SWR2 Wissen - Aula Hans Giessen: Computer oder doch Papier? Wie und wann wir besser lernen

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Mit Computer besser lernen ?!

SWR2 Wissen - Aula Hans Giessen: Computer oder doch Papier? Wie und wann wir besser lernen

Sendung: Sonntag, 10. Juli 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016
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ÜBERBLICK
Wenn die digitalen Medien die Welt so dramatisch verändern, muss man natürlich erforschen, was sich sinnvollerweise mit ihnen machen lässt. Forschungs- und Bildungsministerien haben deshalb immer wieder Projekte ins Leben gerufen und finanziert, mit denen dies untersucht werden sollte. Wie wirken die digitalen Medien? Was sind ihre Vorteile, was sind die neuen Chancen, die mit ihnen und durch sie entstehen, gerade beim Lernen? Wie kann man sie sinnvoll einsetzen? Der Medienwissenschaftler Professor Hans Giessen von der Universität des Saarlandes gibt aufgrund eigener Forschungsarbeiten Antworten.

AUTOR
Hans Giessen studierte an der FU Berlin, der Université de Metz und der Universität des Saarlandes, Saarbrücken. 1992 Promotion. Berufstätigkeit im Medienbereich, Saarbrücken und Luxembourg. Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 2001 Habilitation, 2009 apl. Prof. an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken

INHALT
Ansage:
Heute mit dem Thema "Computer oder doch Papier? Wann und wie wir am besten lernen".
Wenn die digitalen Medien die Welt so dramatisch verändern, muss man natürlich erforschen, was sich sinnvollerweise mit ihnen machen lässt. Forschungs- und Bildungsministerien haben deshalb immer wieder Projekte ins Leben gerufen und finanziert, mit denen dies untersucht werden sollte. Wie wirken die digitalen Medien? Was sind ihre Vorteile, was sind die neuen Chancen, die mit ihnen und durch sie entstehen, gerade beim Lernen? Wie kann man sie sinnvoll einsetzen? Der Medienwissenschaftler Professor Hans W. Giessen von der Universität des Saarlandes gibt aufgrund eigener Forschungsarbeiten Antworten.
Hans Giessen:
Der Computer eroberte seit etwa den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Welt. Am Anfang war er nicht mehr als eine besonders effektive Schreibmaschine. Der Speicherplatz war noch sehr beschränkt. Dann wurde es immer leichter, auch mit Bildern und Filmen zu arbeiten. Und schließlich kam das Internet. Im Hintergrund entstanden große Datenbanken, nun konnte man nach Flugverbindungen suchen oder nach Telefonnummern; in Mediatheken lassen sich ganze Spielfilme abrufen. Seit den neunziger Jahren war klar: Das neue Medium verändert die Art, wie wir arbeiten, wie wir kommunizieren, wie wir leben. Dann drang das Smartphone in unseren Alltag ein.
Wenn die digitalen Medien die Welt so dramatisch verändern, muss man natürlich erforschen, was sich sinnvollerweise mit ihnen machen lässt. Forschungs- und Bildungsministerien sowie Forschungsförderungsorganisationen haben deshalb immer wieder Projekte ins Leben gerufen und finanziert, mit denen dies untersucht werden sollte. Wie wirken die digitalen Medien? Was sind ihre Vorteile, was sind die neuen Chancen, die mit ihnen und durch sie entstehen? Wie kann man sie sinnvoll einsetzen? Ich habe seit den späten neunziger Jahren an verschiedenen Universitäten und Bildungseinrichtungen immer wieder in Projekten gearbeitet, die solche Fragestellungen aufwarfen.
So war ich an einem Projekt beteiligt, in dessen Kontext ein sogenanntes 'Selbstlernzentrum' eingerichtet wurde. Das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung hat viel Geld dafür ausgegeben, weil man die Hoffnung hatte, dass die Menschen dank der digitalen Medien besser lernen und ihren Alltag sinnvoller gestalten könnten. Das 'Selbstlernzentrum' war kein Internetcafé, auch wenn es auf den ersten Blick so aussah. Es war in bester Lage in der Innenstadt eingerichtet worden und war mit acht Computern ausgestattet. Dazu kamen zwei Betreuer, die übrigens eigens eine Schulung als 'Lernberater' durchlaufen hatten. Das Angebot war offen für alle, die Interesse hatten, etwas zu lernen. Denn das war ja der Zweck der Sache: Das 'Selbstlernzentrum' sollte zum überraschenden Lernort werden, mitten in der City. Zum Internetsurfen durfte man nicht kommen. Es gab zwar einen Internetzugang, aber vor allem gab es Lernsoftware. Das reichte vom Programm über Buchführung für Anfänger bis zum komplexen Mathe-Kurs. Ein Schwerpunkt
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waren Sprachen: natürlich Englisch und Französisch, aber auch Arabisch, Russisch oder Türkisch. Wir hatten Kurse für Deutsch als Fremdsprache und für Chinesisch.
Das Angebot musste zunächst einmal bekannt gemacht werden, obwohl unser 'Selbstlernzentrum' auch nicht zu übersehen war, mit seiner zentralen Innenstadtlage. Aber die Idee schien interessant und gut, so dass die Presse bereitwillig berichtete, von der lokalen Tageszeitung bis zum nationalen Fernsehprogramm. Viele wurden neugierig und meldeten sich zum 'Selbstlernen' an. Wir mussten eine Liste führen, wer wann an welchen Computer durfte, um dann für eine Stunde seine Lernsoftware bearbeiten zu können. Sprachen waren am beliebtesten. Bereits wenige Wochen nach dem Start war das 'Selbstlernzentrum' ausgebucht.
Da war der bärtige Arbeitslose mit seiner verschlissenen Lederjacke, der Englisch lernen wollte, um seine Chancen auf eine neue Stelle zu verbessern. Die Kaufhauskette hatte eine neue Leiterin ihres Filialkaufhauses, die die Mittagspause nutzte, um ihr Spanisch aufzufrischen. Eine chinesische Studentin, die ein Stipendium für Deutschland bekommen hatte, nahm sich die CD mit dem Programm für Deutsch als Fremdsprache vor. Das 'Selbstlernzentrum' inmitten der Stadt ermöglichte ihnen allen eine sinnvolle Nutzung von Zeitfenstern, die sonst verplempert worden wären. Eine Stunde während des Einkaufens konnte mithin gut genutzt werden, um sich intensiv in ein Thema zu vertiefen, und dann konnte man sich wieder dem sonstigen Leben widmen.
Larissa kam immer kurz vor der Mittagspause. Sie war eine schöne, junge Russin mit dunklen Locken, Anfang zwanzig und hatte einen jungen Deutschen kennengelernt. Ihr Freund arbeitete in einer Bankfiliale gerade um die Ecke und war sehr verliebt. Die beiden trafen sich regelmäßig in seiner Pause, um gemeinsam in einem Lokal zu Mittag zu essen und dann noch ein bisschen durch die Stadt zu schlendern. Larissa kam also jeden Tag in die Innenstadt, und so bot es sich an, das nahegelegene 'Selbstlernzentrum' zu nutzen und hier vor dem Mittagessen für eine Stunde das Programm Deutsch als Fremdsprache durchzuarbeiten. Sie füllte Lückentexte aus, um ihr Vokabular zu trainieren, und machte verschiedene Grammatikübungen. Nach etwa einer Stunde kam Thomas, holte seine Larissa ab und erzählte stolz, dass er sie bald heiraten werde.
Das ging einen Monat lang so. Thomas 'buchte' für Larissa Lernzeit, jeden Tag. Dann ließen sie es ausklingen. Vielleicht waren die beiden in Urlaub gefahren? Weil die Bankfiliale von Thomas um die Ecke lag, sahen wir ihn aber gelegentlich. Thomas erzählte, dass Larissa etwas die Lust verloren habe am Deutschlernen im 'Selbstlernzentrum'. Sie wolle mal eine Pause einlegen. Sie kam nicht mehr wieder.
Larissa war kein Einzelfall. Auch die Filialleiterin des Kaufhauses, die ihr Spanisch aufpolieren wollte, hielt einen knappen Monat durch. Immerhin: Ein pensionierter Lehrer war länger da und Manfred, der bärtige Arbeitslose. Aber er kam hauptsächlich, um andere Lerner zu treffen, mit denen er sich unterhielt – und die er manchmal vom Lernen abhielt. Und die chinesische Studentin, die lediglich ein- bis zweimal in der Woche kam, hielt immerhin rund ein Vierteljahr durch.
Dass viele Nutzer des 'Selbstlernzentrums' wieder absprangen, war im ersten halben Jahr kein Problem: Aufgrund der breit angelegten Werbung kamen immer wieder
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neue Interessenten. Aber es fiel schon auf, dass sich kaum jemand länger als einen Monat regelmäßig auf das 'Selbstlernzentrum' einließ. Diejenigen, die Programme wie die Einführung ins Rechnungswesen durcharbeiteten, schlossen es in der Regel innerhalb von ein bis zwei Wochen ab, aber das war eh die Minderzahl – die meisten kamen ja, um ihre Sprachkompetenzen zu erweitern. Die Sprachenlerner blieben aber im Schnitt auch nicht viel länger.
Und schon nach einem halben Jahr brach der Besucherstrom im 'Selbstlernzentrum' zusammen. Nun saßen die beiden Betreuer bei ihren acht Rechnern und warteten, wie die Zeit verging. Es gab Tage, an denen innerhalb der acht Stunden, die das Zentrum geöffnet hatte, gerade mal ein oder zwei Besucher an die Tür klopften. Voranmelden musste man sich jetzt nicht mehr.
Was mögen die Gründe für den dramatischen Einbruch gewesen sein? Natürlich haben wir die ehemaligen Lerner befragt, wenn wir sie zufällig auf der Straße getroffen hatten – nachdem wir sie einige Zeit lang nicht mehr bei uns gesehen hatten. Viele Nutzer beklagten, dass das Lernen am Computer schwierig sei. Aber es blieb alles letztlich vage. Vielleicht waren enttäuschte Erwartungen die Ursache? Die Lerner sagten, sie hatten ihre Sprachkenntnisse verbessern wollen, aber das Lernen sei uneffektiv gewesen. Wieso? Darauf kamen in der Regel keine brauchbaren Antworten. Wie auch – bei einem schnellen Gespräch auf der Straße, ohne sich vorher überlegt zu haben, wie man ausdrücken kann, was offenbar nur als unsicheres Gefühl existierte. Im Rahmen des Projekts war es nicht möglich, nach den Ursachen zu forschen. Zufällige Begegnungen in der Stadt und kurze Spontaninterviews ersetzen keine systematische Analyse.
Nach Projektende wurde das 'Selbstlernzentrum' geschlossen, die Idee war gescheitert. Übrigens nicht nur bei uns: Im Programm des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung wurden mehrere solcher Einrichtungen etabliert, von denen keine über die Projektlaufzeit hinaus Bestand hatte – im Gegenteil war bei allen schon nach spätestens einem halben Jahr abzusehen, dass sie erfolglos bleiben würden. Oder sie wandelten das Konzept, öffneten das Angebot zum Mailen und Surfen. Aber dann spielte das Lernen nur noch eine untergeordnete Rolle, dann waren andere Aspekte der digitalen Medien wichtiger.
Warum hat das Lernen mit dem Computer – zumindest in der spezifischen Situation des 'Selbstlernzentrums'' und beim Sprachenlernen – nicht funktioniert? Es gibt sicher verschiedene Gründe. Immerhin, eine erste Vermutung wurde in fast allen Gesprächen zurückgewiesen: Das Problem war nicht die Innenstadtlage. Im Gegenteil, eigentlich alle Nutzer bestätigten, dass eine 'Lernatmosphäre' herrschte, dass sie schnell den Trubel der Stadt verdrängt hätten und dass sie sich auf die Inhalte der Lernsoftware gut konzentrieren konnten. Dennoch empfanden sie das Lernen als wenig effektiv. Eine korrekte Vokabel, die sie gestern mit der Computermaus an die richtige Stelle im Lückentext geschoben hatten, die sie also korrekt erkannt hatten, samt ihrer Bedeutung im Satz, war schon am darauffolgenden Tag wieder vergessen und wirkte so unbekannt, als tauche sie zum ersten Mal auf.
Die nächste Vermutung war, dass es an den Lernern lag, die wir mit unserem 'Selbstlernzentrum' vorrangig ansprechen wollten. Wir wissen aus der Psychologie und Kognitionswissenschaft, dass man in jungen Lebensjahren leichter lernt. Das
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liegt an der Elastizität unseres Gehirns, die zwar, entgegen frühererAlJa Vermutungen, nie ganz verschwindet, aber eben doch schwächer wird. Dazu kommt, dass in jungen Jahren aufgrund des obligatorischen Schulbesuchs das Lernen gelernt und trainiert wird. Je nachdem, wie sich das Leben später entwickelt, sind Lerner nicht mehr ganz so gewohnt, beispielsweise Vokabeln zu memorieren, wenn sie das Lernen weniger oft und gut trainieren. Es war nun aber gerade explizites Ziel des 'Selbstlernzentrums', Menschen ansprechen, die aufgrund ihrer Lebensumstände keinen direkten Zugang mehr zu Bildungseinrichtungen beziehungsweise ganz allgemein zum Lernen haben. Wir wollten Arbeitslose ansprechen, Frauen nach der Familienphase, Rentner. Vielleicht benötigen Angehörige solcher Zielgruppen einfach mehr Zeit, um wieder in einen 'Lernmodus' zu kommen? So dass sie zumindest Anfangsschwierigkeiten haben – und dann vielleicht allzu früh aufgeben?
Aber wir hatten natürlich andere Lerner nicht ausgeschlossen. Wir hatten die chinesische Studentin als 'Kundin', und es gab weitere Studierende und sogar ein paar Schüler. Aber auch sie hatten nicht nur bald keine Lust mehr aufs 'Selbstlernzentrum', sondern sagten auch immer wieder, dass sie hier einfach schlecht lernen, dass sie keine Vokabeln im Gedächtnis behielten, dass sie ihre Zeit hier als uneffektiv empfanden. Selbst solche Lerner wie Larissa, die junge Russin, die schnell Deutsch lernen wollte, um hier mit ihrem Mann zu leben und eine Familie zu gründen, gaben bald auf, weil sie offenbar nicht das Gefühl hatten, dass ihnen unser 'Selbstlernzentrum' dabei helfen würde.
Unsere Befragungen waren natürlich zu unsystematisch, um daraus mehr als Vermutungen abzuleiten. Eindeutig war zunächst nur, dass das 'Selbstlernzentrum' nicht angenommen wurde. Die Idee hatte sich nicht durchgesetzt. Immerhin gibt es Indikatoren für das Warum, denen man weiter folgen kann. In jedem Fall war auffällig: Fast alle Befragten meinten, es liege am Computer, dass sie nicht effektiv lernten. Da wir fast ausschließlich Interessenten am Sprachenlernen hatten, können wir auch diese stets wiederkehrende Aussage, so eindrücklich und konsistent sie auch formuliert wurde, nur auf eben das Sprachenlernen beziehen. Hier aber war die entsprechende Vermutung so regelmäßig, dass sie zumindest eine weitere, nun systematischere Untersuchung rechtfertigte.
Wie könnte eine solche Untersuchung aussehen? Das Ziel muss es ja sein, möglichst exakt zu messen, ob man mit dem Computer wirklich schlechter Sprachen lernt. Am einfachsten ist eine systematische Erfassung sicherlich, wenn Vokabeln gelernt werden. Die kann man abfragen, also relativ einfach und präzise den Lernerfolg erkennen.
Aber so einfach ist es nicht. Zunächst muss nämlich gewährleistet sein, dass die Vokabeln tatsächlich unbekannt sind – wenn einzelne Lerner die jeweiligen Vokabeln schon kennen, andere aber nicht, ist ein Lernerfolg nicht exakt nachweisbar.
Wie kann man Vokabeln lernen lassen, bei denen man sich sicher ist, dass sie niemand kennt? Eine mögliche Entscheidung ist, eine Sprache zu nehmen, die niemand kennt. Dennoch müssen die Vokabeln für alle potenziellen Lerner identifizierbar sein. Sie müssen also in einer Schrift geschrieben sein, die den Lernern vertraut ist. Für deutsche Lerner sind das natürlich lateinische Schriftzeichen. Sprachen, die in anderer Schrift geschrieben werden, scheiden also
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für deutsche Versuchspersonen aus, beispielsweise also Vokabeln in chinesischer oder auch kyrillischer Schrift.
Aber auch die Reduktion auf die lateinische Schrift ist nicht genug, denn in manchen Sprachen gibt es Sonderzeichen, die möglicherweise nicht allen Lernern vertraut sind. Etwa das Ogonek, ein Häkchen im Polnischen an den Vokalen a und e, die dann jeweils nasaliert werden. Also entfiel auch das Polnische.
Zudem schieden alle Sprachen aus, die die potenziellen Lerner kennen konnten. Dies sind natürlich zunächst die Sprachen, die in der Schule gelernt werden. Schließlich fiel die Entscheidung, dass die Vokabeln aus dem Ungarischen stammen sollten: Die Sprache wird in lateinischer Schrift geschrieben, andererseits handelt es sich nicht um eine indoeuropäische Sprache, so dass die Vokabeln auch nicht erraten oder abgeleitet werden können. Ungarisch-Kenntnisse sind beim durchschnittlichen Studenten beziehungsweise der durchschnittlichen Studentin in Westdeutschland, wo das Experiment durchgeführt wurde, eher nicht zu erwarten, dies wäre möglicherweise etwa in Österreich anders gewesen.
Die potenziellen Vokabellerner sollten aber nicht den Eindruck haben, dass ihre Lernbemühungen völlig unsinnig seien. Daher war eine real existierende Sprache schon unabdingbar (also nicht Fantasiesprachen wie das Klingonische oder das Na'avi). Im Fall des Ungarischen konnte argumentiert werden, dass das Land so groß und auch als Reiseland so interessant sei, dass entsprechende Vokabeln, zumal dann, wenn sie sich auf den Urlaub beziehen, für alle Probanden gegebenenfalls von Relevanz sein können.
Der Aushang, mit dem die Kandidaten für das Experiment gesucht wurden, gab als Selektionskriterium deutsche Muttersprachler vor. Desweiteren wurden auf dem Aushang drei feste Termine genannt: eine Stunde zum Lernen, anschließend die erste Vokabelüberprüfung, die am darauffolgenden Tag und schließlich eine Woche später wiederholt werden sollte.
Es ging um einfache Vokabeln, die in Urlaubs- und Alltagssituationen sinnvoll sind. Die Vokabelliste enthielt zehn Wörter, die jeweils innerhalb einer Stunde memoriert werden sollten; die Liste war in alphabetischer Reihenfolge gestaltet. Alle Probanden bekamen dieselbe Vokabelliste.
Allerdings sollten die Probanden die Vokabeln nicht auf identische Art und Weise lernen. Es wurden Gruppen gebildet, die idealerweise gleich groß sein sollten und auch sonst weitgehend identisch – bezogen etwa auf das Geschlecht oder das Alter. Angestrebt war eine Gruppengröße von jeweils zehn Teilnehmern. Die Gruppengröße konnte begrenzt sein, da ja nur eine Variable verändert wurde, eben nur das Lernen. Ansonsten hatten wir nur weibliche Lerner, und alle waren zwischen 19 und 21 Jahren alt – kein Wunder, denn es handelte sich um Studierende einer Hochschule.
Die Gruppen sollten aber doch groß genug sein, um im statistischen Sinn aussagekräftige Ergebnisse zu generieren (die also den Zufallsfaktor individueller Lernfähigkeiten, der Tagesform usw. statistisch ausgleichen würden). Dies schien bei unserer Gruppengröße gewährleistet zu sein.
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Die Probanden der ersten Gruppe sollten die Vokabeln von einem Blatt Papier aus lernen, also von einer klassischen Vokabelliste auf traditionelle Art und Weise. Die zweite Gruppe erhielt zwar dieselbe Vokabelliste, musste sie aber vom Computermonitor aus lernen. Eine dritte Gruppe erhielt die Vokabeln auf besonders aufwendig hergestellte und hoffentlich anregende Art und Weise: Sie wurden als Bewegtbild mit Hilfe einer Flash-Animation präsentiert. Würden sich diese Mühen auszahlen? Ergeben sich Unterschiede bezüglich der Effektivität des Vokabellernens?
Direkt nach der einstündigen Lernphase wurden die Vokabelkenntnisse überprüft. Die Reihenfolge der Überprüfung war nicht festgelegt und erfolgte zufällig. Im Vorfeld war strittig, wie die Überprüfung erfolgen sollte: Sollten nur die Vokabeln gewertet werden, die fehlerlos reproduziert werden konnten, oder auch diejenigen Vokabeln, die vielleicht nicht ganz korrekt, aber möglicherweise verständlich oder doch zumindest ähnlich wiedergegeben wurden? Auch in diesem Fall hätte es ja einen nicht unbeträchtlichen Lernerfolg gegeben. Da aber eine statistische Vergleichbarkeit gegeben sein musste, wurden schließlich nur Vokabeln gewertet, die genau korrekt gelernt waren. Da dieses Kriterium alle Gruppen betraf, hatte keine Gruppe einen (statistischen) Vor- oder Nachteil. Im anderen Fall wären die Abgrenzungsprobleme schwierig gewesen; der Übergang zwischen korrekt gelernten und falschen Vokabeln wäre fließend und daher die Messbarkeit und mithin Bewertbarkeit der Ergebnisse problematisch gewesen. Die Beschränkung auf absolut korrekt wiedergegebene Vokabeln ermöglichte dagegen eine saubere statistische Darstellung und Analyse.
Am Folgetag fand eine weitere Überprüfung der gelernten Vokabeln statt; erneut wurden die Vokabeln in einer zufälligen Reihenfolge abgefragt. Die Lernphase wurde nicht wiederholt; hier ging es nur um die Präsenz der gelernten Vokabeln einen Tag nach dem eigentlichen Lernvorgang. Schließlich wurde exakt eine Woche nach dem ersten Termin eine dritte Überprüfung durchgeführt.
Das Ergebnis des Experiments war in seiner Deutlichkeit überraschend, auch wenn die Erfahrungen mit dem 'Selbstlernzentrum' ja bereits zu entsprechenden Vermutungen geführt hatten (Giessen 2011). Es lassen sich deutliche Unterschiede in der Behaltensleistung bezüglich fremder Vokabeln feststellen. Die traditionelle Vokabelliste erwies sich als deutlich effektiver als das Lernen vom Computerminitor aus. Vokabeln, die man am Computermonitor lernt, werden dagegen schlechter memoriert. Und am schlechtesten waren die Ergebnisse, wenn die Studierenden die Vokabeln mit der aufwendigen Flash-Animation gelernt hatten.
Diese Ergebnisse konnten verschiedentlich repliziert werden, manchmal schwächer, manchmal geradezu überdeutlich. Etwas schwächer waren die problematischen Effekte des Computers beim Vokabellernen mit Studierenden einer Pädagogischen Hochschule (Giessen/Kostrzewa/Bachor 2016). Vielleicht waren die Studierenden das Vokabellernen so gewohnt, dass Negativeffekte abgeschwächt waren? Aber auch bei ihnen ergab sich, dass es im Kontext des Vokabellernens sinnvoll ist, auf animierte Computerpräsentationen zu verzichten – hier waren die Lernergebnisse auch bei ihnen deutlich schwächer.
Auch Kolleginnen von der Technischen Universität in Kaunas, Litauen, hatten das Experiment wiederholt. Da sie an einer Technischen Hochschule unterrichten, hatten sie viele Studierende, die sehr zielorientiert waren und es ablehnten, Zeit für andere
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Sprachen als das Englische zu investieren. Also veränderten sie das Experiment, und die Studierenden mussten in der Sprache, die ihnen wichtig war und deren Kenntnis ihnen zu Karrierevorteilen verhelfen sollte (also im Englischen) ebenfalls zehn Vokabeln lernen – und ebenfalls in unterschiedlichen Gruppen, die eine über eine Vokabelliste auf Papier, die andere mit dem Computer, die dritte mit Computeranimationen. Wie sollte aber hier gewährleistet werden, dass die Studierenden nicht doch einzelne der abgefragten Vokabeln bereits kannten, da Englisch auch in den Schulen Litauens als erste Fremdsprache unterrichtet wird? Das war sicher nicht einfach, aber die Lösung lag darin, fachsprachliche Ausdrücke zu wählen, die zumindest Studienanfänger noch nicht kennen konnten. Weil es aber fachsprachliche Termini aus dem Bereich Technik waren, waren die zukünftigen Ingenieure möglicherweise besonders motiviert, die Begriffe zu memorieren. Zudem sollten sie auch jeweils angeben, ob sie die Vokabel schon kannten. Das Ergebnis des litauischen Experiments war nahezu identisch (Marcinkonienė / Zdanytė 2015). Vokabeln, die per Computer gelernt wurden, blieben signifikant schlechter haften als Vokabeln, die per Papier gelernt wurden; und am schlechtesten war die Behaltensleistung bei Bewegtbild. Ein eindeutiges, sehr klares Resultat. Mit dem Computer kann man nicht gut Vokabeln lernen.
Woran kann das liegen? Eine Vermutung ist, dass es an unterschiedlichen Hirnregionen liegt. Wir lernen mit unserem Gehirn – aber nicht alle Areale unseres Gehirns sind gleich förderlich für einen erfolgreichen Lernprozess. Für das Lernen, für Kreativität und Memorisieren sind der Hippocampus, die Cortexrinde und die Insula verantwortlich (Seifert 1983, Traub/Miles 1991, Andersen et al. 2006). Dagegen beeinträchtigt die Aktivierung der Amygdala solche Prozesse. Sie ist für die Hormonausschüttung verantwortlich und wird im Kontext emotionaler Anspannung aktiviert, bei großer Freude, bei Sorgen, Furcht oder Angst. Sie beeinflusst dadurch auch den Blutdruck. Auf diese Weise werden die für Flucht oder Kampf notwendigen physiologischen Voraussetzungen geschaffen, aber gerade deswegen reflektierende und kreative Prozesse tendenziell behindert. Es ist nicht sinnvoll, sich mitten auf der Straße stehend zu überlegen, ob das, was gerade auf einen zugeschossen kommt, der neue Volkswagen oder doch ein Seat ist, und dass man diese Farbe bei diesem Automodell noch nie gesehen hat – nein, man muss sich beeilen, schnell von der Straße 'runter, auf die Seite springen. Überlegungen kosten zuviel Zeit, man muss handeln. Die Amygdala beeinträchtigt deshalb die Funktionen des Hippocampus, indem sie die mit dem Hippocampus assoziierten Prozesse überlagert und zum Stillstand bringt (Eleftheriou 1972, Aggleton 1992, 2000, 2002, Damasio 2003, Phelps 2006).
Mehr noch: Das Hirn nimmt Inhalte anders, unterschiedlich auf, je nachdem, ob eine Botschaft in gedruckter Form vermittelt wird oder ob sie auf einem Bildschirm erscheint. Über den Computer huschen wir drüber. Vor allem Schrift ist schlecht zu lesen. Die Lesegeschwindigkeit ist ein Viertel bis ein Drittel langsamer als bei Druckwerken, die Behaltensleistung ist deutlich geringer als beim selben Text in der Druckfassung, und es scheint gar so zu sein, dass viele Computernutzer Texte tendenziell regelrecht zu vermeiden suchen. Oft wird deshalb behauptet, dass man von einem traditionellen 'Lesen' bei computergestützten Medien gar nicht mehr sprechen könne. Dies betont beispielsweise der US-amerikanische Informationswissenschaftler Jakob Nielsen. Entweder werde der Text ausgedruckt – oder er wird nur noch 'überflogen'. Nielsen behauptet gar (1997), dass längere Texte in der Regel auf dem Computermonitor überhaupt nicht mehr gelesen werden.
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In jedem Fall sind wir ungeduldiger beim Lesen auf dem Bildschirm. Das Gehirn sucht nach Belohnungen. Das ergibt ebenfalls eine Art Stress. Ganz anders, wenn man ein Blatt Papier in die Hand nimmt: Dann schauen wir in der Regel entspannt hin – und nehmen Inhalte anders, letztlich effektiver auf.
Leider wurden die unterschiedlichen positiven wie auch die negativen Aspekte unterschiedlicher Medien bisher zu wenig erforscht. Das ist eigentlich kein Wunder, denn es gibt sehr vielfältige Effekte. Der Inhalt wirkt sich aus, aber auch das jeweilige Medium selbst – und hier gibt es dauernd Neuerungen! Inzwischen wird der stationäre Computer von Handhelds abgelöst, vom Tablet oder vom Smartphone. Und wieder ändert sich das Nutzerverhalten, ändern sich die Medienwirkungen.
Zudem: Medien wirken nicht bei allen Lernern gleich. Schon lange ist bekannt, dass es unterschiedliche Lernertypen gibt, visuelle Lerner, die alles sehen müssen, auditive Lerner, die besser hörend lernen, oder den taktil-kinästhetischen Typ, der sich mit den Händen, zum Beispiel eben schreibend, Wissen aneignet. Ähnlich gibt es auch Typen, die sich mit dem Computer schwer tun – bei anderen dagegen ist das weniger der Fall. Wir haben also mindestens drei Variablen, die sich jeweils gegenseitig beeinflussen: der Lerner, der Inhalt und das Lernmedium – und bei jeder dieser Variablen gibt es wiederum vielfältige Ausprägungen. Gelten die Effekte, die ich soeben bezüglich des Computers beschrieben habe, auch für virtuelle Lernwelten, 3-D-Simulationen, in denen sogenannte 'Serious Games' ganz neue Effekte der Immersion, also des Einbezogenseins ermöglichen? Nun, hier kann man vielleicht wieder ganz neue Wirkungszusammenhänge erwarten. Auch das muss noch erforscht werden (Giessen 2015).
Daher nochmals: Dieser Beitrag soll keine generelle Kritik am Computer sein. Selbst im Kontext des Sprachenlernens, um das es ja hier bei diesen Experimenten geht, gibt es viele sinnvolle Anwendungen. Man kann dank des Internet in Videokonferenzen mit Muttersprachlern kommunizieren. Besonders die Aussprache ist viel besser zu lernen, wenn man mit neuen Medien hört, wie Muttersprachler reden, als wenn man dem Klassenlehrer mit seinem vermutlich ebenfalls eher Deutsch geprägten Akzent lauscht – und dann den Klassenkameraden zuhört, deren Ausspracheprobleme sich von den eigenen kaum unterscheiden. Oder: Man kann sich landeskundliches Wissen aneignen, indem man Bilder betrachtet und Videos. Hier bieten die neuen Medien tatsächlich neue Möglichkeiten. Es geht also nicht darum, Medien zu verdammen.
Es geht darum herauszuarbeiten, wo sie sinnvoll sind – und wo eben nicht. Und warum das so ist. Das Vokabellernen ist offenbar ein Bereich, in dem computergestütztes Lernen kontraproduktiv ist. Es gibt weitere Bereiche. Zumindest ist umgekehrt die naive Idee, dass das Medium ohne Auswirkungen bleibe, sicherlich nicht zu halten. Es kommt nicht nur auf den Wunsch an, Inhalte didaktisch aufzubereiten (Clark 1994) – es kommt auch darauf an, wem man sie wie und mit welchem Medium vermitteln will. Zumindest bei manchen Lerninhalten ist der Computer dabei sogar kontraproduktiv, und es heißt berechtigtermaßen: Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost zum Vokabellernen nutzen.
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Literaturangaben
Aggleton, John P. (1992), The Amygdala: Neurobiological Aspects of Emotion, Memory and Mental Dysfunction. London: Wiley
Aggleton, John P. (2000), The Amygdala: A Functional Analysis. Oxford: Oxford University Press
Aggleton, John P.; Young, Andrew W., (2002), “The Enygma of the Amygdala. On Its Contribution to Human Emotion”. In: Lane, Richard D.; Nadel, Lynn (Eds.) (2002), Cognitive Neuroscience of Emotion. Oxford; New York: Oxford University Press. 12 – 23.
Andersen, Per; Morris, Richard; Amaral, David; Bliss, Tim; O‟Keefe, John (Eds.) (2006), The Hippocampus. Oxford: Oxford University Press
Clark, Richard E., (1994), "Media Will Never Influence Learning". In: Educational Technology Research and Development, No. 42, No. 2, 21 – 29.
Damasio, Anotonio (2003). Looking for Spinoza: Joy, Sorrow and the Feeling Brain. New York, New York: Harcourt.
Eleftheriou, Basil. E. (Ed.) (1972), Neurobiology of the Amygdala. London: Plenum
Giessen, Hans W. (2011), „Medien- und medieneffektabhängiges Vokabellernen“. In: Journal of Linguistics and Language Teaching (JLLT), Volume 2 (2011) Issue 2, 325 – 336.
Giessen, Hans W. (2015), “Serious Games Effects: An Overview”. In: Procedia - Social and Behavioral Sciences, Vol. 174 (2015), (Elsevier) 2240 – 2244.
Giessen, Hans W.; Kostrzewa, Frank; Bachor, Nicole (2016), „Bericht über eine explorative Studie zum medien- und medieneffektabhängigen Vokabellernen“. In: Tinnefeld, Thomas (Hrsg.), (2016), Proceedings 3. SFT, im Druck
Marcinkonienė, Romualda; Zdanytė, Jūratė (2015), “Screen vs Paper in Foreign Language Learning”. In: Studies About Languages No. 27, 106 – 114.
Nielsen, Jakob (1997), How Users Read on the Web. In: https://www.nngroup.com/articles/how-users-read-on-the-web
Phelps, Elizabeth A. (2006), “Emotion and Cognition: Insights from Studies of the Human Amygdala”. In: Annual Review of Psychology, Vol. 57, 27 – 53.
Seifert, Wilfred (1983) Neurobiology of the Hippocampus. London: Academic Press
Traub, Roger D.; Miles, Richard (1991), Neuronal Networks of the Hippocampus. Cambridge: Cambridge University Press
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Hans Giessen studierte an der FU Berlin, der Université de Metz und der Universität des Saarlandes, Saarbrücken. 1992 Promotion. Berufstätigkeit im Medienbereich, Saarbrücken und Luxembourg. Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 2001 Habilitation, 2009 apl. Prof. an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken.