Eike Gebhardt: Die Schwierigkeit nein zu sagen - Ein Spaziergang mit dem Philosophen Klaus Heinrich

Eike Gebhardt: Die Schwierigkeit nein zu sagen - Ein Spaziergang mit dem Philosophen Klaus Heinrich
SWR2 RadioART: Feature
 Autor: Eike Gebhardt; Eikegeb@aol.com
 Redaktion: Paul Assall
 Sendung: Mittwoch, 19. Juni 2006, 21.03 Uhr, SWR 2
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 INHALT:

 MUSIK: Schubert; „Winterreise“ (1. Strophe: „Fremd bin ich eingezogen“)

Spr 1
 Früh übt sich, was ein Meisterdenker werden will ...

 O-Ton
„Seit ich schwimmen konnte - das war eh ich eingeschult wurde und überhaupt angefangen hatte, irgendetwas für meine spätere Bildung zu machen: also ABC zu lernen - ehe ich das alles tat, musste ich richtig schwimmen können, sonst hätte die Eltern große Angst gehabt. So ging es allen Kindern der Familie dort, dass sie ins Wasser fallen und ertrinken - ja und dann standen uns alle Boote zur Verfügung. Ich bin meist mit unserem soliden Kahn über die Gewässer gefahren, über den gr. Zernsee bin ich auch geschwommen (auch das durfte ich alleine, nachdem ich's einmal in Begleitung gemacht hatte); für weitere Touren nahm ich das Fahrrad, und sonst bin ich in die Umgebung gelaufen.

 Ansage: Die Schwierigkeit nein zu sagen
 Ein Spaziergang mit dem Philosophen Klaus Heinrich
 Von Eike Gebhardt

 O-Ton
 Meine Lieblingstour war, mich mit Proviant einzudecken, Mutter gab mir Orangeade mit in einer gr. Flasche, ich nahm Bücher mit und etwas zum Schreiben, Dann bin ich zur Insel Werder gerudert ..., hab dort unten den Kahn hingelegt, bin dann in dem Inselstädtchen - das ist wunderschön, wie ein heiliger Berg dort oben auf dem wunderschönen Friedhof mit großen freien Grasflächen ... hab dort oben mich auf eine Decke gelegt, getafelt, und habe gelesen ...“

Spr 1
 Auf die frühe Neigung zum Abenteuer blickten die Eltern offenbar mit Wohlgefallen – sie versuchten wohl nur, seinen Sinn für Selbstschutz zu schärfen. Überhaupt scheinen sie dem kleinen Klaus ein Umfeld von Fördern und Fordern geboten zu haben, in dem der Junge prächtig gedieh, ein impulsreiches, angebotsorientiertes Umfeld sozusagen. Impulsentzug musste er wahrlich nicht leiden in dieser weitverzweigten, wohlhabenden großbürgerlichen Familie mit Stadt- und Landwohnungen - ein Clan, dessen Zweige sich über die verschiedensten Areale des Großfriedhofs in der Nähe seiner heutigen Penthouse-Wohnung ranken. Ein Spaziergang über den Friedhof ist ein Spaziergang durch die Familiengeschichte.
 Spr 2
 Klaus Heinrich, der Mythenkritiker, ein Mythos selbst schon zu Lebzeiten – gut die Hälfte unserer Intellektuellen hat bei ihm gehört – war für die 68er Generation der große Gegenspieler Theodor W. Adornos. In beinah jeder Hinsicht, vom enzyklopädischen Spektrum seiner Themen über die Neigung zu kühnen Brückenschlägen zwischen den Disziplinen bis hin zu musischen Vorlieben und handfester, politischer Intervention.

 Spr 1
 Viele seiner legendären Dahlemer Vorlesungen damals begannen mit einem Lagebericht über die Fronten und Schlachten der Studentenrevolte. Keine Koketterie, sondern für ihn die wichtigste Frage nach den Rahmenbedingungen von Wissen und Erkenntnis. Als Student war Klaus Heinrich Gründungsmitglied der sogenannten "Freien Universität" in West-Berlin - eine Protestgründung gegen die stalinistische Unterwanderung und Infiltrierung der alten Humboldt-Universität Unter den Linden. Seither verfolgt er genau die jeweiligen Produktionsbedingungen von Ideen - und dazu zählen für ihn weit mehr als nur die Methodologien der einzelnen Fächer.

 Spr 2
 Was heute große Institute für angewandte Forschung bis ins letzte Detail der ergonomischen Stuhllehne oder Farben und Geräuschpegel am Arbeitsplatz untersuchen, hat Heinrich früh – ohne den Begriff zu verwenden - "ganzheitlich" in seinen Theorien vernetzt, oft kühn spekulativ. Nichts läge dem quirligen und doch so bedachtsamen Mann ferner als ein spezialisiertes Expertentum, das, nach einem bösen aber wahren Wort von Chesterton, immer mehr über immer weniger weiß. Heinrich war sich des Risikos seiner kühnen, für manche Kollegen frivolen Brückenschläge schmerzhaft bewusst:

 Zitator
 "Man wird dem Verfasser vorwerfen, dass er die Disziplinen vermenge: Lyrik, Logik, Psychoanalyse; Ontologie und Ethik; Religionswissenschaft und Kulturkritik. Man wird ihm vorwerfen, dass er die Sphären vermische: des menschlichen Leibes und der menschlichen Seele, Natur und Geschichte, ethische und ästhetische Sphäre, Theorie und Praxis. -
Ich habe nur eine Verteidigung: dass alle Bereiche, Sphären, Disziplinen, ohne die wir hilflos ausgeliefert wären den Mächten der Natur und unser selbst, nicht endgültig scheiden. Dass wir fragen können: was in ihnen trifft uns unbedingt? Welche Erschütterung zwingt uns, diese Sphären und Bereiche, gerade sie und keine anderen, zu unterscheiden?

 Spr 2
 Fast jeder Einfall Heinrichs ist ein Sprung über Grenzen, jedes Gespräch mit ihm ein Ausflug in ein unvermessenes Land – auch für ihn selber. Die Assoziationskette gleich zu Beginn unseres Spaziergangs über den riesigen Friedhof nebenan ist atemberauchend: Kulturgeschichte, Familien-Erinnerungen, Stadtplanung, religiöser Reflexion, Politik und Psycho-Historie. Es ist ein kühler, aber sonniger Frühlingstag, als Klaus Heinrich mir aus dem im Krieg zerstörten, von ihm dann selber wieder aufgebauten Erbhaus entgegentritt, gehüllt in einen hellen Wintermantel, der Kopf geschützt von einer schräg gesetzten Baskenmütze, auf dem Gesicht jenes halb herzliche, halb höfliche, offene, aber verschmitzt wissende Lächeln, das weder Altersweisheit suggerieren will noch die Überlegenheit eines olympischen Gemüts, ein Lächeln aber, das zu wissen scheint, sein Träger zählt zu den intellektuellen Ikonen des Jahrhunderts.

 Spr 1
 Wir hatten ihn gebeten, uns an einige seiner Lieblingsorte zu führen. Heinrich hat mit Bedacht nur einen einzigen gewählt, den Friedhof eben - nicht nur, weil ein Großteil seiner Familie, einer der großen Bürgerclans der Gegend, hier begraben liegt und er sich in dieser Familien-Saga verorten kann, sondern weil er ein atemberaubend reiches, dichtes Stück Stadtgeschichte verkörpert – von geplanten großbürgerlichen Kleinimperien über Görings verschrobene Pläne für groteske Kulturmonumente über Wildwestfilme, die hier gedreht wurden, bis hin zum größten Ruinenberg Europas, dem berühmten „Insulaner“ -; und letztlich liebt Heinrich den weitläufigen Hügel, der atemberaubende Ausblicke auf das Berliner Stadtpanorama eröffnet; und schließlich, das aber mag er nicht thematisieren, kann man sich schlecht dem morbiden Charme einer halb gepflegten, halb naturbelassenen Enklave mitten in der Metropole entziehen, in dem noch Füchse, Hasen, seltene Vögel hausen, und der, wenn man ein Auge dafür hat, auch allerlei soziale Skurrilitäten bietet.

 Spr 2
 Es ist dieses Panorama, diese Verflechtungen zahlloser Lebensformen, die ihn seit seiner Kindheit fasziniert. Dass er als Religionsphilosoph bekannt wurde, hat die Sprengkraft seiner Gesellschaftsanalysen zunächst verborgen – womöglich konnte er sie unter diesem Deckmantel desto effizienter ins Bewusstsein seiner Studenten einschmuggeln:

 Zitator
 "Die Philosophie, die ich nach diesem Krieg studierte (und die die gleiche ist, die noch heute von unseren Kathedern gelehrt wird), war von gesellschaftlichen Triebkräften gereinigt (so wenigstens glaubte sie). Sie kannte weder Triebgrund noch Triebsubjekte, weder Geschlechterspannung noch eine Theorie des Bewusstseins der sozialen Klassen, die dieses anders als die traditionelle Lehre vom Bewusstsein verstand. Mit ihren Begriffen waren die kollektiven Vorgänge der jüngsten Gegenwart nicht einmal zu beschreiben, geschweige denn zu erklären. ... In dieser Situation entdeckte ich, wie realistisch die Beschreibungen sind, die den Stoff der Religionen, speziell der Mythologie, bezeichnen. Hier war das Verdrängte der Philosophie am Werk."

 Spr. 1
 Natürlich dachten wir an den Friedhof sozusagen als Bühne für den Religionsphilosophen, und falsch lagen wir damit nicht – obwohl er anders damit umgeht als erwartet. Friedhofsromantik liegt Heinrich fern – und doch kommen wir beim Schlendern wie von selbst auf Themen wie die Nekropolen vergangener Epochen, Archive der Ästhetik und Mentalitätsgeschichte; und eben auch auf den Enklaven-Effekt, nämlich einer momentanen Freistellung vom Rollenbewusstsein in der Welt da draußen...
 Wir reflektieren über jene „Graveyard School“ der englischen Romantik, ich frage ihn ganz nebenbei, eigentlich eher neckend, ob er neben seinen gewichtigen material- und ideenreichen Büchern womöglich auch Gedichte schreibe. Und siehe da: So wie Adorno selber komponierte, so schrieb sein Gegenspieler Heinrich, auch er Ästhet und Philosoph und Mythenkritiker, sein Leben lang Gedichte:

 O-Ton
„Gedichte habe ich immer schon geschrieben – ich gebe in den nächsten Jahren ein Bändchen heraus, damit das nicht alles umsonst gewesen ist. Ich habe das immer weiter getrieben, nie aufgehört ...“

MUSIK: Puccini: “La Bohème”; !: Akt, Arie des Rudolfo (“Sono poeta …”

Spr 2
 Heinrichs gesammelte Werke erscheinen im Stroemfeld-Verlag, Klaus Theweleits „Männer-Phantasien“ sind dort erschienen sowie textkritische Ausgaben von Kleist, Kafka und Hölderlin. Heinrichs sogenannte „Dahlemer Vorlesungen“ haben schon heute einen quasi-legendären Ruf. Dass er nicht nur sämtliche Vorlesungen seiner gesamten Lehrzeit publizieren will, sondern sogar seine Gedichte, zeugt von einem Sendungsbewusstsein, dass man bei jedem Anderen nur mit Eitelkeit erklären würde. Für Heinrich selber scheint ein anderes Motiv die treibende Kraft: Er wollte und will ein Modell sein – für eine Lebensform, die üblicherweise in diverse Einzelrollen zerfällt, die man im Mode-Jargon „ganzheitlich“ nennen könnte; sein Beispiel soll zeigen, dass viele, einander scheinbar ausschließende Haltungen, Neigungen, Einstellungen, Vorlieben, ja, Idiosynkrasien durchaus in Personalunion lebensfähig sind, mehr noch: einander ergänzen, beflügeln, befruchten können.

 Spr 1
 Der brillante Universalgelehrte ist durchaus nicht der zerstreute Professor, im Gegenteil: Heinrich ist ein grundpraktischer Mensch, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Alltagsfragen steht – schon seinen Einleitungen zu den Vorlesungen behandeln regelmäßig die banalen Alltagsprobleme der Verwaltung, Entscheidungen und politischen Schachbrett-Situationen; das war – im Gegensatz zu vielen seiner zeitgenössischen Kollegen - so wenig unter seiner Würde wie die handwerklichen Details der Wendeltreppe oder der Abstützung seiner Penthouse-Terrasse. Dass er ironisch, verschmitzt, geradezu koboldhaft verspielt ist und sein kann, wie es sich weder mit dem sogenannten „wissenschaftlichen Ernst“ noch jener akademischen Würde“ zu vertragen scheint, tangiert ganz offenbar nicht im geringsten seine Würde, so wenig wie seine Wissenschaftlichkeit. Und dass er verträumt, sensibel, ja geradezu ein lyrisches Gemüt ist, schlägt sich nicht nur in den Gedichten nieder, sondern in einer feinsinnigen Empathie, einem atemberaubenden Einfühlungsvermögen in die Vorstellungswelt Anderer, auch und sogar anderer Epochen und Kulturen.

 Spr 2
 Ganz offenkundig ist Klaus Heinrich Hedonist – wohl in dem Sinne, in dem schon Platon glaubte, der wahre Philosoph sei beflügelt von Eros. Wobei wohl Freuds Universal-Libido, die sich an Dingen wie an Menschen, an Ideen wie an Wahrnehmungen entzünden kann, der Einstellung wohl näher kommt. Der intellektuelle Abenteurer verkündet immer wieder seine berühmte Formel, mit der er gerne die Studenten auf das Thema einstimmte: „Geist ist Triebbegriff“, sagte er einmal zu Beginn einer seiner Vorlesungen::

 Zitator
 "Ich beginne mit der Beziehung der Universitätsmitglieder zu ihrer Institution. Was jeden Angehörigen meiner Generation verblüfft, ist die totale Enterotisierung dieser Beziehung. Die Universität ist nicht mehr Haß- und Liebesobjekt ... Es gibt (offenbar) keine Universitätsutopien mehr, und immer weniger ehemalige Universitätsutopisten werten dies als das Charakteristikum einer Umbruchszeit. Folgerichtig ist die Universität mit ihren Problemen auch dem öffentlichen Interesse abhanden gekommen, das über erotische Identifikation mit den Beteiligten viele Jahre lang an dem Scheitern dieser ihrer letzten Liebesbeziehung teilgenommen hatte. Und die Enterotisierung ist so komplett, dass nicht einmal der Rest von Schoßcharakter, den Institutionen sonst bieten, und mütterlicher Nährfunktion, die den Brüsten der Alma mater über Jahrhunderte hinweg verklärend angedichtet worden war, zurückgeblieben ist ..."
 Spr 2
 All das schien gleichsam polyphon schon im jungen Heinrich angelegt. Das Spiel, das Abenteuer, Lektüre und Fantasie-Szenarien als Heuristik, als Erkenntnisfindung, um sich in fremde Vorstellungswelten zu transportieren, um in fiktive Dialoge einzutreten, überhaupt sozialen Umgang zu inszenieren im Alleinsein. Und: Im Vorgriff zu leben auf einen sozialen Zustand hin, der eine Alternative sein könnte zum Status quo, zu all den kulturellen Scheinselbstverständlichkeiten – den Mythen des Alltags, der Utopien, und unseres Selbstverständnisses.

 Spr 1
 Kein Zufall, dass früher fiktive Interviews sein Lieblings-Genre waren, wie er halb verlegen, halb verschmitzt eingesteht. Wer war er da, der Interviewer oder Interviewte: Und wen hatte er sich als Gegenüber vorgestellt?

 O-Ton
„Ich war beides. Ich hatte von einem Freund ein Tonbandgerät geschenkt bekommen... dann habe ich ununterbrochen mich interviewt. Als Interviewter war ich alles Erdenkliche: Schiffskoch, Spaziergänger, jemand der verschlagen war in ein fernes Land - was einem eben in dem Augenblick kommt, in dem man sagt: So, jetzt habe ich Sie vor dem Mikro und nun sagen Sie mal was... Ich habe mich auch oft als Zoowärter...“

Spr 2
 ... vorgestellt, offenkundig, weil die Tierwelt in den Mythen, schon im Animismus, also in archaischen Vorstellungen, Teil jenes kosmischen Rollenspiels war, dessen Fragmente oft noch heute in unseren Köpfen spuken und denen auf die Spur zu kommen Heinrichs tiefste (intellektuelle) Leidenschaft ist. Und weil sich die Mythen, Märchen und Archetypen über die Jahrtausende nebeneinander, miteinander, durcheinander entwickelt haben, bleibt für ihn sein Leben lang leitmotivisch ein Grundakkord der Vielstimmigkeit der Welt – und des Dialogs, des Bündnisses – als ein soziales Grund-Modell.

 Spr 1
 Insofern waren die fiktiven Interviews ganz offenbar auch eine Form der Selbsterforschung per Rollenspiel:

 O-Ton
„Man zerlegt sich ja in Stimmen, in Stimmchen, wenn man schreibt oder was immer man macht. Ein Stück der Wahrheit beim Schreiben, auch beim reden, bei der Gedankenbildung, ist ja dass man die scheinbare, fiktive Einheit der Person widerruft - und das ist eine der großen Möglichkeiten ...“

Spr 1
 Ganz nebenbei handelt er in seine Erinnerungen auch noch eine Grundsatzkritik am abendländischen Mythos der einheitlichen Persönlichkeit ab, jener gerade heute wieder modischen Vorstellung, es gebe ein wahres, wesentliches, eigentliches Selbst, dass es zu finden und zu verwirklichen gelte. Die schwadronierenden Gurus gehen ihm ebenso auf den Nerv wie die orientierungslosen Sinnsucher, die erwartungsvoll bei ihrem Meister einkehren, statt sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Bei denen sei die Aufklärung noch nicht angekommen, bei diesen fröhlich Fremdbestimmten, die nach einem Lebenssinn hungern, diesen aber von Anderen nur nicht von sich selbst erwarten.

 MUSIK: Kristofferson: „He’s a walking contradiction ...“
(Refrain)
 Spr 2
„Persönlichkeit“ – das ist einer dieser Mythen, die Heinrich immer wieder mit einer gewissen lustvollen Süffisanz auf ihre Ursprünge hin zurückverfolgt. Ursprungsmythen, Ursprungsdenken – das sind seine Zielscheiben. Sie sind die großen Hürden auf dem Weg zur Mündigkeit.

 Spr 1
 Freilich sind Mythen für den Theoretiker der Psychoanalyse, der Heinrich auch ist, keineswegs bloße Stolpersteine. Sie sind selber die Wahrnehmungsfilter, ja die Begriffe, durch die hindurch wir die Welt jeweils begreifen.

 Zitator
 "(...) Mythoskritik (...) Kritik, die den Mythos ernstnimmt",

 Spr 1
 Schreibt er, wobei er das Wort „Ideologiekritik“ vermeidet. Zu sehr klingt ihm „Ideologie“ nach „falschem Bewusstsein, ist polemisch und daher womöglich selber ein Wahrnehmungsfilter, der die Selbstkritik verhindert. „Mythos“ klingt ihm beinah sachlich im Vergleich, denn mythisches Denken ist Alltagsdenken. All die kulturellen Selbstverständlichkeiten, die stillschweigenden Annahmen, auf denen unser menschlicher Umgang beruht, all die Wirklichkeits-Modelle, die wir ohne zu hinterfragen im Kopf haben und die wir bei anderen genauso voraussetzen, um uns mit ihnen verständigen zu können.

 Spr 2
 Die Mythen unseres Alltags? Meist vorbewusste Grundannahmen über das Verhalten der Dinge und der Menschen in unserer Alltagswelt. Diese vorbewusste Steuerung unseres Denkens, ja Empfindens und Erlebens versucht die Mythenkritik dingfest zu machen. Oft genug wurzeln diese Wirklichkeitsbilder in uralten Vorstellungen und Erzählungen, – aber viele überleben mit erstaunenswerter Zähigkeit in einer feindlichen Wirklichkeit und wirken so bis heute in unseren Köpfen. Wir vollstrecken sie gleichsam hinter unserem eigenen Rücken – so ein beliebtes Bild der 68er, die Heinrich ungemein weitläufigem Wirken so viel verdanken, wiewohl er nie so öffentlichkeitswirksam auftrat wie Theodor W. oder Herbert Marcuse.

 Spr 1
 Die Mythen, diese alten Automatiken, die in unseren Köpfen ticken, versuchte Heinrich sein Leben lang auf die Spur zu kommen. So wird unter der Hand jede Sozialkritik, jeder politische Kommentar, ja jede erotische Verwicklung oder ästhetische Abhandlung zu einer Spielart der Mythenkritik. Mythen seien der geheime Kompass für das Verständnis unseres Verhaltens.

 Spr 2
 Nichts Anderes versucht im Grunde die Psychoanalyse:

 Zitator
 "Das unbewusste Über-Ich ist der von Freud vorgeschlagene Ausdruck für das Weiterwirken der zwanghaft bindenden Macht des Ursprungs auch nach dem Bruch mit einer ursprungsmythischen Geisteslage."

 Spr 1
 Ganz nebenbei flicht Heinrich hier eines seiner Leitmotive ein. Schon der Ausdruck „ursprungsmythische Geisteslage“ ist eine auf den Kurzbegriff komprimierte Kriegserklärung an den Fundamentalismus (wie wir heute sagen würden), den wir fast ausschließlich mit religiösem Fanatismus in Verbindung bringen. Ganz falsch, so Heinrichs, jede unhinterfragte Selbstverständlichkeit ist solch ein Fundamentalismus:

 O-Ton
„Das Zentrum aller meiner Unternehmungen, ohne das ich niemals zur Univ. gegangen wäre, ist die Erf. und Verarbeitung und auch Vermeidung - ist es möglich? - von Selbstzerstörung. Selbstzerstörung ist die zentrale Erfahrung für mich in der NS-Zeit gewesen.“

Spr 2
 Das Wort "Selbstzerstörung" hat heute einen seltsam lebensfernen Klang - es erinnert an Freuds Todestrieb, auch kein allzu respektabler Begriff mehr.
 Vor allem aber: Wer zerstört da wen? Und warum? Was wäre die Ursache?

 Spr 1
 Heinrich schüttelt empört das Haupt, allein die Frage!...

 O-Ton
„Die Frage ist schief. Der Riss geht durch alle Zivilisationen hindurch, also wirklich die Menschen-Gesellschaft hindurch. Der Hang zur Selbstzerstörung ist nicht Individuelles, er kann individuell als Resonanzboden ungeheuer verstärkt werden, kann sich in allen erdenklichen Konstruktoren, Nationalismen, also die besonders raffinierte Form der Selbstzerstörung ist die Nation, der Nation-Begriff, der sich erst in der napoleonischen Zeit eigentlich prägt - und wenn man die Kriegslyrik der damaligen Zeit liest durch ein Heer von Opfern, Blut usw., wo die Einzelnen alle untergehen: Es steht etwas Neues auf, und das ist die Nation. D.h. in dem Augenblick, wo die Nation da ist, ist sie auch schon etwas quasi Untotes, lebend Untotes. ... Sie ist so ein ... Wiedergänger. Das ist einer der mächtigsten Antriebe in unserer Geschichte gewesen...

 Spr 2
 Eine seltsame Formulierung – die Geschichte gleichsam als kollektive Person, von Trieben gesteuert? Woher käme denn so ein 'Trieb'? Spukt da noch das Lieblingsbild der 68er- Historiker, dass Geschichte zwar durch die Köpfe der Handelnden sich vollziehe, aber auch gleichsam hinter deren eigenem Rücken? Gibt es doch anthropologische Konstanten in Heinrichs Denken?

 O-Ton
„Keine Opfer-Theorie würde verfangen, wäre da nicht ein großes Opfer-Bedürfnis.“

Spr 1
 Das klingt sehr nach einer petitio principii, werfe ich ein, nach einem logischen Fehlschluss?

 O-Ton
„Womöglich müsste man die Freudsche Gattungstheorie heranziehen. Ich habe nie die millionenfache Bereitschaft verstanden, sich insektenhaft abschlachten zu lassen, schon im ersten Weltkrieg. Stellen Sie sich vor, diese Heere wären aufgestanden. Wie stark muss dieses Bedürfnis sein! Und das hat nat. etwas zu tun - die Formel habe ich dafür geprägt: "Sucht nach Sog". Suchtstruktur in der Gesellschaft. In jedem einzelnen Wesen. Alle Süchte zielen ja darauf, dass man erfasst werden will von einem Sog, der man selber nicht ist, der einen ergreift. Der Sog, der einen erfassen soll, der einen entlastet. Es nimmt verschiedenen Formen an, ist aber immer das Gleiche: Das ist bei den Naturvölkern so, das ist in den entwickelten Religionen so.“

Spr 2
 Will Heinrich damit andeuten, dass Religion vor allem eine Suchtform ist – und dann auch noch eine, die wir eher mit Hedonismus in Verbindung bringen? Einer Sucht nach Rauschzuständen, nach Ek-Stase im Wortsinn? Nach legitimen Formen des Außer-Sich-Geratenkönnens in einer Kultur, die das wahre, wesentliche, authentische Selbst, den Wesenskernkern der Person in 1001 Selbstfindungsweisen zu verwirklichen sucht, wie der modische Jargon es nennt?

 O-Ton
„Ja, des Befreitseins - damit will man in einen sichereren Zusammenhang gebracht sein, das ist alles viel zu rationalistisch ausgedrückt, man will von etwas erfasst sein, was zugleich meine Spezialbezeichnung für die Aktualisierung des Begriffs Todestrieb bei Freud, wenn Sie so wollen. Freud wäre ja auf den Todestrieb auch nicht verfallen, ohne dieses Massengemetzel eines Krieges, dem er anfangs verständnisvoll gegenüberstand, bei dem sich ihm nachher aber die Haare sträubten.“

Spr 1
 Zielt die modische Rede von der Selbstfindung also womöglich aufs genaue Gegenteil? Die Selbstauflösung, das Aufgehen in etwas Größerem? Nicht zufällig huscht ein verschmitztes, wenn auch dezentes Schmunzeln über sein Gesicht. Nur ganz kurz. Dann wird sein Ausdruck melancholisch, denn diese Selbstaufgabe im Gewand der Selbstverwirklichung ist ein historischer Sprengsatz. Heinrichs Gegenspieler Theodor W. Adorno hätte auf die fremdbestimmte, sogenannte „Autoritäre Persönlichkeit“ verwiesen, die sich von der Eigenverantwortung gerade entlasten will, indem sie sich – angeblich – in etwas Größerem, Höheren wiederfindet, ganz gleich wie es sich zeitgeistig nennt.

 Zitat:
 "Entkörperungsbedürfnis signalisiert eine übermäßige Belastung durch Verkörperungsforderungen, die Gier nach 'jener' Erfahrung Erfahrungsverlust - 'transzendentale Meditation', Yoga für Fortgeschrittene, Fitnesstraining unter dem Namen 'Zen' und die Askese, die sich im Nichthaftenbleiben übt, als Instrument der unbeteiligten Verfügung, darum nützlich fürs Management ebenso wie für den Davongelaufenen, der den Traum von Unabhängigkeit noch in den Untergang, sein vorgeblich 'kosmisches Wir', hinüberretten will, sind Schatten unserer eigenen hilflos-positivistischen, ebenso unlebendigen wie unpolitischen Arbeitswelt. Randphänomene spiegeln das Zentrum wider und agieren dessen Konflikte aus."

 Spr 2
 Das ist einerseits löblich, andererseits eben ein Angebot an Manipulatoren, von angeblichen Göttern bis zu religiösen oder politischen Gurus und anderen Rattenfängern. Denn natürlich werden Menschen nie mit ihrem Werk zufrieden sein – und für ihr Unbehagen an der Kultur einen Erlöser suchen, d.h. jemanden, der sie von sich selber erlöst:

 O-Ton
„Und natürlich ist das Bedürfnis - jetzt muss ich fast theologisch argumentieren - das in Frieden mit einander zu leben, ist das Bedürfnis (jetzt können sie Wunschbilder erfinden wie in allen Rel.), bleibt als Rest des nicht Verwirklichten nur noch diese Entlastung. Das ist der Kern des Selbstzerstörerischen. An der Stelle gibt es nur eine einzige, in 1000 Sprachen wiedergebbare Antwort: Die Spannung balancieren. Sie übersetzen in Bedürfnisse, die Selbstaufgabe meinen.“

Spr 1
 Nur eben: Warum will man vom 'Selbst' entlastet werden? Hat sich das neuzeitliche Selbst übernommen, als es Gottes Stelle als Gesetzgeber übernahm?


 O-Ton
„Es ist ein Selbst, das einem unglaublich viel zumutet. (Bei Kants kategorischem Imperativ Imperativ z.B. wird dem Einzelnen die Last der Welt aufgebürdet.) ... Pos. ist für Kant der Triumph über nicht durchschaubare Mächte. Die Offenbarungen aller Religionen werden entmächtigt an dieser Stelle. Wenn nun von der Welt der Erscheinungen die Rede ist, so ist das nicht mehr Blitz und Donner ... sondern jetzt ist alles gleich erscheinend, weil es alles meine Produktion, meine Vorstellung ist.“

Spr 2
 Eine Phänomenologie, die an Sartres berühmten Satz erinnert, der Mensch sei zur Freiheit verdammt – er (oder sie) könne, ab einem bestimmten Bewusstseinsstand, nirgendwo mehr unterkriechen ...

 O-Ton
„Wer trägt jetzt die Last der Welt? Jedes einzelne Subjekt. Wer kann es? Seither lassen Husserl, Mach, Lenin uva. das Ind. in etwas aufgehen, wo es individuell nichts mehr zu tragen hat. Die Phänomenologie sucht ihr Heil in der Selbstaufgabe (wenn das Selbst das einzelne Subjekt ist), der Azephalismus sucht es in der Selbstaufgabe, die Machsche Theorie der Erfahrungs- und Empfindungs-Verarbeitung sucht es in der Selbstaufgabe.“

Spr 1
 Alles achtbare philosophischen Positionen, und die sollen versteckte Formen der Selbstzerstörung sein?

 O-Ton
„... alles Formen der Selbstzerstörung, würde ich schon sagen.“

Spr 1
„Die Schwierigkeit nein zu sagen“ - sie ist Klaus Heinrichs Leitmotiv: von der banalen Alltagspolitik bis zur offenkundig tiefen selbstzerstörerischen Neigung des „Menschengeschlechts“. Sie, die selbstzerstörerische Neigung, sieht er als Flucht, ja als geradezu sehnsüchtige Heimkehr in die kindliche Unmündigkeit; in eine Geborgenheit, die sozusagen die Treue zum Zerstörerischen zur Tugend erklärt.

 MUSIK: Morrison: „This is the end ...“
Spr 1
 Ganz leicht fällt Heinrich der Sprung von der Psychologie in die Politik wohl nicht – man sieht ihm förmlich an, wie er mit den oft allzu schlichten Thesen der sogenannten „Psycho-Historiker“ kämpft. Wenn man so radikal denkt, muss man da nicht eigentlich schon die Vergesellschaftung des Menschen selber als ersten Schritt zur Selbstzerstörung begreifen?

 O-Ton
„In der Tat: Der erste Schritt. Und das wirklich von Anfang an. Ich vertrete den Begriff der Zivilisation gegen den der Kultur. Der Begriff der Kultur ist genauso ein ursprungsmythischer Begriff wie der Nation-Begriff. Die Zivilisation dagegen - ich kann ohne meine Begriffe nicht den Affekthintergrund klarmachen - das ist der Bündnisbegriff. Bündnis kontra Ursprung, das Zentrale. Und Selbstzerstörung.“

Spr 2
 Wieso aber sollen Ursprungsdenken und Bündnisdenken einander ausschließen?

 O-Ton
„Das Problem der Ursprünge wird überall dort, wo Bündnisse brechen - nehmen Sie den Zivilisationsbruch durch den NS-Staat oder in ganz Europa durch den Faschismus - jeder solcher Zivilisationsbruch ist der Bruch mit der Hoffnung auf tragbare Bündnisse. Jedes Mal wird das, was dann aufgeboten wird dagegen, ein exquisiter Ursprung sein, wie wir nach dem 2. Weltkrieg in allen eine neue Ursprungssuche gehabt.“

Spr 2
 Fast könnte man glauben, Heinrich argumentiere hier mit einer zeitlosen Menschen-Natur. Und in der Tat neigt er mit einer faszinierenden Dialektik zu transhistorischen Begriffen.
 So in seinem berühmten Gegensatz von „ursprungsmythischem Denken“ einerseits und mündiger sozialer Selbstgestaltung andererseits. Bündnispolitik versus offene Utopie; Sackgasse versus Utopie gewissermaßen. Aber genau mit dieser Dialektik versucht er, Antagonismen aufzulösen, d.h. das ursprungsmythische Denken zu entlarven und vor dem Selbstbild des mündigen Bürgers ad absurden zu führen. Bei solchen Argumentationsketten blitzt die Erinnerung an 68 auf, als Utopien noch nicht diskreditiert waren von den Profiteuren des Status quo, als niemand es gewagt hätte, über das Ende der Geschichte zu räsonnieren oder von einem zeitlos gültigen Modell der menschlichen Gesellschaft, so wie es nach der Wende Mode wurde.

 Spr 1
 Heinrich hütet sich, die Billig-Utopien des fälschlich so genannten Kommunismus sowjetischer Machart zu verwechseln mit jenen offenen Utopien, die sich selber unaufhörlich reformieren, während sie sich entwickeln. Er war einer der Gründerväter der Freien Universität gegen die Pseudo-Utopie des Stalinismus – aber genauso entschlossen bekämpfte er westliche Ideologien. Das Ideal des Bündnisses vermisste er auf beiden Seiten während des Kalten Krieges. Denn diese Leitkultur zu untergraben, dieses Leitbild des Auswegs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, sei das Selbstzerstörerische im selbstgerechten Krieg der Ideologien - durch die Epochen menschlicher Geschichte.

 Spr 1
 Bei alledem bleibt Heinrich Realist, Pragmatiker, ohne in Fatalismus zu verfallen. Was er fordert ist kein unmögliches Ideal totaler Mündigkeit:

 O-Ton
„Ich denke nicht in Positiva, ich denke immer in Verneinung von Negativa. Nicht der herrliche Friedenszustand, sondern eine erfolgreiche Angstbewältigung, nicht die Urbalance sondern die unendlich mühsame Anstrengung in zerreißenden gegensätzlichen Strebungen dennoch eine Balance herzustellen. Und diese Balance - Freud war ein Kind des 19. Jahrhunderts, Naturforscher = toll aber: Lust als totaler Spannungsabbau, wie es viele romantische Autoren der Zeit sehen, das wird aber von keiner Erfahrung geteilt: Omne animal post coitum triste - das Halten der Spannung ist das, was schon im animalischen Modell die Beteiligten als Lust empfinden. Die Vermehrung der Spannung, die gehalten werden kann, die balanciert werden kann. Das ist ein sehr viel realistischerer Lustbegriff ... Und das Anderes ist der Resignationsbegriff von Lust: Endlich aus der Welt mit ihren Spannungen raus in den ganz und gar entspannten Zustand.“

Spr 2
 Lustvolle Rückkehr also in den Schoß der Freiheit, der Freiheit von Verantwortung und Mündigkeit?

 O-Ton
„Die Balance herzustellen und damit eigentlich die Anderen zu Verbündeten zu machen - jede Balance ist auch ein Bündnisangebot an Andere das ist eine Utopie, die sicherlich so alt ist wie die menschliche Gesellschaft.“

Spr 1
 Das klingt paradox: Wie soll Balance ein Bündnis-Angebot beinhalten? Wenn die Lust in der Spannung besteht, dann will man doch diese Spannung und nicht ihre Auflösung in einer Balance? An der Geschlechterspannung lasse sich das am leichtesten exemplifizieren:

 O-Ton
„Also ich habe dieses Wort ja einmal eingeführt: Geschlechter-Spannung. Mich ärgerte, weil man immer ausging von den einzelnen Geschlechtern. ... Im Fluss der Medusa, Anhang, fiktives Int. über Geschlechter-Spannung. Schließlich ist doch, was uns als Triebwesen charakterisiert, dass wir immer in einer Spannung leben, mit uns, mit anderen; und nur von dieser Spannung ausgehend, die z.B. auch die psychoanalytische Praxis trägt (Übertragung, Gegen-Übertragung), wäre ohne diese Spannung nicht denkbar. ... Sie ist der Spannungszustand, in dem sich Menschen, Tiere unter einander bewegen.“

Spr 2
 Während akademische Philosophen das Thema Erotik eher scheuen, packt Heinrich es ganz unbefangen realistisch, ja geradezu lebenspraktisch an. Er versteckt sich nicht hinter psychoanalytischen Vorgaben und schon gar nicht hinter dem Konflikt zwischen angeblichen sozialen Notwendigkeiten und Glücksversprechen.

 O-Ton
„Der Zweck aller Bündnisse ... zunächst einmal: Wir wollen mit einander auskommen. Das selbstv. Bündnis, das die Psychoanalyse heute die Dyade nennt, also zwischen Mutter und Kind mit den Spiegelungsvorstellungen diesem Tausch der Erfahrung der allerersten Zeiten vor aller Sprachfindung - bzw. das ist die Sprachfindung - das sind solche Bündnisse. Kann man sie verallgemeinern? Bündnisvorstellungen des Zurücks zielen ja immer darauf, dass man soz. den Zustand im Mutterleib wiederfindet, aber mit einem Zusatz, den man im Mutterleib nicht haben kann: Dass man die Sprache nicht verliert dabei. Das ist das Illusionistische daran, die Übersetzung, die eigentlich eine solcher Zustand in einen anderen bedarf - ich habe es schematisch gesagt: Wenn es nicht gelingt, die Liebe zur Mutter in Liebe zu anderen Personen zu übersetzen, wird die Mutter zu einer totalitären Instanz. Wenn es nicht gelingt, die in die Übersetzung mitzuschleppen, alles Frühere, wird die Zukunft zu einer totalitären Instanz. Also wird der Ursprung in die Zukunft geklappt, so wie wir es in den totalitären Spielarten des Marxismus erlebt haben.“

Spr 1
 Da ist er wieder, der zwanglose Brückenschlag zwischen Psychologie und Politik, wie ihn kritische Sozialpsychologen von Erich Fromm bis Robert Jay Lifton versucht haben. Heinrich aber zielt nie nur auf Analyse, sondern immer sogleich auf praktische Anwendung:

 O-Ton
„Reden wir von etwas Bitternotwendigem wie die menschliche Gesellschaft. sich zivilisieren kann und nicht psychopathisch werden muss.“

MUSIK: Bob Dylan: “The Times They Arew A-Changin’” (Strophe “Come Congressmen …”)

Spr 1
 Und schon hat Heinrich die nächste Brücke betreten, gleichsam ein Update des Marxschen Satzes, der Mensch mache wohl seine eigene Geschichte, aber unter Bedingungen, die er nicht selber gemacht habe. Man könnte Heinrichs Modernisierung von Marx als eine Art Psycho-Ökologie bezeichnen.

 Spr 2
 Viel zu wenig Aufmerksamkeit widmen wir unseren prägenden Lebensumfeldern, suggeriert er immer wieder – und die reichen von Alltagsmythen über soziale Rituale bis hin zum materiellen Umfeld, der Wohnung oder der Stadtgestaltung. Heinrich denkt sie alle zugleich mit – zwanglos flaniert sein Argument zwischen den verschiedenen Requisiten, dem materiellen Lebensumfeld als Bühnenbild.

 Spr 1
 Grau scheint für Klaus Heinrich alle Theorie – die Einsicht drängt sich dem Besucher auf. Der Fahrstuhl, in dem man für die unteren Stockwerke des Hauses die entsprechenden Knöpfe drücken muss, fährt ohne Knopfdruck schnurstracks zum Olymp - und öffnet sich direkt in die Wohnung. Der Blick geht direkt auf die Terrasse nach Süden - sie erstreckt sich über die gesamte Breite der Wohnung, wie eine Orangerie mit endlosen Pflanzenreihen. Hinunter schaut man auf einen großen Garten, wie er für Berlin typisch ist: Das Innen-Areal eines ganzen Häuserblocks. Ein Teich in der Mitte von Baumgruppen.
 Heinrich, von kleiner Gestalt und auch im häuslichen Alltag korrekt gekleidet als ginge er gerade zur Sitzung des akademischen Senats, begrüßt den Gast mit gemessener Herzlichkeit. Nichts an seinen Bewegungen ist plötzlich, abrupt, spontan. Bücherwände überall wohin man schaut, abgezirkelt und wie mit dem Lineal in einer Reihe - außer dort, wo gerade gearbeitet, geschrieben oder redigiert wird: für den Stroemfeld Verlag, der sein Lebenswerk herausgibt, rund ein Dutzend Bände sind es schon. Unermüdlich widmet sich Heinrich dieser Herkules-Aufgabe, – auf eine repräsentative Werkausgabe hin.

 Spr 2
 Eine gepflegte Sinnenfreude spiegelt sich im Layout seines Steglitzer Penthouse - genauer: der gemeinsamen riesigen Doppelstock-Wohnung des Ehepaars Heinrich. Nichts könnte Klaus Heinrich fremder sein als eine jener kahlen Designer-Wohnungen, die Kargheit und Impulsarmut als Reinheit der Linienführung vorspiegeln. Streng abgegrenzt sind nur die Arbeitsbereiche. Symbolträchtige Reiseandenken, sinnfällige Geschenke von Freunden und die Requisiten eines genussfreudigen Lebens ziehen die Blicke an. Das doppelstöckige Penthouse der Heinrichs ist dicht gepackt aber makellos geordnet - was die Dichte verwaltbar, handhabbar erscheinen lässt. Nirgends das angeblich kreative Chaos, stattdessen eine überwältigende Impulsdichte, eine Flut von Eindrücken, ein Sinnen-Dschungel.

 Spr 1
 Den allerdings vermisst Heinrich an den zeitgenössischen, fast gänzlich durchfunktionalisierten Städten:

 O-Ton
„Was ich immer gerne gemacht habe, ist, mich an mögl. quirlige Stellen zu begeben. Ich habe darum gebettelt, bis ich das durfte, als Junge, als Schüler, alleine in die Stadt fahren, zum Bhf. Friedrichstr., mit der S-Bahn, und dann die ganze Friedrichstraße, bis zum Belle Alliance-Platz umrunden, auf der anderen Seite der Friedrichstraße wieder zurück. Zwischendurch im Automaten-Restaurant etwas zu trinken zu ziehen, und dann wieder vom Bhf. Friedrichstraße zurückzufahren. Da war das noch eine wirklich quirlige Straße. Und diese totale Friedrichstraßen-Umrundung, wenn man so will ... Am Ende der Friedrichstraße lagen zwei Läden, die schon so schön hießen, König und Zauber-Zentrale, und da konnten Sie z.B. Kartenkunststücke einhandeln, tauschen, auch andere Sachen tauschen und gucken, wie die das machten - das hatte einen Reiz, da benahmen sich Erwachsene wie Kinder ... Das habe ich immer wieder und in allen Städten ...“

Spr 1
- gesucht, wollte er sagen, wenn ihm nicht schon wieder eine andere Assoziation eingefallen wäre: Alles scheint mit allem vermittelt, suggerieren seine Denksprünge, die eigentlich keine Sprünge sind, sondern Ritte oder Flüge auf Tangenten, Nebenwegen des ursprünglichen Arguments. Heinrichs Augen leuchten dann auf, funkeln neugierig, als hätte er gerade einen hinter einem Stein versteckten Schatz entdeckt – dabei ist es sein eigener Gedankengang, der ihn zu diesem Stein führte. Behutsam führe ich ihn zurück auf unser Gleis: Wenn dieser Großstadtdschungel so verzaubert – warum fehlt uns denn heute diese Erlebnisform in Deutschlands einziger Metropole? Was ist denn heute anders, was fehlt?

 O-Ton
„Die große Menge des Kleingewerbes, wo nicht alles in Zentren verpufft war ... Es gab eine unglaubliche Menge von Läden und noch viel Handwerk und Gewerbe wenn Sie durch die Höfe durchgingen - man kam immer wieder in eine andere Welt ... Das gehörte früher so selbstverständlich zu Berlin, wenn Sie in irgendeinen Hof einbogen, was dahinter kam, war nicht zu ahnen. Manchmal noch ein ländlicher Betrieb, Stallungen, an anderer Stelle wieder eine richtige Fabrikanlage, also ein Gewusel., eine städtische Verdichtung eben. Und von dieser Verdichtung ist heute keine Spur mehr.“

MUSIK: Leonard Cohen: „Where have all the Flowers Gone?“ (1. Strophe bis einschl. Refrain “When will they ever learn?”)

Spr 2
 Jeder sehnt sich nach Dichte – und doch: Unsere Innenstädte werden gebaut und unsere Wohnungen eingerichtet, als zitterten wir vor dem ästhetischen Urteil architektonischer Puritaner. Was ist das für eine Mentalität, die scheut wonach sie sich sehnt, die Impulsdichte, die Heinrich aufblühen ließ und lässt.

 O-Ton
„Das war immer so. Was dazwischen gekommen ist, sind die Ordnungsvorstellungen, ist die verordnete Stadt. Man soll so ordentlich und aufgeräumt sein wie das um einen herum - und das wiederum spiegelt scheinhaft die eigene Ordnung und Aufgeräumtheit. ... Es tut's nat. nicht, s. es spiegelt etwas, dem man gern sich überlassen würde. Es ist verinnerlichte, soz. die eingesogene große Ordnungsvorstellung. Was steht dahinter? Nach dem ersten Weltkriegs-Expressionismus, als man Städte durch Siedlungen ersetzen wollte, und man die Scholle soz. in die Stadt reinholte und wo das ländliche Wohnen die verpestete Stadt ablösen sollte. Und diese verpestete Stadt wurde in der express. Malerei und Dichtung immer als eine Art Hure Babylon dargestellt: Die Kanäle, die Ströme, die da durchgehen, Brücken darüber, und von zwielichtigen Gestalten besiedelt - also eine immer noch eine Abwehr des Stadt als einer ungesunden Entwicklung.“

Spr 1
 Der schier unausrottbare Mythos der kranken Stadt lässt den Mythenkritiker Heinrich manchmal verzweifeln. Als ich ihm Nietzsches Spott anbiete: Es sei weniger interessant, was Menschen glauben, als zu erfahren, warum sie denken, dies oder jenes glauben zu müssen, neigt er spontan zunächst doch dazu, die Hochkultur verantwortlich zu machen für populäre Moden:
 O-Ton
„Es hängt mit der Stadtfeindschaft des Expressionismus zusammen, der sich einerseits selber von der Dichte angezogen fühlte, andererseits sie durch Gegenbilder besetzen wollte.“

Spr 2
 Dann aber wagt er sich doch an eine Art kollektiver Psycho-Historie aus dem Geist der Alltagsgeschichte.

 O-Ton
„Die Anti-Stadt-Bewegung war nach dem ersten Weltkrieg eine dieser vielen Ersatz-Bewegungen für Kriegsschuld, Selbstzerstörung der Ges. - wo fasse ich sie? - und dann gehörten dann die Städte dazu, in denen das Unheil ausgebrütet worden war, die apokalyptische Orte waren. Dagegen wurde ein Volksgesundungskörper aufgerufen, etwas wovon die ganze Nazi-Zeit gezehrt hat, und dazu beschwor man eben die Scholle in die Stadt, ein Wort für das gesunde Landleben. So legte man die Siedlungen an, die berühmte Hufeisen-Siedlung ist ja ein Stück Landsiedlung, in die Stadt hereingebracht - und das hat unglaublich viel Schaden in den Köpfen angerichtet, weil man, statt die Stadt zu sublimieren, die Stadt einzureißen begann.“

Spr 1
 Was hätte man denn tun können, frage ich ihn ...

 O-Ton
„Unendlich viel. Man hätte die Höfe restaurieren, durchlichten können, eine vorsichtige kleine behutsame Stadterneuerung - statt Stadtviertel wegreißen, sie bewohnbar und bearbeitbar zu machen, aus ihnen reale Arbeitszellen und Wohnzellen innerhalb der Stadt statt Wohnzellen in denen man weggesperrt ist sondern auf die man sicH konzentrieren kann ... So etwas. Das wäre ein Anfang gewesen.“

Spr 2
 Der Ästhet und Theoretiker übernimmt ganz selbstverständlich die Rolle des Gesetzgebers – so als wollte er den zeitlosen Mythos vom versponnenen, lebensfernen Philosophen widerlegen.


 O-Ton
„Jeder auf der Straße versteht noch heute unter einem Phil. jemanden, der sich nichts erschüttern lässt - das ist der späte stoische Begriff dafür - jemand, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt: Platon im Phaidon sagt, der Philosoph müsse versuchen, bei lebendigem Leibe schon den Toten ähnlich zu sein, dem Gestorbensein ähnlich zu sein: Also die Reinigung von allen Affekten, die Reinigung von allen Spannungen, die Reinigung von dieser irdischen Welt, unberührt von Allem hindurchgehen - das würde jeder auf der Straße schon sagen.“

Spr 1
 Und auf des Volkes Stimme, auf Moden, Trends und öffentliche Themen hört Heinrich mit geschärften Sinnen. Schon als Student vermisste er jegliche Alltags-Substanz in der akademischen Philosophie. Die fand er dann in den Religionen bzw. in der Religionsphilosophie – die freilich musste er gewissermaßen erst erschaffen:

 O-Ton
„Es gab eine solche Religionsphilosophie gar nicht. Die menschlichen Konflikte sind die ganze Menschheitsgeschichte hindurch in den Religionen ausgetragen worden. Dort hat man die Angst greifbar gemacht, hat man sich mit ihr auseinandergesetzt; jede Religion sagt ihr spezifisches "Fürchtet Euch nicht! ..."

 Spr 2
 Eine solche Urangst vor dem Unbeherrschbaren überlebt wohl noch heute in der Abwehr des urbanen Dschungels:

 O-Ton
„Die Angst vor dem Gewimmel ist nat. immer auch die Angst vor dem inneren Gewimmel, dem eigenen Gewimmel, die Angst vor der Unübersichtlichkeit ist immer aucH die Angst vor der eigenen Unübersichtlichkeit. Und das was man nicht zu balancieren vermag, will man dann geordnet sehen, und man will dort wo man sich aufhält, wo man die weiteren Häute um sich hat, also die Stadtmauern, die Bezirke usw., das will man so ordentlich, dass es die Projektion einer vermeintlichen inneren Ordnung ist. Das ist eine begrenzte Form von Aufklärungs-Vorstellung: Für Kant ist "das unverbunden Mannigfaltige" die Quelle großer Ängste - daher seine Verdammung der Sinnlichkeit, die sich diesem unverbunden Mannigfaltigen verdankt und dem gegenüber wird Ordnung aufgeboten, die alles in einem Koordinatensystem von Raum und Zeit (das ist dann die zugelassene Sinnlichkeit) ordnet …

Spr 2
 Kompakter kann man eine Psycho-Ökologie kaum formulieren. Es ist die permanente Aufbruchstimmung des Kulturnomaden, der alle Völker und Epochen schon erwandert hat – sein Spott zielt auf jene selbstgerechten Zeitgenossen und Kollegen, die nur aus Angst vor jenen weiten, offenen Horizonten den kleinen Ausschnitt ihrer Welt verteidigen, als wäre er die Welt im Ganzen. Sogar beim Denken muss er wandern – und die verschiedenen Arbeitsplätze seiner Duplex-Wohnung sind mitnichten Luxus, sondern Methode:

 O-Ton
„Ich habe, solange ich mich erinnern kann, niemals eine Vorlesung im Stehen hinter einem Pult - Vorträge ja, das ist ja klar -, aber sogar Gastvorträge habe ich immer auf und ab gehend gemacht ...


 Spr 1
 Neugier ist sein Markenzeichen – subjektiv, wenn es ihm vormals Unbekanntes meint, das an seinen Abenteuergeist appelliert; objektiv, wenn es an seinen Pioniergeist appelliert, auf Neues zielend, das im Entstehen ist.
 Das gilt für sein privates Leben ebenso wie für seine professionelle Grundeinstellung. Nie war Klaus Heinrich interessiert, einen Kanon zeit- und raum-übergreifender Einsichten zu erstellen oder einen solchen im Gestus der Offenbarung zu verkünden. Mythenkritik hieß ja auch, Latentes, Unverwirklichtes, Halbverwirklichtes, sich erst Andeutendes zu orten – eben das, was die herrschenden Mythen aus unserem Bewusstsein aussondern oder diskreditieren. Mythen steuern Moden - das gilt für Trends in Denkweisen, Umgangs- und Verhaltens-, ja Empfindungsformen ebenso wie für gerade angesagte, modische Vorstellungen, wie unser – individueller wie auch kollektiver - Lebensraum aussehen sollte. Insofern war und ist Klaus Heinrich immer noch ein Mann auf der Suche, ein Dauer-Reisender der Mentalitätsgeschichte, der sein Wissen und seine Einsichten wie Scheinwerfer auf einer endlosen Entdeckungsfahrt nutzt:


 O-Ton
 Die Welt der Vorstellungen ist identisch mit der Welt der Erscheinungen. Dass die Erscheinungen unendlich viel mehr hätten sein können, lehrt ja die Geschichte der Völker …


Spr 2
 Eine unendliche Geschichte – selbst noch im unmittelbaren Lebensumfeld: Der Friedhof wurde ihm zum beispielhaften Kosmos der Menschheitsgeschichte, das Ferne ist in dieser Sicht nicht weniger unmittelbar als das nur scheinbar nahe Lebensumfeld, das er deshalb auch unermüdlich, mit immer noch derselben Neugier wie als Kind, erkundet

 O-Ton
 Vor allem aber will ich etwas kennen lernen, wenn ich spaziere … Einen Tag in der Wochen schneiden wir uns immer heraus – jedes Mal in einen anderen Stadtteil, in einen anderen Vorort, in ein nahe liegendes Dorf. Dann ist jeder solcher Spaziergang natürlich eine Erkundung … Dass eine Stadt immer wieder Neues bietet … das ist eine Chance, wenn man etwas im Entstehen, im Kommen beobachten kann …

MUSIK: Schubert - „Winterreise“ (1. Strophe: „Fremd bin ich eingezogen ...“)
Darüber Absage:
„Die Schwierigkeit nein zu sagen“
Ein Spaziergang mit dem Philosophen Klaus Heinrich
 Von Eike Gebhardt

 Es sprachen:..
 Regie Iris Arnold
 Produktion Südwestrundfunk 2006
 Redaktion Paul Assall