SWR2 Wissen: Aula Hans Joas - Ralf Caspary: Die entzauberte Moderne . Wo bleibt das Heilige? Gespräch: Ralf Caspary im Gespräch mit Hans Joas

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Moderme - entzaubert?! (Caspari-Joas)
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SWR2 Wissen: Aula Hans Joas - Ralf Caspary: Die entzauberte Moderne . Wo bleibt das Heilige? Gespräch:
Ralf Caspary im Gespräch mit Hans Joas
Sendung: Sonntag, 4. Februar 2018, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2018
https://www.swr.de/swr2/programm/
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Gesprächspartner
Hans Joas ist Ernst-Troeltsch
Professor für Religionssoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat mehrere Bücher geschrieben, darunter:
- Die Macht des Heiligen. Eine Alternative von der Entzauberung. Suhrkamp, 2017
- Kirche als Moralagentur? Kösel, 2016
- Sind Menschenrechte westlich? Kösel, 2015.

ESSENZ:
Haiku:
'Ein Entzauberer
zugleich Prophet wirkt ethisch
verneint Magisches'

ÜBERBLICK
"Entzauberung" ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis der Moderne, sie meint ein stetiges Zurückdrängen des Religiösen zugunsten der Dominanz des rationalen naturwissenschaftlichen Weltbildes. Doch worum handelt es sich dabei eigentlich genau? Was meinte der Soziologe Max Weber mit seinem Konzept der "Entzauberung"? Und sind seine kanonisch gewordenen Vorstellungen überhaupt noch haltbar? Professor Hans Joas, Religionssoziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin, gibt Antworten.
Was meinte der Soziologe Max Weber mit seinem Konzept der "Entzauberung"? Und sind seine kanonisch gewordenen Vorstellungen überhaupt noch haltbar?

MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: „Die entzauberte Moderne – Wo bleibt das Heilige?“.
Am Mikrofon: Ralf Caspary.
"Entzauberung" ist ein Schlüsselbegriff für das Selbstverständnis der Moderne. Gemeint ist ein stetiges Zurückdrängen des Religiösen zugunsten der Dominanz des rationalen naturwissenschaftlichen Weltbildes. Der Religionssoziologe Hans Joas von der Humboldt-Universität zu Berlin thematisiert in seinem neuen Buch diese angebliche Entzauberung und fragt immer wieder, ob man Religion gegen Vernunft, Ratio einfach ausspielen kann. Sein Buch heißt: „Die Macht des Heiligen“, erschienen bei Suhrkamp, und ich habe mit Joas gesprochen über dieses Heilige in der modernen Gesellschaft.
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INTERVIEW:
Caspary:
Warum haben Sie gerade jetzt ein Buch über die „Macht des Heiligen“ geschrieben? Der Titel verführt ja dazu anzunehmen, dass Sie eine Renaissance alter moderner religiöser Riten und Einstellungen wollen.
Joas:
Da müssten wir über den spezifischen Sinn sprechen, in dem ich den Begriff des Heiligen verwende, weil ich das nicht erfunden habe, dass man so über das Heilige redet. Aber das Heilige, wie ich es verwende, ist nicht einfach Bestandteil von Religion. Sondern das Interesse gilt ja gerade auch für Menschen z.B., die nicht religiös sind. Da geht es ja auch um soziale Bewegungen, die vielleicht sogar militant antireligiös sind, z.B. die kommunistische Arbeiterbewegungen, die selber Formen von Sakralität produziert haben, einen Kult der roten Fahne, die Einbalsamierung Lenins oder Maos usw., es geht mir beim Begriff des Heiligen ja um ein menschliches Phänomen, das weiter ist als die Religion.
Caspary:
Und wie würden Sie das menschliche Phänomen beschreiben?
Joas:
Da muss man etwas weiter ausholen und vielleicht als erstes sagen, mein ganzer Zugang zu diesen Themen, nicht nur in diesem Buch, sondern schon in einigen Büchern vorher, läuft über ein bestimmtes Verständnis menschlicher Erfahrung. Also ich fange nicht an bei Religion oder bei einer Definition von Religion und dann bei diesen endlosen und sterilen Debatten, ob jetzt eine bestimmte Sache auch noch Religion sei oder nicht mehr oder schon wieder oder so etwas, sondern bei einer bestimmten Charakterisierung menschlicher Erfahrungen. Und vielleicht ist der einfachste erste Schritt dabei zu unterscheiden, und das ist jetzt sogar die Terminologie von Max Weber, zwischen alltäglichen Erfahrungen und außeralltäglichen Erfahrungen. Alltägliche Erfahrungen sind solche: Auf dem Weg ins Studio gehe ich eine Treppe hoch oder fahre mit einem Aufzug usw., das ist alles Teil meines Alltags, das vergesse ich gewissermaßen sofort wieder, wenn ich es getan habe, es ist die Fülle von routinierten Aktivitäten, die jeder von uns jeden Tag betreibt. Aus diesen alltäglichen Erfahrungen aber ragen zwischendurch Erfahrungen heraus, die man nicht gleich wieder vergisst, die vielleicht eine lebensprägende Rolle spielen, ein Augenblick der Begegnungen mit jemandem, der später ihr Ehepartner wird. Oder auch der schreckliche Verlust von jemandem, den Sie geliebt haben. Also eine Fülle von schönen und eine Fülle von schrecklichen Erfahrungen. Diese außeralltäglichen Erfahrungen benenne ich mit einem bestimmten Begriff, der der Kennzeichnung dient, als Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Das soll heißen, Erfahrungen, in denen Menschen über die Grenzen ihres Selbst hinausgerissen werden. Also wir laufen mit einem bestimmten Selbstverständnis herum, das sitzt nicht nur in unserem Kopf, sondern auch sozusagen in unserem Bauch, wer wir sind, wie wir uns auffassen, wie wir uns geben. Und das gerät in schöner oder in schrecklicher oder in irgendwie ambivalent gemischter Weise in eine Krise, z.B. bei den beiden Erfahrungen, die ich gerade genannt habe, wenn wir uns verlieben oder wenn wir einen schrecklichen menschlichen Verlust erleiden. Wenn wir solche Erfahrungen machen, sind wir völlig sicher, daher kommt diese hohe Gewissheit im
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Bereich der Religion, dass uns etwas ganz Wichtiges passiert ist, dass wir mit Kräften in Berührung gekommen sind, die stärker sind als wir. Und diese Kräfte müssen wir nun, wenn wir darüber nachdenken, wenn die eigentliche Erfahrung vorbei ist und wir versuchen, die jetzt in die Deutungsschemata unseres Alltags einzuholen, irgendwie interpretieren. Wir schreiben diesen Kräfte etwas zu, und ich meine jetzt vor aller ganz starker gedanklicher Reflexion in unserer Erfahrung selber, wir erleben beispielsweise Orte, in denen so etwas stattgefunden hat, Zeiten, in denen wir solche Erfahrungen gemacht haben, oder Gegenstände, die mit diesen Erfahrungen in einem engen Zusammenhang stehen, als Träger einer solchen Kraft. Wir streben an solche Orte zurück, wir haben szenische Erinnerungen. Und diese intensiven Kraftzuschreibungen oder die Gegenstände, die sich mit dieser intensiven Kraft aufgefüllt haben mit unserer Erfahrung, die nenne ich heilig.
Caspary:
Sind Sie in diesem Ansatz und in diesem Konzept des Heiligen Existenzialist? Denn das klingt schon nach der existenzialistischen Grenzerfahrung?
Joas:
Manche Leute meinen, ich verwende den Begriff des Heiligen in einer Weise, die abweicht von allen anderen. Das stimmt aber überhaupt nicht. Sondern ich stütze mich auf eine Reihe von Denkern, die um das Jahr 1900 herum eine Revolution – ein starkes Wort – in den Wissenschaften von der Religion herbeigeführt haben, indem sie dieses Folgeverhältnis von heilig und Religion umgedreht haben. Während vorher das Heilige irgendwie Teil einer Religion war, heißt es jetzt, Religionen sind Versuche, solche allgemein menschlichen Erfahrungen, wie ich sie gerade etwas umschrieben habe, zu systematisieren, auf Dauer zu stellen, anderen verständlich zu machen, an Kinder z.B. weiterzugeben usw. Diese Denker sind nicht im engen Sinn dieselben Denker, die man als Existenzphilosophen bezeichnet. Aber ich würde Ihnen schon entgegenkommen und sagen, diese starke Betonung auf menschlichen Erfahrungen und auf Grenzerfahrungen, wie Existenzphilosophen sagen würden, da gibt es schon eine bestimmte gedankliche Verwandtschaft und wechselseitige Einflussbahnen.
Caspary:
Das heißt aber auch, diese Erfahrungen des Heiligen können in Religion münden, müssen aber nicht?
Joas:
So ist es. Und das ist mir gerade so wichtig, weil ich glaube, darin steckt eine Brücke heute für den Dialog zwischen gläubigen und nicht-gläubigen Menschen. Wenn es so ausschaut, als wäre der religiöse Glaube irgendwie ein ganzheitliches Gebilde, das man sozusagen als Ganzes einkauft oder als Ganzes nicht einkauft, dann gibt es eigentlich keine richtige Verständigungsmöglichkeit. Dann sieht es so aus, als würden die einen in etwas aufgewachsen sein, was die anderen nicht nachvollziehen können, oder sich zu etwas entschieden haben, wofür sie eigentlich keine Gründe angeben können. Und die anderen sagen, nein, vielen Dank, ohne dass Du mir einen stärkeren Grund nennst, trete ich dazu gewiss nicht über. Wenn wir aber bei den menschlichen Erfahrungen anfangen und dabei auch eine bestimmte Demut haben, also uns schon bewusst sind, dass wir nur Menschen sind, die Erfahrungen gemacht haben und die anderen auch wichtige Erfahrungen haben, von denen ich auch etwas lernen kann, wenn ich mehr darüber weiß, dann sehen wir, dass in einem
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bestimmten Sinn alle Menschen ähnlich ticken, dass aber manche Menschen diese intensiven Erfahrungen eben so interpretieren, dass daraus für sie ein religiöser Glaube wird.
Caspary:
Möchten Sie damit auch den Dialog der Religionen fördern? Jenseits des Dogmatischen?
Joas:
Ich möchte zwei Sachen fördern: Einerseits den Dialog zwischen den Religionen, das ist mir sehr wichtig und andererseits aber, was ich gerade schon angedeutet habe und was z.B. für Deutschland ganz wichtig ist, auch den Dialog zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen.
Caspary:
Weil man mit diesem Konzept wegkommt von diesen eingefahrenen doktrinären Denkmustern, die man gegenüber sozusagen auffährt wie Geschütze?
Joas:
Genau. Was ich vorhin gesagt habe, es ist falsch anzunehmen, Religionen seien hauptsächlich quasi wissenschaftliche Lehrgebäude. Gebäude, die man sozusagen durch Lehrsätze lernt. Religionen haben sich leider manchmal in diese Region entwickelt, aber diese Sätze hängen alle in der Luft, wenn sie nicht erfahrungsbasiert sind.
Caspary:
Das ist interessant, d.h. Religionen sind von der Wurzel her für Sie erstmal Gefäße, in denen so etwas wie das Heilige hineinfließen kann, verbalisiert werden kann, vielleicht auch für eine Gemeinschaft kanonisiert werden kann?
Joas:
Ja genau.
Caspary:
Aber nicht, indem man 20 Lehrsätze darüber formuliert.
Joas:
Ja, wobei ich meine, an einem bestimmten Punkt des Nachdenkens werden auch solche Sätze herauskommen. Aber die Sätze, auch Bezeichnungen wie z.B. der Heilige Geist, Christus, der Sohn Gottes, die aus der christlichen religiösen Tradition kommen, sind ja heute vielen Menschen aufgrund der Schwächung der christlichen Traditionen in unserem Land unverständlich geworden. Und die werden nicht dadurch verständlich, dass man sie gewissermaßen nur wiederholt und den anderen damit brüskiert oder mundtot macht. Sondern man muss anfangen, einerseits gewissermaßen psychologisch durch diese Anknüpfung an aktuell zu machende Erfahrungen zu erklären, was solche Sätze denn eigentlich bedeuten können, und andererseits historisch, indem man darauf zurückgeht, was waren die intensiven Erfahrungen, die manche Menschen dazu gebracht haben, Hab und Gut im Stich zu lassen und einem Rabbi nachzulaufen oder so etwas.
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Caspary:
Bieten denn manche Religionen die Gefahr, dass sie das Heilige „zukleistern“ mit Dogmen und Glaubenssätzen, dass es nicht mehr erkennbar wird?
Joas:
Ich würde bezogen auf das katholische Christentum sagen, das war im 19. Jahrhundert teilweise der Fall, und das geht bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Ich finde, dass sich das seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den frühen 1960er-Jahren schon deutlich geändert hat. Aber im späten 19. Jahrhundert gab es Definitionen im Rahmen der katholischen Kirche wie, Glaube sei „Gehorsam gegenüber den Lehren der Kirche“. Das finde ich geradezu erstarrt. Sie sollen eine Lehre glauben, obwohl Sie Ihnen nicht einleuchtet, aus dem Motiv heraus, der Institution gegenüber gehorsam zu sein. Damit kann man in einer Zeit wie heute, in der Gehorsam ohnehin kein hoher Wert ist, keinen Blumentopf gewinnen.
Caspary:
Ist das Heilige für Sie auch so etwas wie eine anthropologische Grundkonstante?
Joas:
Ja. Aber wohlgemerkt: Nicht die Religion ist für mich eine anthropologische Grundkonstante, sondern das Heilige. Es geht eben um Menschen, die ein Selbst entwickelt haben, und das Selbst ist nicht unsere biologische Individualität als solche, sondern es ist ein bestimmtes reflexives Verhältnis zu uns – ich kann „ich“ sagen und ich kann über mich nachdenken usw. Und die Erfahrungen der Selbsttranszendenz setzen dieses Selbst voraus. Aber da alle Menschen nach einer bestimmten Phase früh aus der Kindheit ein solches Selbst entwickeln, haben auch alle Menschen solche Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Und ich darf sagen, ich mache auch bei den vielen Vorträgen, die ich zu diesem Thema halte, die Erfahrung, dass alle Leute wissen, wovon die Rede ist, wenn ich konkrete Beispiele wie das Verlieben oder eine Verschmelzungserfahrung mit Natur, also die Begeisterung über das Schwimmen im Meer oder das Stehen auf einem Berggipfel, nenne. Alle Menschen kennen das.
Caspary:
Es gehören ja gewisse Eigenschaften zum Heiligen, sagen Sie. Bleiben wir mal bei dem Liebespaar: Der Ort, an dem es sich verliebt hat, wird zum Ort der Magie; Dinge werden aufgeladen, also z.B. ein Bild oder ein Buch, das man geschenkt hat, das bekommt diesen heiligen Charakter. Wir haben den Ort, Dinge, Zeiten ...
Joas:
Ja. Und dann natürlich – das kann man bis ins Abstrakte hinein fortsetzen – bestimmte Vorstellungsgehalte. In Deutschland ist z.B. die Erinnerung an den Holocaust heute so etwas, das man als heilig bezeichnen könnte. Und deshalb ist die Entweihung eines Holocaust-Mahnmals oder einer KZ-Gedenkstätte etwas, was zu Recht Empörung auslöst. Und das ist auch Empörung und nicht nur Kritik oder so etwas. D.h. es ist eine zutiefst emotionale Angelegenheit.
Caspary:
Was meinen Sie, welche soziale Funktion das Heilige hat? Wir könnten ja sagen, es schweißt uns zusammen in Grenzsituationen?
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Joas:
Ich bin kein Freund des Begriffes Funktion. Das klingt, als gäbe es Mechanismen, die dazu führen, dass etwas da ist. Ich rede lieber von Wirkungen. Und Sie haben natürlich recht, wenn Menschen den Glauben an ein bestimmtes Heiliges miteinander teilen, dann hält das die Menschen zusammen. Aber das kann man nicht einfach umdrehen und sagen, Menschen halten nur dann zusammen, wenn sie von einem gemeinsam geglaubten Heiligen ausgehen. Das glaube ich nicht. Es gibt viel mehr Formen des Zusammenhalts als den über das Heilige.
Caspary:
Hat es trotzdem eine soziale Sonderrolle?
Joas:
Sie haben vorhin darauf angespielt, dass ich das Buch „Die Macht des Heiligen“ genannt habe. Auf diesen Punkt sollte ich zurückkommen. Ich meine, dass einerseits, bezogen auf die Individuen, das, was uns jeweils das Heilige ist, eine der tiefsten Motivationsquellen ist, die wir haben. Es erscheint uns etwas als ganz offensichtlich und unbedingt gut. Oder als ganz offensichtlich und unbedingt böse. Und wir werden davon angetrieben, etwas zu tun, was dieses Gute verwirklicht oder das Böse an der Verwirklichung hindert. Auf der sozialen oder kollektiven Ebene ist es so, dass ja keine Machtstruktur auf Dauer stabil sein kann, wenn sie nicht in irgendeiner Weise gerechtfertigt wird. Der Fachbegriff ist Legitimation. Die Bundeskanzlerin z.B. hat ja nicht Macht aus sich selber heraus, sondern weil die Wahlen zu einem bestimmten politischen Ergebnis geführt haben. Das heißt, derjenige, der Macht in Händen hat, hat sie in der Wahrnehmung der meisten zu Recht, in gerechtfertigter Weise in Händen. Wenn sich nun etwas an den Grundlagen für die Legitimation ändert, weil sich Verschiebungen im Glauben an Heiligkeiten zeigen, dann hat das sofort Macht-Konsequenzen. Dann steht einer bloß noch mit der Macht da, aber diese Macht erscheint nicht mehr als legitime Macht. Er kann natürlich trotzdem versuchen, sie zu verteidigen, z.B. durch Waffenbesitz. Aber dann geht eine vorher legitime Ordnung in eine Tyrannei über. Insofern bin ich niemand, der in naiver Weise behaupten würde, es gäbe nur die Macht des Heiligen und keine andere. Natürlich gibt es Machtquellen wie Waffenbesitz oder Besitz an Produktionsmitteln usw. Die haben mit Heiligkeit erst einmal nichts zu tun. Aber im Ganzen einer irgendwie stabilisierten, sozialen, politischen Ordnung entfalten Systeme des Glaubens an das Richtige und das Gute selber massive Machtwirkungen.
Caspary:
Ja, natürlich. Bezogen auf unsere Zeit haben wir den islamischen Fundamentalismus. Das ist doch ein eminenter Bezug auf so etwas wie das Heilige, auf ein Glaubenssystem?
Joas:
Wir wollen ja den Begriff des Heiligen so verwenden, dass beispielsweise auch die Begründung in der Ordnung der Bundesrepublik Deutschland über den Menschenwürde-Grundsatz des Grundgesetzes unter Heiligkeit fällt: Ich glaube daran, dass alle Menschen dieselbe Würde haben. Das ist ja kein Satz, der wissenschaftlich begründet ist. Es ist auch ein Glaubenssatz, aber ein Glauben, den ich teile. In der deutschen Geschichte waren aber auch eine Zeitlang Kräfte am Werk, die diesen Satz nicht geteilt haben, sondern die haben davon gesprochen,
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dass Menschen unterschiedlichen Rassen angehören würden und diese Rassen unterschiedliche Würden hätten. Die haben also das vorhandene Glaubenssystem durch ein anderes bekämpft. Durch den islamistischen Fundamentalismus wird sicherlich auch die Legitimität bestimmter Machthaber infrage gestellt. Und die Legitimität steht bei diesen Machthabern ja wirklich oft auf wackeligen Füßen.
Caspary:
Was war die Intention Ihres Konzepts des Buchs „Die Macht des Heiligen“? Ich habe den Eindruck, Sie wollen weg von bestimmten Engführungen, Sie wollen weg von Dogmata, die sagen, Moderne ist Entsäkularisierung, das wird ja immer in einen Topf geworfen mit Entzauberung, Religion wird mit Wissen kontrastiert etc. Wollten Sie davon wegkommen und nochmal so eine allgemeine Basis dafür aufbauen?
Joas:
Das Buch war ehrlich gesagt ein sehr ehrgeiziges Unterfangen und ist auch nicht ganz einfach. Der Gegenstand ist auch nicht so ganz einfach. Es gehen dem ja unter meinen Büchern zwei unmittelbar voraus: „Glaube als Option“, in dem ich mich wirklich mit der Säkularisierungsthese kritisch auseinandersetze, also mit der Behauptung, Modernisierung führe notwendigerweise zur Schwächung von Religion. Und ein anderes Buch, in dem ich mich mit der Geschichte der Menschenrechte beschäftigt habe, und diese Geschichte der Menschenrechte seit dem 18. Jahrhundert als die Geschichte der zunehmenden Durchsetzung des Glaubens an eine universale Menschenwürde geschildert habe, z.B. in den Prozessen der Abschaffung der Folter und der Abschaffung der Sklaverei, wo das besonders anschaulich wird. Und vor dem Hintergrund dieser beiden Bücher habe ich beschlossen, die langfristige Vorgeschichte sowohl der europäischen Säkularisierung wie dieser erfreulichen Geschichte einer zunehmenden Durchsetzung der Menschenrechte in Europa und Nordamerika ins Auge zu fassen. Der große Konkurrent gewissermaßen, wenn man sich mit dieser Vorgeschichte beschäftigt, ist Max Weber und seine Behauptung von der Entzauberung. Das ist deshalb ein Konkurrent, weil dort eben alles auf diese Säkularisierung hinausläuft, von der ich behaupte, dass sie nicht zwangsläufig ist und dass sie teilweise, je nach Land, auch gar nicht gegeben ist. Und deshalb ist dieses nun ein Buch über die Religionsgeschichte seit der Zeit der alttestamentlichen Propheten. Es geht um die Fragestellung, welche religiösen Impulse gibt es da jeweils und wie verhalten die sich zu politischer Macht. Darum endet das Buch mit so einer Typologie von Formen der Verknüpfung von Heiligkeit und Macht wie etwa der Sakralisierung des Herrschers, also dass der König selber z.B. von Gottes Gnaden Herrscher sei, oder der Sakralisierung der Nation in der Geschichte des Nationalismus, wo ganze Generationen junger Männer bereit waren zu sterben für die Sache der Nation als des höchsten Wertes, den sie sich vorstellen konnten. Oder die Sakralisierung des Volkes – das ist nicht ganz dasselbe wie der Nation, das hat eher so einen republikanischen Unterton – oder eben die Sakralisierung der Person, wie ich diese Geschichte der Menschenrechte nenne. Ich wollte ein Gegenmodell bauen zu dieser Vorstellung von einer linearen Entwicklung in Richtung Entzauberung. Ein Modell, das viel sensibler ist für die machtkritischen und die machtstützenden Potenziale des Heiligen.
Caspary:
Das heißt, wenn Sie weggehen wollen von diesem linearen Geschichtsmodell: also wir bewegen uns immer mehr auf die Dominanz der Naturwissenschaften hin, die
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Religion wird immer wieder geschwächt, dann würden Sie sagen, nein, das ist falsch, sondern es gibt immer wieder neue mal schwächere, mal stärkere Verknüpfungsarten von Macht und Heiligkeit?
Joas:
So ist es. Und es gibt immer wieder Versuche zu einem wirklich anspruchsvollen Begriff des Heiligen. Darüber haben wir bisher nicht gesprochen. Das ist der Begriff der Transzendenz. Was bei den Propheten charakteristisch war, warum diese Geschichte bei den Propheten beginnt – ich hab jetzt immer gesagt bei den alttestamentlichen Propheten, aber mein Interesse gilt auch Prophetengestalten außerhalb der jüdisch-christlichen Tradition, sagen wir mal Buddha-, was für die alle charakteristisch ist, ist ja, dass sie skeptisch sind gegenüber Magie und Magisches eher ablehnen. Bei den alttestamentlichen Propheten ist das ganz deutlich, dass sie sozusagen als Sprachrohe Gottes sagen: „Ich lehne Eure Brandopfer ab.“ Ihr sollt nicht versuchen, Ihr Israeliten, mich dazu zu bewegen, das zu tun, was Ihr wollt, indem Ihr irgendwelche Opfertiere für mich darbringt. Was ich tatsächlich will ist, dass Gerechtigkeit herrscht im Volk Israel. Es wird an die Stelle einer magischen Beziehung sozusagen eine ethische Beziehung gesetzt, wie immer man das jetzt genau begrifflich fassen will. Und damit ist allerdings jetzt auch eine anspruchsvollere Gottesvorstellung verbunden. Dieser Gott ist dann nicht mehr einfach einer, mit dem man verhandeln kann: Ich biete Dir jetzt noch mehr an, aber dafür musst Du jetzt wirklich tun, was ich von Dir fordere; sondern das ist ein Gott, der unbedingte moralische Forderungen an den Einzelnen oder sogar an ein ganzes Volk stellt. Und dieser Gott wird zunehmend gedacht als ein Gott, der überhaupt nicht hier im irdischen Bereich mit uns ist, sondern ganz woanders. Wenn Jesus Christus vor Pontius Pilatus sagt, mein Reich ist nicht von dieser Welt, dann wird er verstanden. Also er erfindet nicht diesen Gedanken, dass es etwas gibt, was nicht von dieser Welt ist. Weil die Juden Gott ohnehin schon woanders gewissermaßen lokalisiert haben. Und das nenne ich, nicht nur ich natürlich, die Transzendenz. Und es geht eben um die historische Entstehung von Transzendenz- Vorstellungen. Und das ist ungeheuer wichtig für die moralische Geschichte Europas oder des Westens, aber auch Chinas beispielsweise und Indiens, dass es eine über alle gegebenen politischen Machtverhältnisse hinaus schießenden Bezug gibt, dass Propheten den Mut daraus abgeleitet haben, Herrschern entgegenzutreten und zu sagen, Gott hat uns die Zehn Gebote gegeben, Du verstößt gegen die Zehn Gebote. Das ist unter den Bedingungen archaischer Staatlichkeit etwas Sensationelles.
Caspary:
Jetzt wird es religionsgeschichtlich, das können wir leider nicht mehr abhandeln, dazu bräuchten wir einen zweiten Teil. Aber ich denke, es ist doch noch klar geworden, auf was Ihr Denken hinausläuft. Und diese Kategorie des Heiligen kann dabei sehr hilfreich sein. Ich bin gespannt auf Ihr nächstes Buch. Planen Sie schon etwas?
Joas:
Ich plane eine Vortragsreihe mit dem Titel „Religion und Imperium“. Wie das Buch dazu dann genau ausschaut, weiß ich noch nicht. Es beschäftigt sich dann nur mit dem 20. Jahrhundert mit den komplizierten Wechselwirkungen zwischen Macht und Religion bei drei großen Gestalten des 20. Jahrhunderts. Und Sie werden jetzt vielleicht überrascht sein, wenn ich die nenne: Martin Luther King, Mahatma Gandhi und Mao. Martin Luther King, weil er mit den Folgen der Sklaverei in Gestalt der
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Rassendiskriminierung und Rassensegregationen in den amerikanischen Südstaaten, die sich auch selber oft christlich gerechtfertigt hat, konfrontiert war und eine christlich inspirierte Gegenbewegung zur Beendigung der Rassendiskriminierung und der Segretation angeführt hat. Und wie da religiöse Motive und Infrastruktur von Kirchen usw. eine Rolle spielen, das beschäftigt mich sehr. Gandhi interessiert mich wegen seines Versuchs, das universalistische Potenzial indischer religiöser Traditionen gegen das britische Kolonialreich zu mobilisieren. Und Mao, weil unter Mao der wahrscheinlich größte Versuch jemals in der Weltgeschichte, alle Religion vom Boden eines Landes und einer ganzen Zivilisation zu tilgen, stattgefunden hat in der Kulturrevolution. Und der Hintergrund dafür ist natürlich, dass für die Schwäche Chinas die chinesischen religiösen Traditionen verantwortlich gemacht wurden und alle anderen religiösen Traditionen ebenfalls als gefährlich empfunden wurden oder dargestellt wurden, was die Wiedergewinnung einer Stärke Chinas betrifft. Und diese drei Konstellationen möchte ich mit den Begriffen, die ich in diesem Buch entwickelt habe, aufschlüsseln.
Caspary:
Ich bin gespannt, wünsche viel Erfolg bei der Arbeit und bedanke mich für das Gespräch.
Joas:
Danke, Herr Caspary.
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