst? Es bleibt natürlich im Subjektiven, dann. – Also wie viel Ärger, wie viel Angst ist jetzt dabei? – Aber für die Steuerung eigener Gefühle ist es hilfreich, sich das klarzumachen.
Sprecherin:
Genau genommen vermessen solche psychologischen Tests nicht die Gefühlswelt eines Menschen. Sie messen die Einschätzungen, die sich ein Mensch von seinen, häufig alltagsfernen, Elementar-Emotionen macht. Ein nachempfundenes Gefühls-Stückwerk, Emotionsbröckchen aus zweiter Hand. Beim State-Trait-Ärgerausdrucks-Inventar-Test zum Ärger beispielsweise schaut die Testperson in sich hinein, versucht, sich an den Gefühlszustand zu erinnern, der hauptsächlich Ärger beinhaltet, isoliert dann seine Vorstellung des Gefühl-Bestandteils und bemisst anschließend dessen Stärke. Das Ergebnis ist nicht nur Flickwerk, sondern notgedrungen auch subjektiv. Kaum ein Testergebnis ist vergleichbar mit einem anderen.
Sinnlos sind solche Tests deswegen aber nicht. Sie eröffnen einen Blick in die psychische Befindlichkeit eines Menschen. Zusammen mit anderen Methoden wie dem Interview sind Tests psychiatrische Diagnoseinstrumente. Beispielsweise um herauszufinden, ob ein Mensch unter einer dissozialen Persönlichkeitsstörung leidet. Oder, anderes Beispiel, ob das permanente Putzen der eigenen Wohnung nur eine nervige Marotte ist oder eine ausgewachsene Zwangsstörung. Ob die Angst vor Spinnen eine liebenswerte Macke ist oder eine handfeste Arachnophobie.
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Für solche psychologischen Untersuchungen reichen subjektive Schätzwerte. Objektive Gefühlsmessungen im naturwissenschaftlichen Sinn braucht man dafür nicht.
Cut 5: Sabine Herpertz
Es gibt natürlich dann Krankheitsbilder – bleiben wir bei der Angst, das wären dann vor allem die Panikattacken bei sogenannten Panikstörungen – wo eben dann sehr starke Angstgefühle von den Betroffenen bis hin zu bedrohlich erlebt werden. Aber auch da wissen wir: Panikattacken sind objektiv nicht gefährlich.
Atmo Schritte weggehend
Sprecher:
Nein, in der Allgemeinen Psychiatrie in Heidelberg kommt man in Sachen objektiver Gefühlsmessung nicht weiter. Deren Methode, die psychische Seite des Menschen zu vermessen, führen lediglich zu subjektiven Schätzungen. Man muss sich auf die physische Seite des Menschen konzentrieren, auf die Naturwissenschaften. Man braucht einen vollkommen anderen Zugang in die Welt der Gefühle.
Atmo zuschlagende Autotür, abfahren
Sprecher:
Der Weg in diese Gefühlswelt führt über München. Dort forscht eine Arbeitsgruppe, deren Interessensgebiet auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Emotionen zu tun hat. Im Gegenteil. Viele sehen es als Terra Australis, den geheimnisvollen Gegenkontinent auf der verborgenen Seite eines gefühlvollen, runden Lebens an, und die Forscher selbst als Antipoden, denen – einem verbreiteten Vorurteil folgend – alles Menschliche fremd ist. Weil, weiter diesem Vorurteil folgend, die Münchner Wissenschaftler der Arbeitsgruppe „Maschinelle Intelligenz und Signalverarbeitung“ an der Technischen Universität – Informatiker, Ingenieure und Computerwissenschaftler – von Natur aus emotional unterentwickelt, also kühl und rational sind. Ihre Forschungen, Gefühle auf den Computer zu bringen, könnte man als Versuch verstehen, in der Gefühlswelt der Menschen ein naturwissenschaftliches Besatzer-Regime zu installieren, das die Gefühle des Menschen durchrationalisieren, die Menschen selbst entemotionalisieren will.
Für Politik, Wissenschaft und Wirtschaft scheinen die Untersuchungen der Münchner aber wichtig zu sein. So wertvoll, dass die Europäische sie Union mit Fördergeldern in Millionenhöhe finanziert. Denn um menschliche Emotionen auf den Computer zu bringen, muss die Maschine sie vorher messen. Objektiv. Und das funktioniert – zeigt der Diplomingenieur Florian Aigen.
Cut 6: Florian Aigen
Ja, eines hätten wir noch – das wäre die Interessenserkennung – also wo wir gerade über Verkaufsgespräche geredet haben, ob einer interessiert klingt an dem Gespräch oder nicht. – Der Computer wird zwischendrin immer mal wieder sagen: interessant oder langweilig – (Computer): langweilig – (Aigen): Jaaaa – (Computer): langweilig (Aigen): Gähn - (Computer): langweilig - (Aigen): Oh. Sehr interessant. Sehr Interessant. Sehr cool. – (Computer): interessant. – (Aigen): Nein, nicht wirklich. – (Computer): Na ja -
Sprecherin:
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Worin unterscheiden sich Langeweile und Spannung? Was trennt Liebe und Hass, Ärger und Freude? Die Antwort liegt auf der Hand. Man freut sich lieber, als dass man sich ärgert. Aber ähneln sich Freude und Ärger auch, dass man sie verwechseln könnte? Natürlich. Beide Gefühle verursachen gleichermaßen ziemliche Aufregung.
Aus dieser Erkenntnis haben Wissenschaftler diesen anderen Zugang zur Gefühlswelt des Menschen entwickelt. Die Elementar-Emotionen der Heidelberger Psychologen lassen sie links liegen. Dafür achten sie zum einen auf die Physiologie, auf die Erregung, die ein Gefühl im Menschen verursacht. Die Forscher selbst sprechen von Arousal. Zum anderen orientieren sich die Forscher in München an der Kultur. Daran, wie man das Gefühl bewertet. Ist es positiv wie Freude oder negativ wie Ärger? Hier sprechen die Forscher von Valenz. Kann man über diese beiden Größen, über Erregung und Bewertung, Arousal und Valenz, Gefühle messen? Um sie anschließend auf einen Computer zu bringen?
Ja, sagt Björn Schuller. Er leitet die Münchner Arbeitsgruppe „Maschinelle Intelligenz und Signalverarbeitung“. Gefühlserkennende Computer, berichtet er, gibt es schon seit Jahren auf dem Markt, für jedermann zu kaufen. Als Beispiel zieht Björn Schuller sein Smartphone aus der Tasche und zeigt seinen Musik-Player mit einer kleinen Zusatzfunktion. Sie erkennt Stimmungen, die Musikstücke vermitteln. Also Gefühle. Automatisch.
Cut 7: Björn Schuller
… und jetzt hab ich tatsächlich hier, auf meinem Smartphone, tatsächlich diese Anwendung implementiert gefunden. – Das heißt man hat hier leidenschaftlich bis fröhlich, ruhig bis aufregend. – Jetzt könnte ich hier beispielweise ein aufregend fröhliches Stück anwählen und je nachdem (Musik auf, frei, dann drunter) was in meiner Musikbibliothek drin ist, findet er da entsprechend was. So, und jetzt kann ich besonders leidenschaftlich und ruhig nehmen – (anderes Musikstück freistehend)
Sprecherin:
Wenn Computer Gefühle in der Musik erkennen können, dann auch in der Melodie gesprochener Sprache. Statt darauf zu hören, was jemand sagt, haben Björn Schuller und seine Arbeitsgruppe einem Computer beigebracht, auf das wie der Worte zu hören. Auf Tempo, Rhythmus und Pausen, auf Intonation, Wort- und Satzakzent. Der Computer misst Sprachgeschwindigkeiten, mittlere Tonhöhen und deren Abweichungen in der Sprache, errechnet Durchschnittswerte dieser Abweichungen. Dann vergleicht der Computer die gemessenen Werte mit vorgegebenen Beispielen und errechnet daraus schließlich die Erregung des Sprechers.
Schwerer hat es der Computer zu erkennen, wie stark positiv oder negativ der Sprecher seine Erregung bewertet. Dazu muss der Rechner nicht nur einzelne Schlüsselworte erkennen, Flüche beispielsweise oder Laute ohne jede Bedeutung wie hm, mhm und so weiter. Er muss auch erkennen, ob beispielsweise ein Lachen tatsächlich Freude anzeigt oder etwa Resignation, Frustration. Und wieder muss er, wie schon in der Sprachmelodie, exakt messen.
Nun müssen die Forscher noch in einer Tabelle nachschauen. Wie viel Erregung bei welchem Positiv-Wert ist Freude? Wie viel Erregung bei welchem Negativ-Wert ist Ärger?
Cut 8: Florian Aigen
Man kann sich eine Emotion jetzt auswählen – wie zum Beispiel – Ärger – (Computer): Look what you’ve done – (Aigen): Was hast du gemacht? – Das geht auch auf Deutsch, wie man sieht. – Dann kriegen wir hier drei Punkte, weil das komplett richtig war …
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Sprecherin:
Dann ist es zum eigentlichen Ziel des Forschungsprojektes nur noch ein kleiner Schritt. Die Simulation echter Gefühle.
Cut 9: Florian Aigen
(Computer): It’s wonderful to see you. (Aigen): So schön, dich zu sehen, hier. – Allerdings wurde jetzt statt fröhlich hier erstaunt erkannt als Emotion, aber die beiden sind natürlich sehr verwandt.
Sprecherin:
Als Test für das emotionale Hin und Her programmierte die Arbeitsgruppe einen virtuellen Agenten, einen gefühllosen Emotionssimulanten. Er erkennt menschliche Gefühle in der gesprochenen Sprache und simuliert angemessene Gefühlsreaktionen. Der Gefühlssimulant antwortet also auf das, WIE jemand mit ihm spricht und lässt das, WAS einer sagt, außen vor.
Es sei, fasst Björn Schuller seine Arbeit zusammen, wie auf einer überlauten Cocktailparty oder beim fremdsprachlichen Flirt in einem überlauten Raum. Dabei verstehe man auch nicht jedes Wort. Es käme darauf an, an der richtigen Stelle zu nicken und mit inhaltlich formelhaften …
Sprecher:
Wie geht’s dir? – Was machst du? – Woran denkst du? – Ach, das ist ja interessant. – So ist das. – Unmöglich! – Erzähl doch mehr davon. Das ist ja spannend. – Toll gemacht!
Sprecherin:
… aber emotional aufgeladen Worten den anderen aufzufordern, weiterzusprechen.
Cut 10: Björn Schuller
Im Semaine-Projekt hatten wir die Aufgabe, dass wir virtuelle Agenten schaffen. Diese virtuellen Agenten mussten mit einem menschlichen Gesprächspartner möglichst lange sprechen können sozusagen – und das schafft er, indem er das so ähnlich macht wie beim Flirt in einer fremden Sprache. – Und irgendwie schaffen es die beiden, das Ganze aufrechtzuerhalten, obwohl man nicht immer alles versteht.
Sprecherin:
Vier verschiedene Virtuell-Agenten, vier verschiedene Gefühlssimulanten haben die Wissenschaftler programmiert. Zwei Männer, zwei Frauen, alle englischsprachig. Spike, immer angeregt mit negativer Bewertung, erscheint als Figur mit dem Hang zum Manischen. Prudence, wenig angeregt und genauso negativ wie Spike, scheint einen Hang zum Depressiven zu haben. Opediah, niedrig erregt mit positiver Grundhaltung, ist ein unerschütterlicher Optimist, und die überdrehte Poppy, immer aufgeregt und positiv, scheint von einer Party zur anderen zu ziehen.
Cut 11: Björn Schuller
(Poppy): What would put you in a really good mood? (Autor): We could try to talk German. What do you think about? (Poppy): When do you think it will happen? (Autor): Damit können wir sofort anfangen. Ich hab einen Blitzkurs in Deutsch mitgemacht. Mir geht es wunderbar. Und dir? (Poppy): It doesn’t get any better than that. (Autor): Genau. Es geht kaum besser als so. (Poppy): Would you like to talk to someone else?
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Sprecherin:
Noch ist Bernd Schullers System nicht perfekt. Einige emotionale Reaktionen versteht der Computer nicht. Ironie beispielsweise. Wenn man etwas sagt, aber das genaue Gegenteil davon meint. Oder Schauspielerei. Wenn einem im Alltag das ungute Gefühl beschleicht, der Chef beispielsweise tut nur so kumpelhaft mit seinem „erzählen Sie doch mal offen“, um einen aufs Kreuz zu legen.
Auch das zugrundeliegende Modell hat Grenzen. Zwei Kriterien zur Identifikation von Gefühlen – Aufregung und die positiv-negativ-Bewertung – sind wenig. Was ist, wenn sich zwei Gefühle in Aufregung und positiv-negativ-Bewertung gleichen? Etwa cholerische Wut und panikartige Angst? Dann muss der Computer ein drittes Kriterium messen. Die Intensität vielleicht.
Wie viele Kriterien es für einen künstlerischen Feingeist, einen Durchschnittsmenschen oder einen Soziopaten braucht, weiß niemand. Geschweige denn, welche Kriterien. Man bastelt, bis es klappt, auf der Grundlage: Je mehr Kriterien der Computer vermisst, desto mehr Gefühle kann die Maschine voneinander unterscheiden. Björn Schuller arbeitet momentan mit fünf Kriterien. Zu den genannten, Erregung und positiv-negativ-Bewertung, kommt, wie gesagt, die Dominanz hinzu, sowie das Kriterium, wie neu das Gefühl ist und wie intensiv.
Cut 12: Björn Schuller
Das ist jetzt genau die Aufgabe für den Computer. – Der beobachtet den Menschen durch verschiedene Beobachtungskanäle – sei es das Mikrofon für die Sprache, sei es die Kamera fürs Bild. – Dann lernt er letzten Endes aus Daten und die Krux ist dabei sozusagen, ihm charakteristische Merkmale herauszuarbeiten, damit er es wiedererkennen kann.
Sprecherin:
Björn Schuller ist ein Menschenfreund. Das sagen die Anwendungen auf seinem Emotional-Computer. Mit einem Spiel sollen Autisten lernen, verschiedene Emotionen zu unterscheiden. Ein anderes Programm, auf die Erkennung von Langeweile verengt, soll Schulabgänger fit für Bewerbungsgespräche machen.
Realität ist jedoch, dass heute kommerziell erhältliche Gefühlerkennungs- und -Simulationsprogramme weder aus dem Gesundheits- noch aus dem Sozialbereich kommen. Neben der erwähnten automatischen Klassifizierung von Musikstücken auf MP3-Playern sollen Controlling-Programme in Callcentern aus dem Gesprächston die Kundenzufriedenheit messen. Die Firma Syngera aus Sankt Petersburg bietet für den Einzelhandel Überwachungsprogramme an, die anhand von Kamerabildern die Gefühlswelt von Kunden beim Blick auf beispielsweise Consumer-Elektronik ausloten. Am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, USA, haben Studenten den Campus mit Stimmungsmessgeräten bestückt, sodass jedermann weltweit schauen kann, wo die beste Laune herrscht.
Weitere Anwendungen kann man sich vorstellen. Der Verkäufer für Kleidung und Autos ist in der Diskussion. Also von Waren, die sich über ein werbevermitteltes Lebensgefühl, das Image, verkaufen. Schlimmeres kommt einem zwangsläufig in den Sinn. Eine Ich-verstehe-dich-Maschine. Der Roboter-Freund. Der Beste, den man finden kann, weil er immer Zeit hat, immer zuhört, immer wie gewünscht reagiert. Oder dessen Professionalisierung. Der Computer-Therapeut. Oder, sollte nicht nur die menschliche Psyche, sondern die Seele auf dem Spiel stehen, der digitale Seelsorger. Auf Wunsch katholisch oder protestantisch programmiert.
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Cut 13: Björn Schuller
Sie sind dann natürlich noch einen Schritt weitergegangen mit dem Seelsorger. – Den Agent vom Semaine-Projekt haben wir schon immer, ja, so ein bisschen in der Richtung wahrgenommen – weil wir das das emotionale Workout dann genannt hatten. – Zunächst nur spaßeshalber, aber haben dann gemerkt, das ist wohl nicht nur spaßeshalber so. Aber, was ich bisher so beobachte, wie Nutzer bisher mit dem System umgehen, könnte man sich wahrscheinlich vorstellen, in solche Richtungen zu denken.
[Sprecherin:
Wie realistisch sind solche Anwendungen? Computerseelsorger, Computertherapeut. Computer, vielleicht als Roboter, die uns Menschen verstehen. Menschelnde Maschinen. Anfang des Jahrtausends hatte Sony den Computerhund Aibo auf den Markt gebracht. Kein Gassi-Gehen, keine zerfledderten Hausschuhe, keine Probleme mit dem Vermieter wegen Haustierhaltung. Aber jemand daheim, der einem etwas Leben in die Bude bringt und darüber hinaus sogar noch E-Mails vorliest. Ebenfalls um die Jahrtausendwende brachte das Unternehmen Honda den humanoiden Roboter Asimo auf den Markt. Seine Weiterentwicklung, aus der allerdings nichts wurde, sollte mal eine Spaziergang-Begleitung für Ältere sein, ein Pförtner, eine Pflegekraft im Krankenhaus und Altenheim.
Werden wir künftig mit Gefühlsrobotern leben? Nicht nur mit Digital-Therapeuten und -Seelsorgern, sondern auch mit Digital-Künstlern, die noch unbekannte menschlichen Gefühlswelten erforschen, einzelne Gefühle bis in nie erlebte Tiefen ausloten und sie den Menschen – uns – in Kunstwerken vor Augen führen?
Atmo Roboter
Sprecher:
Berlin, der Chor-Saal der Komischen Oper am Pracht-Boulevard „Unter den Linden“. 2014 probt hier der humanoide Roboter Myon für seinen Auftritt. Auch er ist eine Gefühlsmaschine, sagt sein Entwickler, Manfred Hild von der Humboldt-Universität.
Cut 14: Manfred Hild
Wenn wir ‘nen Roboter loslassen von ‘ner Leine, und die soll sich ihre eigenen Ziele suchen. Ganz so wie das Kleinkinder tun. Dass die Maschine das tut, wofür ihre Kapazitäten gerade ausreichen – nicht überfordert, aber auch nicht unterfordert – dann passiert genau das. – Man braucht dann Emotionen wie Langeweile oder Interesse oder Neugier, und dem muss sich die Maschine dann zuwenden können.
Sprecherin:
Die Gefühle Langeweile und Neugier treiben den Roboter an. Darin ist die Maschine ganz menschlich. Gefühle machen, dass das Ding lernt. Das Programm ist aber so geschrieben, dass niemand weiß, was der Roboter Myon lernen wird. Was er an verarbeiteten Daten in seinem Speicher ablegen wird. Ebenso wenig kann jemand sagen, was der Roboter auf der Bühne machen wird, welche Rolle er spielen wird, wenn das Projekt My Square Lady Premiere hat. Ob er nur herumsteht wie eine überflüssige Kulisse, ob er den Sängern permanent zwischen den Füßen herumläuft und die Aufführung zu Fall zu bringen droht, oder ob er sich in die Hauptrolle hineindrängt. Die Maschine lernt nach eigenem, nach simuliertem Gefühl.
Atmo Roboter hoch
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Sprecherin:
Kann man Gefühle messen? Roboter-Gefühle, Computer-Gefühle, menschliche Gefühle? Oder erreichen die wissenschaftlichen Mess-Apparaturen wie in München nur untergelegte Kriterien, Aufregung und positiv-negativ-Bewertung, oder führen, wie die psychologischen Tests in Heidelberg, zu subjektiven Einschätzungen von alltagsfernen Elementar-Emotionen? Wieder ändert sich der Blick. Diesmal aber nicht der Blick auf die Gefühle eines Menschen, sondern der Blick auf den Menschen selbst. Der Mensch als Maschine, die rein körperliche, physiologische Seite der Gefühle.]
Atmo Auto, anhalten, Türzuschlagen, Schritte; Überhang Atmo EEG-Messung
Sprecher:
Der Weg führt zurück an die allgemeine Psychiatrie in Heidelberg. Zurück unter die weiße EEG-Kappe im weißen EEG-Raum zu den schwarz-weiß-Bildern verärgerter – oder freundlicher? – Gesichter. Das Versuchsdesign, erzählt die Leiterin der Arbeitsgruppe „Persönlichkeitsstörungen“ Katja Bertsch, ist wohlüberlegt. Versuchspersonen etwa gleichen Alters, gleiche Tageszeit der Experimente, gleiche Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Aber, geht einem durch den Kopf, die Menschen sind nicht derart gleich. Frühaufsteher gegen Nachtaktive, Wetterfühlige gegen Unempfindliche, Frühreife gegen Entwicklungsretardierte.
Atmo EEG-Messung
Sprecherin:
Die physiologische, die maschinelle Seite des Menschen. Auch hier suchen Forscher Gefühle. Auf ihrer Jagd unterscheiden sie zwischen Gehirn und peripherem System. Im peripheren System, also in dem, was den Menschen ausmacht abzüglich seines Gehirns, beschreiben sie Hormonkreisläufe. Im Gehirn folgen sie beispielsweise per Magnetresonanz den Erregungen verschiedener Zentren. Im EEG, wie in Katja Bertschs Experiment, können sie keine Hirnzentren unterscheiden. Sie sehen nur die Reaktion des gesamten Organs Gehirn und folgen der Hirnreaktion als Ganzes. Und die kommt in Bruchteilen von Sekunden, sagt Katja Bertsch:
Cut 15: Katja Bertsch
Wir sind mitten in der Auswertung – wir sehen tatsächlich Unterschiede zwischen den Patienten und den Kontrollen, wo wir wissen, dass sie sehr wichtige Prozesse der Gesichtsverarbeitung abbilden. – Das sind schon sehr frühe Potenziale im Beriech von 200 Millisekunden, dann aber auch spätere Komponenten so um 300, 400 Millisekunden, die so etwas wie die Kategorisierung der Emotionen betreffen. Also wie stark ich selbst diese Emotionen an mich heranlasse.
Sprecherin:
Kann man nach einer Auswertung des EEGs mit ingenieurstechnischer Sicherheit sagen, ob die Freude auf einer nach oben offenen Emotionsskala Stufe fünf erreicht hat? Der cholerische Wutanfall die sieben? Die Liebe zum neuen Nachbarn die zwei Komma drei? Wohl kaum. Per EEG kann man hauptsächlich, und das wird auch dieses Experiment zeigen, Gefühle identifizieren. Jedenfalls wenn man, wie in Björn Schullers Computersimulationen, die Mess-Ergebnisse über viele Versuchspersonen hinweg statistisch bearbeitet.
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Sabine Herpertz, die Leiterin der Allgemeinen Psychiatrie in Heidelberg, möchte das menschliche Gefühlserleben nicht auf EEG-Ergebnisse, auf Computersimulationen und psychologische Testergebnisse reduzieren:
Cut 16: Sabine Herpertz
Ich habe da etwas Sorge vor einer Vereinfachung. Ich denke, dass wir viel unseres Erlebens messen können und gleichzeitig nicht die Komplexität des menschlichen Erlebens hinreichend abbilden können. Es bleiben immer gewisse Ausschnitte. Gewisse Korrelate. Aber es ist nie dasselbe wie unser komplexes Erleben.
[Sprecherin:
Katja Bertsch wird mit den EEG-Messungen neue Erkenntnisse zur Persönlichkeitsstörung namens Borderline-Syndrom gewinnen. Dass, anders als häufig geglaubt, Borderline-Patienten nicht aus Frustration krankhaft impulsiv reagieren und unfähig sind zu stabilen, zwischenmenschlichen Beziehungen. Sondern dass die Durchschnittsergebnisse nahelegen, dass sich diese Patienten schneller bedroht fühlen als gesunde Menschen.
Dieses Ergebnis bezieht sich jedoch auf das, was Wissenschaftler als Gefühl bezeichnen. Von den unstrukturierten Gefühlswelten des Alltags liegen die wissenschaftlichen Beschreibungen jedoch noch meilenweit entfernt. Man könnte sogar sagen: die Gefühlswelten der Wissenschaft und die des Alltags bilden parallele Universen.]
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