PA4-Diskurs-/Denkbild-Grundlage für Vielfalt in der Enheit

PA4-Diskurs-/Denkbild-Grundlage für den 24.04.2004
http://archiv.kultur-punkt.ch/akademie4/diskurs-runden/pa4-vielfalt-einheit24-4-04.jpg < Bildzugang

<<Vielfalt in der Einheit>>

Alain, Carolle, Heribert, Luigi, Marga, Walter;

Quellen: PA4 25.06.00; Thomas Meyer 21.3.04 SWR2; Platon, Politeia 351ff, 476ff, 477ff, 525ff…

 Das Unsagbare (das der Sprache Entzogene) / indicibile ; das Unaussprechliche (jedoch für das überbewusste Vermögen metaphysisch Erfahrbare) / ineffabile ; Ge-WAHR-en („Wittern“: Hyponoia) des Unausdrückbaren (inexprimabile) und Unbeschreiblichen im absoluten Schweigen
Das Eine / unum entzieht sich der Sprache und ist deshalb undefinierbar archê tu pantos (Prinzip von Allem, das diesem gegenüber nicht absolut transzendent sein kann) Subsistenz (Hyparxis) des Einen vor dem Sein: Henologie geht der Ontologie

Kennzeichnend für die Gesprächsführung bei Platon und für die PA4 ist die Enthaltung Jeglicher Festlegung auf irgendeinen dogmatischen Standpunkt. Diese Einstellung bildet den Rahmen, in dem all unsere Diskurse sich gestalten.

(Apollinische En-stase) Verinnerlichung
Eintracht, Freundschaft…

 

Vernunft & Wissen (Doxosophie)

 

 Einheit um jeden Preis

(Prinzipienreiterei; Vereinnahmung)

 

 

 Eindeutigkeit

Das Schöne

 

Erkenntnis vom Existenten

 

 

 Eins (Nicht-Vieles)


Das Eine

  Unerschütterliches, unveränderliches Sein

(Platonische Eu-stase)

Ausgewogenheit

 

351ff

 

Gerechtigkeit (Philosophie)

Rahmen-Identität:

Einheit, welche die Vielfalt akzeptiert und den ihr entsprechenden Platz zuweist

 476-477ff

 Adäquate Deutung

Wahrhaftigkeit: Die Wahrheit schauen wollen

 Erfassen der Seinsquelle, des (Un-)Gerechten sowie von Gutem und Schlechtem

 525ff

Schau des wahren Seins Einzigkeit, Einheitlichkeit, Einfalt  

 Einheit in der Vielfalt  

Stabile Seinsträger, die den wechselhaften Erscheinungen zugrundeliegen

(Dionysische Ex-stase)

Ent-Äusserung

 

 Zwistigkeit, Hader, Hass

 

Glauben, Meinen (Philodoxie), Lieben

 Vielfalt um der Vielfalt willen

(Beliebigkeit: „anything goes“)

 

 Doppel-, Mehrdeutigkeit
Das Hässliche  

Nichterkenntnis vom Nichtexistenten

 

 

 

 

Uneins (Nicht-Eines)
Das Viele  

Ständig sich wandelndes, vergängliches Seiendes

Fazit: „[…] die Seele forscht nach, indem sie in sich das Denken erweckt, und sie fragt, was denn die Eins an sich ist; und so würde dann das Wissen um die Eins zu jenen Kräften gehören, die uns umwenden und zur Schau des wahren Seins führen.“ . Mai 2004

 Zum EUROPA der 25: Die (Teilhabe-)Demokratie ist eine andauernde Baustelle, ein Bruchgiebel, mehr auf politischer (offener) Identität, als auf kultureller Identität beruhend, daher der unbezwingbare Drang zur regionalen Vielfalt und peripheren Blickweise.. Es kann eine europäische Bürgeridentität sich nur mit individueller Kultur und Prägung von Vielfalt entfalten

Prof. Thomas Meyer: Die Vielfalt in der Einheit – Über die zukünftige Identität Europas

http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html

SWR2 Aula - Manuskriptdienst Redaktion: Ralf Caspary. Sendung: Sonntag, 21. März 2004, 8.30 Uhr, SWR 2.

Die Vielfalt in der Einheit – Über die zukünftige Identität Europas

Das Thema europäische Identität ist seit langem eine Versuchung, gleichermaßen für den politischen, den intellektuellen und den sozialwissenschaftlichen Diskurs. Zuletzt hat das Thema europäische Identität im Frühsommer 2003 den Konvent genarrt, der den Grundlagentext erarbeitet hat, der der Europäischen Union eine zukunftsweisende Verfassung bringen soll oder vielmehr sollte. Die Stelle im Text, die des Identitätsrätsels Lösung schwarz auf weiß enthalten sollte, so war es jedenfalls geplant, ist am Ende leer geblieben -, weil sich die Gesandten der unterschiedlichen Länder, unterschiedlichen Interessen, Kulturen, Konfessionen, Bekenner aller möglichen Überzeugungen Europas mit nichts von dem identifizieren mochten, was von den verschiedenen Seiten im Verlaufe des Prozesses vorgeschlagen worden ist. Nichts fand die Gnade aller. Eine kulturelle Identität Europas ließ sich vor dem Forum, das über die künftige politische Identität des Kontinents befinden sollte, nicht feststellen.

 

Nun läge es nach all den Gewaltexzessen, die während des ganzen 20. Jahrhunderts in Europa und noch vor kurzem in seinem Südosten im Namen von Identität begangen und begründet wurden, durchaus nahe, Identität vielleicht sogar für einen Begriff zu halten, der in der Politik vor allem Unheil stiftet und gerade darum vielleicht sorgsam zu meiden wäre. Er eignet sich ja sogar, wie wir an jedem beliebigen Stichtag an allen Ecken und Enden der Welt beobachten müssen, nicht schlecht zur Mordwaffe.

 

Identitätspolitik ist zu einem barbarischen Destruktionspotential moderner, zivilisierter Politik geworden, vor allem in den letzten Jahrzehnten. Im Namen von Identität lassen sich, und zwar auch im Namen der Identität des Westens, auf dem unbegrenzten Feld des politischen Willens zur Herrschaft und Suprematie viele Begründungen anmelden. Zu viele?

 

Beim genaueren Hinsehen erweisen sich vor allem die Gattungen religiöse Identität und ethnische Identität, mitunter auch kulturelle Identität, als Hauptdelinquenten moderner Gewaltpolitik. Identität erscheint folgerichtig (zumal nach dem krisengeschüttelten Jahrzehnt der allerjüngsten Geschichte mit ihren zahlreichen Beispielen eines in ihrem Namen betretenen Zivilisationsverfalls) als ein Begriff, der Verdacht erweckt. Das ist die eine Seite. Andererseits wissen wir aber auch, dass politische Gemeinwesen, deren Bürger nicht ein Zugehörigkeitsbewusstsein verbindet, das keinen anderen Namen kennt als ebenfalls den der Identität, in ihrem Bestand gefährdet sind, wenn es ihnen nicht gelingt, ein gemeinsames Bürgerbewusstsein auszubilden. Das gilt vor allem für Demokratien und alle Formen politischer Förderation im weiteren Sinne, die ja lose verbunden sind, vermutlich sogar in ganz besonderem Maße für die Europäische Union. Solche politischen Gebilde gewinnen Legitimität und Stabilitäten nur, wo ihre Bürger politisch zusammen gehören, sich als Mitglieder derselben politischen Einheit empfinden und deswegen eine gemeinsame politische Identität ausbilden, ein politisches Zusammengehörigkeits-Bewusstsein. Identität in diesem Sinne ist also eine Bedingung stabiler Demokratie. Ist sie eine Bedingung von Demokratie und eine Bedrohung zugleich?

 

Diese Frage scheint sich zu stellen, wenn man die verschiedenen Beobachtungen überblickt, die ich hier vorgetragen habe. Vaclav Havel, der ehemalige tschechische Präsident und Intellektuelle, hat gemeint vor wenigen Jahren, wenn es nicht gelänge, der Europäischen Union eine gemeinsame politisch-kulturelle Identität zu verschaffen, dann bliebe die Europäische Union auf ewig ein seelenloses Getriebe von Institutionen, eine Maschine sozusagen ohne Seele – nichts, womit sich die Bürger in Europa identifizieren würden. Deswegen war er einer der Hauptbefürworter für ein Projekt europäischer Identität, an dem die Europäer arbeiten sollten. Das war seine Aufforderung.

 

Was ist davon geblieben? Im Entwurf für eine europäische Verfassung, den der Konvent im vorigen Jahr vorgelegt hat, wie gesagt, ist also in Bezug auf die kulturelle Identität nichts zu finden. Wir wissen, dass sich die Mitglieder des Konvents lange gestritten haben. Die einen wollten das Christentum, die christliche Tradition dort stehen haben an dieser Stelle, die anderen die Aufklärung, schließlich gab es Kompromissvorschläge: beides, die christliche Tradition und die Aufklärung zur kulturellen Identität Europas zu erklären; auch das ist gescheitert. Dafür ließ sich ebenfalls kein Konsens finden. Was nun dort steht, sind eigentlich ganz allgemeine politische Grundwerte: Gleichheit der Menschen, die Freiheit, der Vorrang der Vernunft. Das sind die drei Forderungen, die an der Stelle stehen, wo es um europäische Identität geht - rein politische Grundwerte also; übrigens solche, die überall auf der Welt gelten können, überall auf der Welt Geltung beanspruchen können, auch wenn es überall Kräfte gibt, die sich dagegen verwahren. Das gilt insbesondere auch für die Forderung des Vorrangs der Vernunft.

 

Nun könnte man eigentlich zunächst fragen, was meint eigentlich der Entwurf damit? Vernunft und ihr Vorrang wovor eigentlich? Gegenüber wem? Hier ist eine sehr interessante Beobachtung am Platze, die etwas zu tun hat mit dem Spezifikum europäischer Identität. Der Vorrang der Vernunft, überhaupt einer Rolle der Vernunft in diesem Sinne ist nämlich ein Vorschlag, der ursprünglich von Ibn Rushd, dem bekannten muslimischen Gelehrten, kam – er hat ihn im 12. Jahrhundert formuliert – und hat als Erster, bevor die christlichen Gelehrten anfingen, diesen selben Gedanken zu denken und zu diskutieren, den Vorschlag gemacht, künftig deutlich zwischen Glauben und Wissen, zwischen dem, was uns im Glauben plausibel erscheint, und dem, was unsere Vernunft beglaubigt, zu unterscheiden. Er hat ein Eigenrecht der Vernunft gegenüber dem Glauben verlangt. Eine Forderung, die dann nicht viel später im 13. Jahrhundert von zwei Franziskaner-Mönchen, zwei Gelehrten, die damit zu den Begründern der europäischen modernen Kultur wurden, wie ich denke, aufgegriffen wurde, nämlich Wilhelm von Ockham und Johannes Duns Skotus, die beide diesen Gedanken einer Notwendigkeit der Trennung von Vernunft und Glauben ihrem Werk zugrunde gelegt, ihn weiter vorangetrieben und damit die „via moderna“, den Weg der modernen Kultur begründet haben.

 

Das ist eine interessante Beobachtung, bedeutet sie doch, dass der vielleicht wichtigste Gedanke für die europäische Identität, wie er jetzt sozusagen als einziger fast im Verfassungsentwurf noch übrig blieb, gar nicht aus dem heraus erwachsen ist, was als das ganz besonders Eigene der europäischen Kultur in Anspruch genommen wird, sondern sozusagen von außen kam und ein Vorschlag war, den ein islamischer Gelehrter, der am Rande Europas – kulturell gesehen, wenn er auch geografisch in Europa lebte -, gemacht hat. Das verweist auf das interessante Verhältnis von Eigenem und Fremden. Das hat schon der allererste Mythos, der sich mit der Entstehung Europas beschäftigt, so gesehen. In diesem ursprünglichen Mythos scheint eine Wahrheit zu stecken, die ans Licht zu fördern sich gerade für aktuelle Fragestellungen: was ist denn das für eine Identität in Europa?, wie verhält sie sich denn zu anderen Identitäten? weiterführen kann. Der Mythos von der Entstehung Europas beschreibt ja, wie die Tochter des Agenor, des Königs von Sidon, von phönizischem Territorium von keinem geringeren als dem Göttervater Zeus persönlich nach Kreta entführt wurde und hier eben sozusagen die Wiege Europas stand. Also eine interessante Mischung. Es vermischen sich im Mythos wie auch in den tatsächlichen Einfluss-Strömen, wenn man es geschichtlich rekonstruiert, verschiedene Identitäten, verschiedene Einfluss-Strömungen zu dem, was dann Europa werden sollte.

 

Die Übernahme des anderen wird zur Wurzel, wird zur eigentlichen Quelle europäischer Identität. Der Mythos des Raubes der Königstochter durch das Oberhaupt der Götter verklärt die trivialere Geschichte einer Reihe kultureller Importe, die zur Voraussetzung dessen wurden, was Europa werden sollte. Das gilt, wie genauere Studien gezeigt haben, auch für den Fortgang der Geschichte Europas in seinem Verhältnis zu den beiden kulturellen Hauptrivalen, von denen es im offiziellen Selbstverständnis durch scharfe und eindeutige Trennlinien geschieden sein sollte: Byzanz und Islam.

 

Von Byzanz hat es die meisten Rituale und Formen übernommen, die Staatlichkeit in Europa symbolisch konstituieren; von islamischen Gelehrten, wie ich vorhin kurz gezeigt habe, den Gedanken der Trennung von Glaube und Vernunft, der dann in der Aufklärung seine besondere Wirkung entfaltete und zur Grundlage dessen werden sollte, was das moderne Europa ist, worauf sich heute europäische Identität beziehen muss.

 

Das Europa der Gegenwart ist erst möglich geworden, als es sich in nahezu allen, die Konstitution des politischen Gemeinwesens betreffenden Fragen in einem wahrhaft revolutionären Bruch dann von den alten christlichen Traditionen abgewandt hat, die die europäische Geschichte bis dahin in erheblichem Maße geprägt haben. Dabei ging es eben um den Bruch mit der christlichen Tradition, den die Aufklärung vollzieht. Die in der Aufklärung begründete Vernunft der Regelung öffentlicher Verhältnisse brachte eine Kultur der Moderne hervor. Und diese Kultur der Moderne ist etwas Besonderes. Es wäre ein großes Missverständnis zu behaupten, was allerdings sehr oft geschieht, dass die Kultur des Westens, die alte westlich-europäische Tradition, so wie sie im Christentum wurzelte, nichts anderes sei als die Kultur der Moderne oder vielmehr die Grundform der Kultur der Moderne, die sich dann noch ein bisschen gewandelt hat und dann zu dem geworden sei, was sie heute ist. Es gibt vielmehr, wie die genauere Betrachtung zeigt, da doch einen sehr erheblichen Unterschied: Die alte Kultur des Westens, also die in besonderer Weise durch die christliche Tradition geprägte Kultur des Westens, kennzeichnete sich doch durch eine Reihe von Kriterien, die der Kultur der Moderne, die heute die Kultur Europas ist, völlig fremd ist.

 

Ich möchte anhand einiger dieser Differenzen auch gleichzeitig zeigen, worin ich gegenwartsbezogen die wichtigsten Unterschiede zwischen kultureller und politischer Identität sehe; denn meine Hauptthese, zu der ich dann später komme, ist: Was Europa braucht und allein gewinnen kann, ist eine politische Identität. Und diese politische Identität besteht zum großen Teil gerade darin, im kulturellen Bereich nicht Identität, sondern Vielfalt zu verlangen und zu ermöglichen. Die Kultur des Westens also, diese Kultur christlicher Prägung war in hohem Maße bis ins 18. Jahrhundert hinein eine Kultur des Allgemeinen, eine Kultur der Einheit, eine Kultur der Gewissheit. Das Christentum wurde einheitlich interpretiert. In dieser christlichen Tradition galt der Vorrang des Allgemeinen vor dem Individuellen. Unterschiede, Differenzen, das Recht des Individuellen, gar Menschenrechte spielten darin keine Rolle. Sondern dieses Allgemeine, die allgemeine Wahrheit des Christentums eben, die als Einheit gedacht wurde und jedenfalls hier im Westen auch als Einheit mehr oder weniger sicher betrieben und aufbewahrt werden konnte bis zu den Religionskriegen, war eine Kultur der Gewissheit. Man glaubte eben, und daran war legitimer Zweifel gar nicht erlaubt, dass dieses Allgemeine etwas ganz Gewisses sei, aus göttlicher Offenbarung stammend und deswegen auch berechtigt. Das Leben der Einzelnen, die Ordnung der Gesellschaft, das politische Gemeinwesen nicht nur zu formen, sondern verbindlich zu regeln, und es war eben nicht legitim, gegenüber der Gewissheit dieses Allgemeinen, Ansprüche des Besonderen, der Differenz, des Individuellen geltend zu machen. Zwar gab es in dieser Tradition einige Besonderheiten gegenüber einigen anderen kulturellen Traditionen, wie etwa ein gewisses Maß an Rechtlichkeit, bestimmte Formen politischer Repräsentation der Gesellschaft im Staat und eine gewisse Trennung von geistlicher und weltlicher Macht. Aber dieses Denken der Gewissheit des Allgemeinen, das einen Vorrang vor allem Einzelnen hatte und die Illegitimität der Differenz, das war doch das, was die Kultur des Westens ausgemacht hat. Und erst als diese Kultur zerbrach in der Reformation, als diese Einheit sich nicht mehr aufrecht erhalten ließ, sondern diese verschiedenen Teile, die aus dem Zerfall der Einheit entstanden, mit großer Erbitterung gegeneinander los gingen und ihre Gewissheitsansprüche gegeneinander geltend machten, erst in diesem Augenblick wurde offenbar, dass sich darauf nichts mehr die Gesellschaften in Europa Einigendes gründen lassen würde. Die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts waren die Folge. Und erst als sich in diesen Religionskriegen mit ihren Abermillionen Opfern nachdrücklich gezeigt hatte, dass so etwas wie eine auf einer der Varianten des Christentums begründete Einheit gar nicht mehr schaffen lässt, war die Zeit gekommen, dass die Aufklärung zum allgemeinen Bewusstsein wurde und die moderne Kultur entstand.

 

Die moderne Kultur ist nun, wie ich vorhin andeutete, etwas ganz anderes als die westliche, obwohl sie aus ihr hervor gegangen ist. Sie ist sozusagen aus ihrem Ende hervor gegangen. Sie ist ihr Erbe, aber Erbe im Sinne dessen, dass sie etwas fortsetzt, was gescheitert ist, und in der Überlegung, worauf das Scheitern sich gründete, ihre eigenen Maßstäbe stützt. Die Kultur der Moderne ist nämlich die Kultur des Individuellen, die weiß, dass die Unterschiede und Differenzen (etwa in der Interpretation der christlichen Überzeugungen, aber auch kritischer, nicht mehr christlicher Tradition) bleibend sind, dass es keinen Standpunkt mehr gibt, aus dem diese Unterschiede versöhnt oder unter eine Einheit ohne Gewalt gebracht werden können. Deswegen ist die Kultur der Moderne eine Kultur der Ungewissheit (wir müssen damit leben, dass wir Verschiedenes für richtig halten), eine Kultur des Individuellen (die Individuen, die Gruppen haben ihr eigenes Recht in der Art wie sie leben wollen, in der Art, wie sie die Formeln des Gemeinwesens, das Gemeinwohl interpretieren, in der Art, wie sie sich ihr eigenes Leben vorstellen). Die Kultur der Moderne ist also von der Überzeugung getragen, dass nach dem Zerbrechen der alten christlichen Gewissheiten nur noch Formen, die das friedliche Zusammenleben der Vielen ermöglichen, eine Form von Identität bereit stellen, auf die sich alle einigen könnten. Das sind vor allen Dingen: Rechtsstaat, Demokratie und die Menschenrechte. Das sind Formen einer politischen Identität, die den unterschiedlichsten kulturellen Identitäten genügend Raum bieten. Deswegen ist aus seiner eigenen Geschichte heraus die Identität Europas eine politische Identität geworden, die keine kulturelle Identität mehr zur Voraussetzung hat. Denn: die verschiedenen christlichen Strömungen, die einander in den Konfessionskriegen befehdeten, und die anderen Traditionen, etwa die des Humanismus und der Aufklärung, die sich davon ganz abgewendet hatten, konnten sich als Regel des Zusammenlebens auf nichts anderes mehr verständigen als eben diese politischen Grundwerte der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie, des Pluralismus und der Menschenrechte. Das Paradoxe ist nun, dass diese politischen Grundwerte, die das Ergebnis der europäischen Geschichte sind und ein Dokument des Scheiterns, auf kultureller Grundlage Identität zu erzeugen, einen universellen Anspruch haben. Das sind ja Dinge, die sind zwar in Europa zuerst entstanden, wie manches Andere auch, die sind aber nicht darauf relativ, dass sie nur in Europa entstehen könnten. Sie haben einen universellen Geltungsanspruch; denn überall dort auf der Welt, wo die gleiche Erfahrung gemacht wird, dass ehedem homogene einheitliche Traditionen sich entzweien, weil die Menschen beginnen, verschiedene Gedanken, Interessen und Vorstellungen zur Geltung zu bringen, überall dort wird ja dieselbe Erfahrung gemacht und überall dort sind die Grundnormen der Moderne, wie können die kulturell Verschiedenen dennoch gemeinsam friedlich in einem politischen Gemeinwesen zusammen leben, in Geltung setzt. Also eine universelle Gültigkeit, die auch kaum noch irgendwo auf der Welt heute bestritten wird, jedenfalls nicht in den legitimierenden Ansprüchen, vielleicht nur in der Praxis von bestimmten Herrschern, die ganz andere Vorstellungen damit verbinden.

 

Das also ist der Unterschied zwischen kultureller und politischer Identität am Beispiel. Und dieser Unterschied ist sehr sehr wesentlich, weil der Glaube, dass politische Identität kulturelle Identität voraussetzen würde, gefährlich ist. Es ist nämlich der Glaube, der zur Identitätspolitik führt, die wir beobachten mussten auch im letzten Jahrzehnt in Europa selber, der Glaube, dass nur diejenigen in einem Gemeinwesen zusammenleben können, die die kulturellen religiösen Grundlagen ihres Lebens miteinander teilen. Das ist vielleicht ein Gedanke, der im alten Europa seine Beglaubigung hatte, der im modernen Europa aus den Gründen, die ich nannte, keinen Platz mehr hat und hier zur Gefahr würde, nämlich zur Grundlage jener Identitätspolitik, die glaubt, unter Berufung auf ethnische und religiöse Identitäten Herrschaftsansprüche legitimieren zu können, nämlich alles auszumerzen, zu entfernen, zu unterjochen, was kulturell oder religiös anders ist.

 

Dieses ist gleichzeitig auch das wichtigste Argument dafür, wie Europa seine Identität heute sehen soll. Die Identität der Europäischen Union als politischem Gemeinwesen kann also nur eine sein: Die die Gemeinsamkeit der Überzeugungen von Rechtsstaat, Pluralismus, Menschrechten und Demokratie in einem gemeinsamen politischen Gemeinwesen so interpretiert, dass alle kulturellen und religiösen Verschiedenheiten, die diese politische Gemeinsamkeit nicht gefährden, legitim sind. Ja, man kann geradezu sagen: Es ist der Sinn der politischen Identität, die kulturelle Nicht-Identität zu ermöglichen, zu legitimieren und ihr sicheren Raum zu verschaffen. Wenn wir Bürger Europas sind, also Bürger der sich ja erweiternden, wachsenden und der in ihren letzten Grenzen nicht festgelegten Europäischen Union, dann sind wir Bürger, die etwas Politisches miteinander verbindet und die in diesem Rahmen kulturell und religiös so verschieden sein dürfen, wie sie nur wollen.

 

Das was an Kultur vielleicht doch erforderlich ist, um diese politische Identität zu stützen, ist lediglich eine politische Kultur, nämlich der Teil der Kultur, der sich auf die politischen Überzeugungen der Menschen bezieht, nämlich auf die politischen Überzeugungen der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Menschenrechte.

 

Das scheint mir das allerwichtigste zu sein, und jeder Versuch, die kulturelle Identität in den Vordergrund zu stellen, sprengt das Gemeinwesen Europa und stellt eine Gefahr für es dar.

 

Jetzt stellt sich aus aktuellem Anlass die Frage, wie sieht es denn aus, wenn nun die Osteuropäer hinzu kommen in Kürze. Sind die nicht eine Bedrohung für die Identität Europas? Es ist in der Tat richtig, dass die Osteuropäer aufgrund ihrer jüngsten Geschichte andere Erfahrungen und Prägungen haben als die meisten Westeuropäer. Und es ist auch richtig, dass wir sehr sorgsam darauf achten müssen, wie sich diese Differenzen, die jetzt am Anfang sichtbar werden, im weiteren Verlauf der gemeinsamen Bürgerexistenz in der Europäischen Union entwickeln werden. Es gibt ein gewisses Risiko, das die Osteuropäer zu den neuen Parias Europas werden aus unterschiedlichen Gründen. Einige Äußerungen, etwa die des französischen Staatspräsidenten Chirac im vergangenen Jahr, der so eine Art Vormundschaft des Westens über die Osteuropäer beansprucht, haben das noch einmal sehr deutlich gemacht.

 

Es gibt also auf beiden Seiten Ängste. Im Westen gibt es Ängste, dass die Osteuropäer vielleicht politisch doch nicht so ganz zu Westeuropa passen könnten. Es gibt ökonomisch begründete Ängste. Es gibt Ängste, dass nun viele Wanderarbeiter aus diesen Ländern nach Westeuropa kommen und den Wohlstand hier gefährden. Ist Osteuropa gibt es die Ängste, dass eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union vielleicht doch bedeutet, dass man aufs Neue unter Vormundschaft genommen werden sollte. Es gibt vor allen Dingen eine ganz wichtige verschiedene Erfahrung, die man genau im Auge behalten muss: Die Osteuropäer denken zum großen Teil, dass sie ihre Freiheit nicht der Zivilmachtpolitik und der Friedenspolitik der Europäischen Union verdanken, sondern den Gewaltdrohungen der USA gegenüber der Sowjetunion. Deswegen glauben sie, dass die militärische Macht der USA auch für die Zukunft eine bessere Gewähr für die Sicherung ihrer Freiheit ist als die Unterstützung dieser Zivilmacht zur Friedenspolitik der Europäischen Union. Hier müssen wir sehr aufpassen im Osten und im Westen Europas. Es muss sichtbar werden. Und ich bin davon überzeugt, dass es das auch wird, dass diese Zivilmachtpolitik Europas letzten Endes im globalen Maßstab und auf dem Kontinent Europa ohnehin die bessere Gewähr für einen dauerhaften Frieden gibt als die Politik der militärischen Intervention, der militärischen Stärke, von der die USA glauben, dass sie die bessere Gewähr von der Freiheit in der Welt ist.

 

Ein anderes Problem, das im Zusammenhang mit der Europäischen Union intensiv diskutiert worden ist, ist das Problem eines Beitritts der Türkei. Die Türkei, das haben wir in den jüngsten Diskussionen erlebt, ist zur Projektionsfläche aller möglichen Ängste in Bezug auf die Europäische Union geworden. Dabei wird oft etwas ganz Wichtiges übersehen: Die Türkei ist ein Land, das bereits seit 1923, seit der säkularisierenden Revolution des Staatsgründers der modernen Türkei Mustafa Kemal, genannt Atatürk, in großen Schritten einer Annäherung an Europa, einer Annäherung an die europäische politische Kultur vollzogen hat. Das begann mit der Säkularisierung, die Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Leben, und das führte dazu, dass allmählich Institutionen des Rechtsstaates und der Demokratie aufgebaut worden sind, wenn auch, wie wir alle wissen, unzulänglich. Ich habe aber oft den Verdacht, dass es weniger die verbliebenen Unzulänglichkeiten sind im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der Türkei, sondern bei Vielen doch, und Manche sagen das auch, die Vorstellung, eine islamische Gesellschaft passe eigentlich gar nicht in die Europäische Union hinein. Das wäre ein gefährlicher Trugschluss. Denn wenn die Türkei wirklich die Bedingungen an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und auch ökonomischer Solidität erfüllt, worum sie sich ja nach Kräften und mit großen Erfolgen bemüht, dann wäre doch ein Beitritt dieses Landes zur Europäischen Union aus vielerlei Gründen ein besonderer Gewinn. Es wäre für die zwölf Millionen Muslime, die ja ohnehin auf dem Gebiet der Europäischen Union leben, der Beweis, dass ihre Religion in diesem Europa, in diesem demokratisch-rechtsstaatlichen Europa anerkannt ist. Es wäre für die Türkei selber ein ganz wichtiger Schub der weiteren, der endgültigen Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit. Es wäre eine Garantie auch dafür, dass die demokratischen Institutionen stabil sind, und es würde Europa im Ganzen kräftigen. Ich glaube, es wäre ein großer Gewinn für ein modernes Europa, für ein Europa einer politischen Identität, die weiß, dass kulturelle Verschiedenheit zu ihr hinzu gehört.

 

Diese politische Identität kann ja nichts anderes sein, wie Manuel Castells es einmal formuliert hat, als eine Projektidentität. Wir Europäer nehmen uns in dem Bewusstsein, dass wir in einem gemeinsamen politischen Gemeinwesen leben, vor, bestimmte politische Ziele gemeinsam zu verfolgen. Ich denke, es sind vor allem drei, die dabei eine Rolle spielen, die auch in der Verfassung verankert sind, nämlich: Europa als ein Sozialraum, Europa als eine Teilhabedemokratie (nicht als eine Elite-Demokratie der dem Volk entrückten politischen Kasten und Klassen) und Europa als eine Zivilmacht in der Welt, die mit allen anderen zusammen wirkt und versucht, durch die Verhütung von Krisen, durch die Schaffung einer gerechten Weltordnung, Gewalt und Konflikte zu verhindern.

 

Allerdings, uns insofern bedarf all das, was ich bisher gesagt habe, noch einer gewissen Einschränkung: Selbst wenn es uns gelingt, durch eine Politisierung der Entscheidungsprozesse in Europa eine politische Identität in der Europäischen Union auszubilden, wäre es in der Welt von heute, in der Welt der negativen Globalisierung noch zu wenig. Denn wir müssen ja auch, wenn wir unsere weltweiten Verantwortlichkeiten erfüllen wollen, Weltbürger sein. Also kann eine europäische Bürgeridentität nur eine Identität von Weltbürgern sein.