SWR2 Wissen -Gerhard Klas : Der Mindestlohn – Errungenschaft mit Schwächen

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SWR2 Wissen -Gerhard Klas : Der Mindestlohn – Errungenschaft mit Schwächen
Sendung: Dienstag, 24. Mai 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Martin Gramlich
Regie: Felicitas Ott
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

MANUSKRIPT
OT Schöb:
Der Mindestlohn in Deutschland wird Arbeitsplätze kosten. Unsere Studien, unsere Zahlen zeigen, dass wir mit bis zu 570.000 Stellenverlusten in den kommenden Jahren rechnen müssen.
Erzähler:
Ronnie Schöb, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin in einem Internetvideo der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Schöb forschte im Auftrag der Initiative zu den Auswirkungen des Mindestlohns und präsentierte wenige Wochen vor der Einführung des Mindestlohngesetzes zum 1. Januar 2015 seine Ergebnisse. Ähnlich wie Schöb warnten viele Politiker, Verbände und Institute vor der Einführung des Gesetzes. Das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung sprach sogar von 900.000 Arbeitsplätzen, die gefährdet seien.
OT Butterwegge:
Die Horrorszenarios, die gemalt worden sind vor Einführung des Mindestlohns von neoliberalen Ökonomen und Wirtschaftslobbyisten, diese Kassandrarufe sind nicht eingetreten, sondern weder hat der Mindestlohn der Konjunktur geschadet noch dem Arbeitsmarkt, ganz im Gegenteil, durch die vermehrte Kaufkraft, die entstanden ist durch den Mindestlohn, ist die Wirtschaft eher angekurbelt worden, die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit ist weiter gesunken.
Erzähler:
Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaften an der Universität zu Köln, forscht seit vielen Jahrzehnten zur Sozialpolitik und Armutsentwicklung. Er ist dennoch nicht zufrieden mit dem Mindestlohn in Deutschland, von dem nach offiziellen Schätzungen etwa 3,7 Millionen Beschäftigte profitieren.
OT Butterwegge:
Ein Mindestlohn an sich ist das exakt richtige Instrument, um den Niedriglohnsektor, der in der Bundesrepublik Deutschland fast ein Viertel aller Beschäftigen umfasst, um den einzudämmen. Der Mindestlohn der großen Koalition leidet nur unter bestimmten Konstruktionsfehlern.
Ansage:
Der Mindestlohn – Errungenschaft mit Schwächen. Von Gerhard Klas.
OT Kerstin Ranthun:
Ich versteh es einfach nicht, das will mir nicht in den Kopf rein. Weil wir arbeiten doch wie die anderen auch.
Erzähler:
Kerstin Ranthun ist Zeitungszustellerin. Das Politmagazin Report Mainz des SWR hatte sie kurz vor Einführung des Mindestlohns bei ihrer Arbeit begleitet. Sechs Tage die Woche steht sie um zwei Uhr früh auf und legt eine Wegstrecke von zehn Kilometern zurück, bei jedem Wetter. Dafür bekommt sie 300 Euro im Monat. Im letzten Moment vor der Verabschiedung des Mindestlohn-Gesetzes sind ausgerechnet die Zeitungszusteller bis 2017 vom Mindestlohn ausgenommen
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worden – obwohl Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles mehrfach betont hat, es werde keine Ausnahmen geben. Politologe Christoph Butterwegge sieht dafür nur eine Erklärung.
OT Butterwegge:
Die Lobbyarbeit insbesondere natürlich der Zeitungsverleger hat dazu geführt, dass die Zeitungszusteller ein längeren Zeitraum noch zu einem geringeren Lohn beschäftigt werden dürfen, da hat man gesehen, was wirtschaftliche und natürlich auch publizistische Macht, was die bewirken können.
Erzähler:
Es sind nicht die einzigen Ausnahmen: Die Landwirtschaftslobby hat durchgesetzt, dass Saisonkräfte nicht unter den Mindestlohn fallen. Auch in anderen Branchen, in denen vor dem 1.Januar 2015 Löhne weit unter 8,50 Euro gezahlt wurden, hat der Gesetzgeber eine dreijährige Übergangsfrist eingeräumt, um, so heißt es, eine „stufenweise Anpassung an den Mindestlohn zu ermöglichen“: bei Schlachtern, Friseuren, Leiharbeitern, Wäschereidienstleistern für Großkunden, Forstwirtschaft, Textilbranche sowie im Gartenbau. Auch Praktikanten, Jugendliche unter 18 Jahre – also viele Auszubildende – und ehemalige Langzeitarbeitslose dürfen bis zu sechs Monate unter dem Mindestlohn bezahlt werden.
AT: Taxistand
OT 06 Taxifahrer Umsatzbeteiligung:
Es ist ein Stundenlohn da einfach, und zum Teil ist es härter geworden. Weil ... Früher wurden wir ja pauschal bezahlt, nach Umsatz, also ne Umsatzbeteiligung hatten wir gehabt. ]
Erzähler:
Berlin-Kreuzberg, Kottbuser Tor. Am Taxistand steht der 34-jährige Ali Kocak, der seinen richtigen Namen nicht nennen will. Seit neun Jahren fährt er als angestellter Taxifahrer. Eigentlich müsste er den gesetzlichen Mindestlohn erhalten, denn für Taxifahrer gibt es keine Ausnahmegenehmigung. Mehr als 7000 Taxis fahren in Berlin. Aber der Stundenlohn von 8,50 wird in der Regel nicht gezahlt. Stattdessen wird oft getrickst:
OT Taxifahrer App:
Es gibt so eine App. Man muss da draufdrücken, der speichert das ab.
Erzähler:
Ali Kocak spricht hier über etwas, das viele seiner Kollegen als „Totmannschalter“ bezeichnen. In mehreren großen Taxiunternehmen in Berlin müssen Fahrer bei Standzeiten alle drei Minuten eine bestimmte Tastenkombination eingeben, ansonsten rutschen sie in den unbezahlten Pausenmodus. Doch in drei Minuten können die Fahrer selbst zur Arbeit gehörende Dinge wie beispielsweise Geldwechsel in einem Geschäft nicht erledigen, auch keine Toilettenbesuche. De facto heißt das: Standzeiten werden als Pausen deklariert. Und Standzeiten, die rein rechtlich mit zur Arbeitszeit gehören, machen oft einen großen Teil einer Taxi-Schicht aus, so Ali Kocak.
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OT Taxifahrer Standzeit:
Manchmal steht man eine Stunde, manchmal ein Viertelstunde, halbe Stunde. Es ist immer unterschiedlich. Es ist abhängig, wo man steht.
Erzähler:
Es gibt noch weitere Tricks – Taxiunternehmen halten beispielsweise in einem Arbeitsvertrag fest, dass eine fixe Stundenzahl als abgegolten gilt. Alles, was darüber hinaus tatsächlich gearbeitet wird, sind faktisch unbezahlte Überstunden. Manchmal wird das mit Umsatzvorgaben verbunden, die in der abgegoltenen Zeit einfach nicht zu erzielen sind. Taxifahrer Ali Kocak zeigt Verständnis für die Trickserei der Unternehmer.
OT Taxifahrer Pleite gehen:
So wie es der Gesetzgeber vorgeschrieben hat, läuft es nicht und so wird es auch nicht funktionieren. Weil so wie es der Gesetzgeber vorschreibt mit den Arbeitszeiten und den Pausenzeiten, so wird kein Unternehmer überleben können. Auf gut deutsch gesagt, ist der Unternehmer irgendwo verpflichtet, den Staat zu bescheißen.
Erzähler:
Denn die Konkurrenz und der Preisdruck sind hoch. In Berlin haben sich mehrere Taxifahrer bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di organisiert und fordern u. a., die Konkurrenz durch eine Beschränkung der Taxikonzessionen zu reduzieren, um so die Ertragssituation zu verbessern. Auch die Taxigebühren wären eine Stellschraube, meint Christoph Butterwegge.
OT Butterwegge Preise steigen:
Eine Gesellschaft, die so wohlständig ist wie die BRD, die kann es sich leisten oder zumindest die allermeisten Mitglieder dieser Gesellschaft können es sich leisten, auch mehr zu bezahlen für bestimmte z. B. Dienstleistungen. Es wäre völlig falsch jetzt zu erwarten, dass die Preise gleich bleiben können, wenn die Löhne steigen.
Erzähler:
Wie die Taxibranche fällt auch der Logistikbereich eigentlich unter das Mindestlohngesetz. Besonders im Bereich Kurier-, Express- und Paketdienste werden Beschäftigte in vielen Fällen ausgebeutet.
OT Tribunal Anklagebank:
„Sie wundern sich vielleicht, dass die Anklagebank leer ist. Das hat einen Grund … aber wir können hier niemanden zwingen, auszusagen“
Erzähler:
Im Oktober 2015 hatte u. a. die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Rheinland-Pfalz zu einem sogenannten „Tribunal“ über die Arbeitsbedingungen der Branche ins Theater „Mainzer Unterhaus“ geladen. Knapp einhundert Fahrer, Ex-Beschäftigte, und Gewerkschafter waren gekommen. Keiner der eingeladenen Konzernvertreter erschien. Dennoch wurde eine Art Anklage verlesen.
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OT Tribunal Subunternehmen:
Die Unternehmen Deutscher Paketdienst, GLS, Hermes, arbeiten nur mit Subunternehmen, die DHL und UPS mit zunehmender Tendenz. Die Fahrerinnen und Fahrer dieser Subunternehmen befinden sich in ungeschützten Arbeitsverhältnissen und sind häufig der Willkür nicht nur ihres vertraglichen Arbeitgebers, sondern auch des Paketdienstes ausgesetzt.
Erzähler:
Die Paketdienstbranche ist in drei Ebenen aufgeteilt: Die Konzerne, die Subunternehmer und die Fahrer. Die Konzerne verweisen auf die Werksverträge, die sie mit den Subunternehmen geschlossen haben. Die Subunternehmen versuchen, den Kostendruck zu bewältigen und geben den Druck an die Fahrer weiter. Was das für das letzte Glied in der Kette bedeutet, schildert beim Gewerkschaftsabend in Mainz ein Fahrer, der für Subunternehmer verschiedener Konzerne gearbeitet hat.
OT Paketzusteller:
Unter 12, 13 Stunden ging da gar nichts. [..] haben um 5.30 Uhr angefangen, ich habe abends Schluss gemacht um 18.30, 19.30 Uhr. Das fünf Tage in der Woche. Ich bin in den Paketdienst gekommen durch meinen Vater und hab das jetzt insgesamt 10 Jahre gemacht. Der Rücken ist kaputt, noch weiter machen wir das jetzt nicht. Ich war bei trans-o-flex, ich war bei Hermes, ich war bei GLS, am Ende bei DPD. Das war z. T. bei den Kollegen noch schlimmer.
Erzähler:
Dieser Fahrer hat seinen Job inzwischen gekündigt. Es ging nicht mehr gesundheitlich und er wollte für 1200 netto im Monat auch nicht mehr 60 bis 70 Stunden pro Woche unterwegs sein. Damit kam er auf einen Stundenlohn, der bei etwa sieben Euro brutto liegt. Noch schlimmer ergeht es Fahrern, die in Osteuropa angeheuert werden und im Rheinland ihre Touren fahren. Das sogenannte Entsendegesetz garantiert auch ihnen eigentlich eine Bezahlung auf Mindestlohnniveau.
OT rumänischer Fahrer 1:
Übersetzerin:
Da sein müssen wir um fünf Uhr morgens und müssen die Pakete sortieren. Ab acht sollen wir eigentlich ausfahren, aber oft dauert es bis neun Uhr, bis wir die Wagen mit den vielen Paketen beladen haben. Anschließend liefern wir aus. Bis sechs Uhr abends sollen wir zurück im Lager sein. Aber weil wir alle Pakete ausliefern müssen, brauchen wir oft bis um acht oder neun Uhr abends.
Erzähler:
Wie die meisten anderen Zeugen wollen die beiden rumänischen Arbeiter auf dem Gewerkschafts-Tribunal in Mainz weder ihre Namen nennen noch fotografiert werden. Sie berichten mit leisen Stimmen und mit gesenktem Kopf in ihrer Muttersprache, übersetzt werden sie von einer Mitarbeiterin der DGB-Beratungsstelle für Wanderarbeiter. Seit Juli 2015 fahren sie für einen Subunternehmer im Rheinland sechs Tage in der Woche. Versprochen hatte man ihnen eine fünf-Tage-Woche, Arbeitszeiten von sechs Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags, für 1400 Euro netto.
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OT rumänischer Fahrer 2:
Übersetzerin:
Im ersten Monat habe ich 500 bekommen und jetzt 700. Wir wurden hingehalten, das restliche Geld würde kommen.
Erzähler:
Gekommen ist es nie. 700 Euro im Monat für 15 Stunden pro Tag, an sechs Tagen die Woche – das ergibt einen Stundenlohn von nicht einmal zwei Euro. Untergebracht, so berichtet einer der beiden Fahrer weiter, seien sie in der Pension eines Freundes des Subunternehmers, dafür würden 280 Euro direkt von ihrem Lohn abgezogen. Für ein Zimmer, in das gerade ihre zwei Betten passten und das die Männer als „Höhle“ bezeichnen. Dort stünden sie unter ständiger Beobachtung und lebten in völliger Isolation. Einen Internet- oder Telefonanschluss hätten die Zimmer nicht. Insgesamt 20 bis 30 Fahrer seien bei diesem Subunternehmer beschäftigt. Methoden, den Mindestlohn zu unterlaufen gibt es viele, erklärt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge.
OT Butterwegge Mechanismen:
Nehmen wir mal Paketzusteller, da wird dann einfach der Druck erhöht über andere Mechanismen, dass man die undokumentierte Arbeitszeit verlängert, dass man verlangt, dass bestimmte Zeiten ausgenommen sind von der Lohnzahlung, was nicht dem Mindestlohngesetz entspricht, das gilt zum Beispiel auch für Putzkräfte, da werden dann die Flächen vergrößert, die man putzen muss innerhalb einer Stunde es sind Pflegekräfte aus Ost-Mitteleuropa beschäftigt in Privathaushalten, häufig rund um die Uhr, 24 Stunden in Bereitschaft, ... wenn die zu pflegende Person nachts zum Beispiel Unterstützung braucht, dann muss der Schlaf unterbrochen werden, da werden dann die Arbeitszeiten ausgedehnt und eben von Ruhezeiten ausgegangen, die nicht bezahlt werden. ... bei Fernfahrern wird gesagt, die Zeit wo man parkt, wo man schläft, wo man tankt, wo man warten muss mit dem LKW weil vielleicht ein Werkshof überfüllt ist mit anderen LKWs, da wird dann einfach diese Zeit nicht berechnet. Diese Umgehungsstrategien der Unternehmer waren natürlich vorauszusehen und es kommt natürlich darauf an, mehr Kontrollen durchzuführen d. h. auch das entsprechende Personal beim Zoll zu vermehren, um den Mindestlohn zu überwachen, denn wenn er nicht kontrolliert wird, dann ist er natürlich ein Papiertiger.
Erzähler:
Aber weder Verstöße gegen das Mindestlohngesetz, noch gegen Arbeitszeitbestimmungen werden in der Regel geahndet. Davon berichtet auf dem Gewerkschafts-Tribunal in Mainz auch ver.di-Gewerkschaftssekretär Sigurd Holler. Er hat die Rechtsverletzungen, denen die rumänischen Fahrer ausgesetzt waren, bei den zuständigen Behörden gemeldet, beim Gewerbeaufsichtsamt und beim Zoll. Sigurd Holler wäre froh, wenn er überhaupt irgendeine Reaktion auf seine Interventionen bei den staatlichen Stellen erfahren hätte.
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OT Sigurd Holler:
Die Reaktion war: Gewerbeaufsicht: „Der Landesrechnungshof sitzt mir im Nacken, ich darf nicht mehr vor Ort prüfen, die wollen Personal einsparen.“ … Der Zoll hat sich überhaupt nicht gemeldet, keine Reaktion... Das finde ich einen weiteren, noch schlimmeren Skandal, dass alle hinschauen, alle wissen, was da abgeht. Das ist für mich Mittäterschaft. Das ist nicht einfach nur Weggucken, das ist Mittäterschaft- Eigentlich müssten auf der Anklagebank noch ganz andere sitzen, nicht nur die Paketdienste, sondern auch diejenigen, die davon wissen, die Hand draufhalten bzw. nichts dagegen tun (Beifall)
Erzähler:
Aber Gefängnis droht weder Konzernchefs noch Behördenleitern. Auch dort könnten sie einen Eindruck davon gewinnen, wie es ist, unterhalb des Mindestlohns zu arbeiten.
OT Oliver Rast Häftlinge:
Bundesweit sind etwa 65.000 Menschen inhaftiert. Von den 65.000 inhaftierten Menschen, angefangen von U-Haft, sogenannter Maßregelvollzug, Strafhaft, offener Vollzug, befinden sich etwa 40-45.000 Menschen in Beschäftigungsverhältnissen. Das Entlohnungssystem bewegt sich knapp oberhalb der Gratismarke, die Werksmeister stehen hinter dir, weil sie haben dafür zu sorgen, dass Pensumsvorgaben und Akkordbedingungen realisiert werden, und das acht Stunden am Tag.
Erzähler:
Oliver Rast hat selbst eine 3 ½-jährige Haft abgesessen. Während der Haftzeit gründete er im Mai 2014 zusammen mit einem Mitgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Berlin Tegel die Gefangenengewerkschaft. Seine Entlohnung für die Arbeit im Gefängnis lag noch unterhalb derer der rumänischen Paketdienstfahrer: Im Schnitt 1,50 Euro verdienen Gefangene, und in den meisten Bundesländern herrscht in Gefängnissen nach wie vor Arbeitspflicht. Davon profitieren laut einer Untersuchung der Gefangenengewerkschaft nicht nur zahlreiche Landesbehörden, sondern auch Autozulieferer für Audi und Porsche, das Deutsche Rote Kreuz, der Windradhersteller Enercon und der FC Bayern München. Sie alle lassen sozialabgabenfrei in den Gefängnissen produzieren: Kleidung, Fanartikel, Maschinen- oder Autoteile. Anknüpfungspunkte für die Gefangenengewerkschaft von Oliver Rast.
OT Oliver Rast Ansatz:
Mein Ansatz war zu schauen, ob es eine Möglichkeit gibt, vielleicht so eine gewerkschaftspolitische Idee, die ich draußen versucht habe für mich und zusammen mit anderen praktisch werden zu lassen, auf die Haftverhältnisse zu übertragen.
Erzähler:
Gemessen an der Zahl der Mitglieder, die heute bundesweit in der Gewerkschaft organisiert sind, ist Oliver Rasts Initiative erfolgreich gewesen: 850 Mitglieder in 70 Haftanstalten. Aber die Justizvollzugsanstalten weigern sich, die Gewerkschaft anzuerkennen, ganz zu schweigen von deren Forderung nach einer Bezahlung, die dem gesetzlichen Mindestlohn entspricht oder Abgaben in die Rentenkasse. Die Arbeit in Gefängnissen, so heißt es unisono, sei kein reguläres Arbeitsverhältnis,
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sondern diene der Resozialisierung der Gefangenen. Dabei wird dort – argumentiert die Gewerkschaft – nach kaufmännischen und betriebswirtschaftlichen Grundsätzen produziert: Allein die Haftanstalten in Niedersachsen erwirtschaften einen jährlichen Umsatz von 19 Millionen Euro im Jahr. Ein Skandal, meint der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge.
OT Butterwegge Gefängnis:
Dieser Bereich, dass eben im Gefängnis produziert wird, expandiert. Und zwar deswegen, weil so niedrige Löhne da gezahlt werden. Das muss dringend geändert werden, denn auch Gefangene haben ein Recht am Ende ihrer Haftstrafe eben wenn sie entlassen werden … sozial so gestellt zu sein, auch grade was die Altersvorsorge angeht, dass man nicht in Armut landet und deshalb find ich, dass auch in Gefängnissen ein Lohn gezahlt werden muss, der der Würde der Menschen entspricht.
AT VHS:
Was machen sie, wenn sie ihren Pass verloren haben? Bürgeramt. Nein, sie haben ja noch keinen deutschen Pass. Botschaft. Ja genau, sie wenden sich an ihre Botschaft.
Erzähler:
Roderich Grauer gibt Integrationskurse an der Volkshochschule in Köln, unterrichtet Deutsch als Fremdsprache. Seine Schülerinnen und Schüler kommen aus Asien, Afrika, Osteuropa und Lateinamerika.
OT Grauer immer noch dabei:
Ja, ich bin dabei geblieben inzwischen seit 30 Jahren etwa, weil mir die Arbeit immer noch trotz der blöden materiellen Bedingungen immer noch Spaß macht, ich möchte nichts anderes machen. Fühle mich insofern eigentlich wie ein Mitarbeiter der VHS, was mich stört, ist eben die finanzielle Absicherung.
Erzähler:
Als Honorarkraft der VHS Köln ist Roderich Grauer einer von knapp 2,5 Millionen sogenannten Solo-Selbstständigen in der Bundesrepublik. Auch sie werden nicht erfasst vom Mindestlohngesetz. Sie arbeiten im Handwerk, im Dienstleistungsbereich, im Handel oder in der Pflege, aber viele auch mit akademischem Abschluss in der Medien- und Bildungsbranche. Knapp ein Drittel, etwa 700.000, kommen dabei de facto auf weniger als 8,50 Euro Stundenlohn, 100.000 stocken ihr Gehalt mit Hartz IV auf, das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung noch vor der Einführung des Mindestlohns ermittelt.
OT Grauer Stundenplan:
Montag, Dienstag, 10, 14 Unterrichtsstunden, sonst im Schnitt 9, 9-10. ... Das ist reine Unterrichtszeit. ... Wenn es Hausaufgaben zu korrigieren gibt, Prüfungsvorbereitung, dann sitze ich bei einem so einen Kurstermin gerne schon mal abends, nachmittags oder am Wochenende 2 Stunden da und korrigiere.
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Erzähler:
Nominell bekommt Roderich Grauer 21,50 Euro pro Unterrichtsstunde. De facto arbeitet er aber viel mehr als die 40 bis 50 Unterrichtsstunden d.h. 30 bis 38 Zeitstunden in der Woche, auch die Lehrer-Konferenzen sind unbezahlte Arbeitsstunden. Und es ist ein Bruttobetrag. Denn ihre soziale Absicherung müssen die Beschäftigten komplett selbst tragen.
OT Grauer Versicherung:
Viele von uns sind privat krankenversichert, Sozialversicherungen sind natürlich ohne Arbeitgeberzuschuss, ich bezahle zur Zeit private Krankenversicherung, einschließlich Pflegeversicherung etwa 850 Euro im Monat.
Erzähler:
Damit fehlt schon mal ein großer Brocken vom Gehalt, eine private Rentenversicherung kann sich danach kaum einer leisten. Trotz der deftigen Summen für die Krankenversicherung droht im Falle einer längerfristigen Erkrankung für viele ein finanzielles Loch, denn Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt es bei Selbstständigen nicht.
OT Grauer Pech:
Man versucht halt durch angesparte Reservemittel halt solche Sachen, wenn man sich noch ein Bein bricht oder vom Fahrrad fällt irgendwie hinzukriegen, in der Hoffnung, dass es irgendwie funktioniert. Aber eine soziale Absicherung dafür gibt es generell nicht.
Erzähler:
Roderich Grauer ist froh, dass er noch nie langfristig krank war. Angela Bankert von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Köln kennt die Situation der VHS-Honorarkräfte gut.
OT Angela Bankert:
Das Problem ist zum einen, dass die Dozentenhonorare schon seit längerer Zeit nicht mehr erhöht worden sind, wenn dann nur jetzt vor kurzem ganz minimal und dass die Kolleginnen und Kollegen im Augenblick 21,50 Euro bekommen die Stunde, d. h. aber für die Unterrichtsstunde, d. h. es ist ein Bruttostundensatz, von dem sie sich komplett versichern müssen, Steuern bezahlen müssen, Arbeitgeberbeitrag auch, im Krankheitsfall Lohnfortzahlungen usw., also es ist, wenn man dann aufs Nettogehalt kommt von ungefähr 1000 Euro dann kann man eigentlich sagen, dass es knapp unterm Mindestlohn noch ist, dass der damit ein Stück weit unterlaufen wird.
OT Butterwegge umgehen:
Diesen Trend zu Scheinselbstständigkeit, zu Werkverträgen, zu Honorarverträgen gab es ja auch schon vor dem Mindestlohn aber das ist natürlich auch ein Bereich mit dem man ausweichen kann, weil dann eben kein Beschäftigungsverhältnis besteht, indem der Mindestlohn gezahlt werden muss. Deshalb muss es dringend ein Gesetz geben, dass den Arbeitsmarkt auch in der Form reguliert, dass Leiharbeit und Werkverträge eng begrenzt werden, wenn nicht abgeschafft werden, weil sonst damit natürlich immer die Möglichkeit besteht, dass man Mindestlöhne umgehen kann.
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Erzähler:
Davon ist der Gesetzgeber noch weit entfernt. Und der Armutsforscher Christoph Butterwegge macht auf ein weiteres Problem des Mindestlohns aufmerksam.
OT Butterwegge Erhöhung:
Selbst wenn man Vollzeit- erwerbstätig ist, reicht der Mindestlohn in der Höhe von 8,50 nicht aus um würdig zu leben, erst recht nicht um eine Familie zu ernähren. Er ist, wenn Sie so wollen, eine Armutsfalle. Der Mindestlohn müsste mindestens 10 Euro betragen, wenn er außerdem auch noch die Menschen befähigen würde, im Alter gesichert zu sein, dann müsste er sicherlich 11,50 betragen, das ist nötig, damit man selbst nach einem langen Erwerbsleben auf der Höhe dieses Mindestlohns … nicht die Grundsicherung im Alter, die frühere Sozialhilfe, in Anspruch nehmen muss.
Erzähler:
Eine Forderung, die auch von Gewerkschaften mitgetragen wird. 2017 soll die Höhe des Mindestlohns von der Mindestlohnkommission neu bestimmt werden. Die ist paritätisch besetzt mit Mitgliedern aus dem Arbeitnehmer- und Arbeitgeberlager und soll sich an der Tarifentwicklung orientieren. Dabei käme aber wohl nur eine minimale Erhöhung von etwa 50 Cent pro Stunde heraus. Ingo Kramer, Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände, ist schon diese Erhöhung zu viel – er bezeichnet sie als, Zitat, „völlig unverständlich und illusorisch“. Die Industrie- und Handelskammer in Sachsen-Anhalt fordert sogar, dass eine, Zitat, „Senkung des Mindestlohnes nicht tabuisiert werden“ dürfe, denn damit könnten „Anreize für Neueinstellungen“ geschaffen werden.
Immerhin: Den Vorschlag, Flüchtlinge vom Mindestlohn auszunehmen, hat die CDU wieder zurückgezogen.
OT Butterwegge Flüchtlinge:
Start Die Flüchtlinge zum Beispiel vom Mindestlohn auszunehmen hieße, dass man diese Menschen nachdem sie das Anerkennungsverfahren durchlaufen haben, auf dem Arbeitsmarkt im Grunde eine Zweiklassengesellschaft bilden würden. Das wäre völlig fatal, weil es auch der AfD und Pegida neue argumentative Munition beschaffen würde, denn dann könnten die natürlich argumentieren, guckt mal hier, die Flüchtlinge nehmen euch, dadurch dass sie weniger als den Mindestlohn bekommen müssen, die Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich weg, das wäre ganz verheerend.
Erzähler:
Verheerend findet Butterwegge auch, dass mehr als 1,2 Millionen Beschäftigte in Deutschland trotz Mindestlohn noch Sozialleistungen beziehen müssen, weil sie mit ihrer Arbeit zu wenig verdienen. Das heißt, die Allgemeinheit stockt die niedrigen Löhne vieler Unternehmen auf.
OT Butterwegge Subventionen:
Wir müssen erneut Milliarden Euro staatlicherseits an aufstockenden Arbeitslosengeld II Leistungen bezahlen, um niedrige Löhne der Unternehmer zu subventionieren. So wie Hartz IV dazu geführt hat, dass eben seit seiner Einführung 75 Milliarden Euro an die Aufstocker gezahlt worden sind, eigentlich Subventionen an Unternehmen, die Hungerlöhne zahlen.
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Erzähler:
Der Mindestlohn ist ein wichtiges, politisches Instrument, das die Welt der Arbeit wieder in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt, egal ob Paketdienst und Taxifahrer, Zeitungszusteller, Integrationslehrer oder Reinigungskraft. Er mobilisiert Menschen, die sonst am Rande der Gesellschaft stehen – bis hin zu Wanderarbeitern und Häftlingen. Genau darauf setzt der Armutsforscher Christoph Butterwegge.
OT Butterwegge Bewusstsein:
Die Höhe des Mindestlohns ist eine politische Grenze, über die in der Gesellschaft gestritten werden muss und das ist für mich auch ein wichtiger Bestandteil des Mindestlohns, nicht nur im Gesetz zu stehen, sondern auch das Bewusstsein der Menschen zu beeinflussen … und in der Gesellschaft ein Bewusstsein wachsen zu lassen, dass man von seiner Hände Arbeit würdig leben können muss.
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