SWR2 Wissen: Aula - Matthias Burchardt: Wir machen alles alleine . Die Krise selbstgesteuerten Lernens
Diskurs SWR2
Die Krise selbstgesteuerten Lernens
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Schlussfolgerung, vorangestellt:
< Im selbstgesteuerten Lernen erscheinen die Verhaltenskompetenzen in der 'Erinnerungsmappe' der Lernenden maschinenähnlich - bis zum Schulschluss und stellen so zugleich die 'Bewerbungsmappe' dem Arbeitsmarkt bereit:
Das neoliberal tendierte Lernziel ist so erreicht >. m+w.p16-3
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Sendung: Sonntag, 13. März 2016
Redaktion: Ralf Caspary - Produktion: SWR 2016
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
Autor
Matthias Burchardt lehrt am Institut der Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Schwerpunkte sind: Allgemeine Pädagogik, Anthropologie, Archäologie des Zeitgenössischen.
ÜBERBLICK
Die neue Kultur des selbstständigen Lernens verändert vieles: Lehrer werden Lernbegleiter, Unterrichtsmaterial dient zur Impulsgebung, der Schüler wird zum selbstverantwortlichen Wissensmanager, der sich seine Unterrichtspakete und Lerneinheiten ebenso zusammenstellt. Das klingt wunderbar, doch funktioniert es auch? Der Kölner Bildungsforscher Dr. Matthias Burchardt hat große Zweifel.
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Wir machen alles alleine, oder? Das selbstgesteuerte Lernen".
Diese Art des Lernens wird als Innovation verkauft, mit der man in Zeiten der Digitalisierung, in Zeiten, in denen man das Lernen lernen soll, überleben kann. Das selbstgesteuerte Lernen schickt den traditionellen Lehrer in Rente und setzt auf den Lernbegleiter und Coach, der Schüler wird zum Manager seiner selbst, der eigenständig seine Lernfortschritte dokumentiert und evaluiert, der sich seine Unterrichtspakete selbst zusammenstellt.
Funktioniert das? Ist das sinnvoll? Nein, sagt Dr. Matthias Burchardt, Bildungsforscher von der Universität Köln.
Matthias Burchardt:
Kennen Sie das Schläferargument? Nein? Stellen Sie sich folgendes Experiment vor: Ein Mensch wird für 200 Jahre in Tiefschlaf versetzt. Heute, im Jahr 2016, wacht er wieder auf. Was würde wohl geschehen? Er würde die Welt kaum wiedererkennen! Wie sehr würde er sich wundern über unsere modernen Verkehrsmittel, unsere digitale Kommunikation, unsere medizinische Versorgung usw. Ganz anders aber, so das Argument, wäre es, wenn er dann in eine Schulklasse käme. Dem Schläfer wäre alles noch herrlich vertraut: Dort findet sich jemand, der etwas von einer Sache versteht, der Lehrer. Er versucht, mit mehr oder weniger Erfolg, dies seiner Klasse zu vermitteln. Er zeichnet an die Tafel, er verweist auf das Schulbuch, er erklärt im gemeinsamen Gespräch. Alles beim Alten! Doch wie kann das sein? Haben wir im Bildungswesen den Anschluss verpasst, ist unser Unterricht schrecklich rückständig, die Reform längst überfällig? Das Schläferargument wirkt auf den ersten Blick bestechend. Man sagt, es sei Zeit für etwas Neues – für eine sogenannte "Neue Lernkultur". Diese besagt:
1. Lernbegleiter und Lernbegleiterinnen seien besser als Lehrer und Lehrinnen
2. Selbstgesteuertes Lernen sei besser als Unterricht
3. Heterogen gemischte Gruppen seien besser als eine äußere Differenzierung nach Leistung
4. Diese neue Lernkultur hebe soziale Ungleichheit auf und bringe
5. Sie bringen zudem noch bessere Lernergebnisse
Und so entschließen sich Landesregierungen und Schulleitungen zunehmend, die alte Lehrkultur zugunsten einer neuen Lernkultur abzuwickeln – auch wenn Skeptiker das Schläferargument mit dem Hinweis kontern, dass auch die Fortpflanzungskultur in den Ehebetten in den letzten 200 Jahren relativ ähnlich geblieben sei, ohne dass sich die Menschheit dadurch Nachwuchsprobleme eingehandelt hätte.
Was muss man sich unter Neuer Lernkultur eigentlich vorstellen? An den meisten Schulen gibt es einen Tag der offenen Tür, an dem man sich ein Bild machen kann, wie dort pädagogisch gearbeitet wird: Nach aufwendigen Powerpoint-Folien, auf denen zunächst in der Aula Schulkonzept und -leitbild angepriesen werden, gibt es anschließend die Gelegenheit, die Kinder während der Arbeit zu beobachten. Hier erleben viele Eltern eine Überraschung: Schon räumlich erinnert wenig an die
Schule, wie man sie aus der eigenen Kindheit kennt. Das Klassenzimmer wird geöffnet und um Arbeitsplätze im Flur oder durch sogenannte "Lernateliers" oder "Lernbüros" ergänzt. Auch den alten Stundenplan, der die Folge der Fachstunden darstellt, gibt es nicht mehr. Anstelle der Fächer stehen immer häufiger Methoden bzw. Sozialformen wie "Lernzeit", "aktive Pause", "individuelles Arbeiten", "Teamarbeit" oder "Coaching" in den Kästchen.
Diese Form der Strukturierung wird als "Rhythmisierung" dargestellt und verspricht eine optimierte Pädagogisierung der kindlichen Leistungsfähigkeit auch unter den Bedingungen des Ganztags. Der Stoff begegnet in Form von Lernpaketen, die selbständig bearbeitet werden sollen, ohne ständig von Lehrer oder Lehrerin abhängig zu sein. Stattdessen wird die Nutzung von digitalen Medien in der neuen Lernkultur ausgebaut: Die alte Kreidetafel weicht dem internetfähigen Smartboard, Tablets oder PC-Stationen bieten Recherchemöglichkeiten im Netz oder stellen individuelle Lern- oder Testsoftware zur Verfügung. Dort, wo die Schulausstattung nicht allzu üppig ist, wird das Konzept "BYOD" erprobt: "Bring your own device!" – was nichts anderes bedeutet, als dass die Eltern die Geräte anschaffen, die dann in der Schule genutzt werden.
Um die Lernfortschritte der Kinder zu ermitteln, werden diese in Kompetenzrastern verzeichnet: Auf einer Matrix kleben farbige Punkte, die ganz individuell anzeigen, wo sich das einzelne Kind momentan befindet und welches Kompetenz-Ziel es erreichen soll. Dazu benötigen die Kinder Lernstrategien. Sie sind angehalten, ein Lerntagebuch zu führen, in dem sie sich selbst evaluieren. Sie sollen sich hinsichtlich ihrer Motivation und der angewandten Techniken optimieren, sollen Tagesziele formulieren, ihren Zeitaufwand dokumentieren, Erfolge und Misserfolge der Woche niederschreiben. Auf diese Weise soll das Lernen möglichst transparent und überprüfbar werden.
Lehrer und Lehrerinnen heißen an diesen Schulen "Lernbegleiter" oder "Lernbegleiterinnen", da sie weitgehend in den Hintergrund treten. Sie erarbeiten und arrangieren stattdessen das Lernmaterial, die sogenannten Lernpakete, und kontrollieren, ob die Schüler und Schülerinnen ihr Arbeitspensum erfüllen. In Coaching-Einheiten können sie dem Selbstlerner ein ganz individuelles Feedback bezüglich seiner Lernproduktivität geben und auch Hemmnisse im Bereich der Motivation beseitigen.
Wer eine solche Schulvorführung besucht, ist meist überrascht, wie still und diszipliniert die Kinder ihre Arbeitsaufträge vollziehen – vor allem im Vergleich zur lebhaften und gelegentlich unübersichtlichen Klassensituation des traditionellen Unterrichts. Die Neue Lernkultur gilt unter Politikern als ein Allheilmittel gegen sozialpolitische Probleme und Erziehungswissenschaftler sehen in ihr die Einlösung reformpädagogischer Utopien von der individuellen Freiheit des Lernens in sozialer Gemeinschaft.
Im Zentrum der Neuen Lernkultur steht ein verändertes Bild des Schülers und der Schülerin sowie des Lehrers und der Lehrerin. Der Lehrer wird hier vieler seiner pädagogischen Aufgaben entkleidet, die mit dem traditionellen Unterricht verknüpft waren: die Inhalte jeweils passgenau für den Lerngang der Klasse vorzubereiten, geeignete Methoden auszuwählen, die zum Thema und den jeweiligen Schülern passen, Stundenverläufe zu planen, Gespräche zu moderieren, zu disziplinieren, zu
bewerten, didaktische Überlegungen über den Sinn des Stoffes anzustellen, um diesen ggf. einer Werte-Diskussion zuzuführen usf. Wenn aber der Lehrer möglichst keine direkten Lehr-Aufgaben mehr wahrnehmen soll, müssen diese Funktionen übertragen werden. Wer soll sie übernehmen? Die Schüler und Schülerinnen. Sie werden umgewandelt zu selbstgesteuerten oder -organisierten Lernern. Auf sie wird abgeladen, was eigentlich in die Zuständigkeit und auch die Verantwortung der Lehrer und Lehrerinnen fällt. Sie müssen nicht nur für das Lernen selbst, sondern auch für die Organisation des Lernens aufkommen.
Zur Rekonstruktion der Herkunft des Modells genügt schon ein Blick auf die Sprache, in der über Kinder gesprochen wird, die die Bewohner der neuen Lernwelten sein sollen. Dazu ein Auszug aus einem einschlägigen Text aus einem Schulversuch in NRW, der zum Vorbild für die Schulgesetzgebung geworden ist und sich dabei auf die Modelle des Pisa-Konsortiums bezieht: "Dem lebenslangen Lern- und Bildungsprozess liegt also das Leitbild einer selbständigen Lernerin bzw. eines selbständigen Lerners zugrunde. Selbständig Lernende sind in der Lage, ihr eigenes Lernen zu regulieren, sich selbständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen. Ferner halten sie ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie. Sie sind in der Lage, ihre Lernziele und Lernstrategien auch in komplexen sozialen Beziehungen gemeinsam mit anderen Personen zu entwickeln, umzusetzen und kritisch zu hinterfragen. " Auf den ersten Blick klingen diese Ausführungen nach guter alter aufklärerischer Tradition. Selbständigkeit, verstanden als Mündigkeit, gehört seit langem zu den wenig umstrittenen Zielen von Bildung. Schließlich bedeutet nach Kant, aufgeklärt zu sein, sich seines Verstandes ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen. Doch hebt Kant hervor, dass dieses Ziel keinesfalls ohne die Anwendung von pädagogischem Zwang erreicht werden kann. Das Lernen von Selbständigkeit und selbständiges Lernen sind daher zwei grundsätzlich verschiedene Dinge. Natürlich gibt es vieles, was Kinder ohne explizite Belehrung durch Erwachsene lernen können. Gleichwohl muss bezweifelt werden, dass das Ziel der Selbständigkeit allein auf dem Wege des selbständigen Lernens erreicht werden kann. Um es auf den Punkt zu bringen: Es bedarf auch der fachlichen und persönlichen Autorität des Lehrers oder der Lehrerin, damit die Selbständigkeit der Schüler und Schülerinnen gedeihen kann.
Zu erklären wäre weiterhin, was denn überhaupt "Lernen" ausmacht. Die zitierten Autoren stellen sich aber gar nicht die Frage, was Lernen tatsächlich ist, sondern formulieren stattdessen ein "Leitbild" (Höfer/Madelung 2006, 19) von dem, was Lernen sein soll. Mit anderen Worten: Der hier beschriebene Typus von Schüler oder Schülerin und der Stil des Lernens existieren nicht, sondern sollen in den Einrichtungen erst systematisch produziert werden. Kinder sollen "Lernen lernen", schallt es durch die Schulen – eine zunächst absurde Formulierung, da ja immer schon vorausgesetzt wird, was als Ergebnis versprochen wird, nämlich: Lernen-Können. Der logische Widerspruch löst sich jedoch vor dem Hintergrund der oben skizzierten politischen Programmatik auf: Das Lernen der Kinder soll für und durch die Neue Lernkultur umprogrammiert werden.
Eine weitere sprachliche Auffälligkeit findet sich in der Rede vom "Lerner" bzw. von der "Lernerin". Im Unterschied zu den Ausdrücken "Kind" oder "Schüler" ist der "Lerner" nicht in eine komplementäre soziale Beziehung eingebettet. Das Kind hat
Eltern, der Schüler hat Lehrer, der Lerner hat Strategien und Probleme, die er im Austausch mit anderen optimal lösen soll.
Streng genommen ist die hier konstruierte Figur des Lerners auch alterslos. Das Modell soll für alle Lebensalter gelten, denn es geht ja um lebenslanges Lernen. Offenkundig gelten die Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie oder aus der Gerontologie nicht mehr, nach denen es je Wandlungen des Lernens in Abhängigkeit von dem jeweiligen Lebensalter gibt. Sind der Säugling oder der Greis also nur defizitäre Fehlformen des selbstgesteuerten Lerners, weil ihnen die nötigen Lernstrategien noch nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen, weil ihnen Problemlösungen nur mit Hilfe von anderen gelingen?
Wenn nun der Lerner kein Kind und kein Schüler mehr sein darf, wie sieht dann sein Innenleben aus? Es ähnelt einer Schaltzentrale aus der Roboter-Technik. Schließlich soll er in der Lage sein, das (Zitat) eigene "Lernen [zu] regulieren, [...] sich selbstständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen." (Höfer/Madelung 2006, 159). Die Lerner – heißt es weiter – "halten […] ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie." (ebd. 19).
Das hier verwendete Vokabular entstammt dem technischen Regelkreis der Kybernetik. Was ist damit gemeint? Kybernetik bezeichnet die technische Verschränkung von Mess- und Regelfunktionen. Dies kann man am Beispiel eines Heizungsthermostats erläutern. Ohne Thermostat müsste man die Heizung jeweils selbst an- oder abschalten, wenn es zu warm oder zu kalt ist. Mittels Regeltechnik kann der Nutzer einmalig eine Zieltemperatur (Soll-Wert) einstellen, die dann durch Selbstregulation erreicht bzw. gehalten werden soll. Eine Verrechnungsstelle gleicht zu diesem Zweck den vom Messfühler erhobenen Ist- mit dem Sollwert ab und hemmt beim Erreichen des Sollwertes den weiteren Warmwasserzulauf bzw. öffnet ihn, sobald der Sollwert unterschritten ist. Damit gelingt es dem System, selbstregulierend auf variable Außenbedingungen zu reagieren und die Raumtemperatur konstant zu halten.
Entscheidend sind dabei nicht nur die einzelnen Strukturelemente des Messens und der Steuerung, sondern auch deren informationelle Verknüpfung durch eine Feedbackschleife, denn das kybernetische System gewinnt nicht nur Informationen über die externen Bedingungen (z.B. die Raumtemperatur) oder wirkt durch Steuerung auf diese ein, sondern speist auch die Informationen über die Resultate des eigenen Wirkens wieder in das System ein.
Was hier abstrakt klingt, lässt sich nun relativ schlicht auf den Lerner übertragen:
Wie ein kleiner Lernroboter navigiert der selbstgesteuerte Lerner über die Klippen der Lernumgebungen, die ihm durch Lernpakete und Wochenpläne Aufgaben mit auf den Weg geben. Er steuert dabei die Ziele an, die im Raster vorgegeben sind. Er vergleicht Ist- und Soll-Werte seiner Kompetenzen, wählt und reflektiert seine Lernstrategien, bis er die Lernziele erreicht. Defizite in der Selbststeuerung sollen mittels Feedback in einem Coaching-Gespräch beseitigt werden.
Der Regelkreis gilt aber nicht nur für die intellektuelle Seite des Lernens, sondern auch für die Motivation der Lerner: (Zitat) "Auf der motivationalen Ebene zeichnen
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ich elb tregulierte erner dadurch au , da ie in der age ind, ich elb t t ndig iele u et en, ich elb t u motivieren, ernvorg nge gegen ber konkurrierenden andlung w nschen abzuschirmen und Erfolge und Misserfolge angemessen zu verarbeiten." (Höfer/Madelung 2006, 23) Selbstreguliert Motivation herzustellen zu müssen, ist gleichwohl etwas ganz anderes, als seine Motivation aus einem reizvollen Stoff oder einer pädagogischen Beziehung zu einer fordernden und ermutigenden Person zu schöpfen. Der selbstregulierte Lerner hat sich im Extremfall auch für monotone Inhalte im beziehungsfreien Raum zu begeistern.
Als kurzes Zwischenfazit sollte festgehalten werden:
1. Der selbstgesteuerte Lerner ist kein Modell, das beschreibt, wie Kinder lernen. Kinder sollen erst zum selbstgesteuerten Lerner umerzogen werden.
2. Es handelt sich um ein anti-humanistisches, im Wortsinne un-menschliches Modell, weil es vom Kind verlangt, sich wie eine kybernetische Maschine zu verhalten. Dabei werden wesentliche Momente des Mensch-Seins, die traditionell als Kernbestände von Bildung galten, verkürzt oder gar verstümmelt:
Selbsterkenntnis, wie sie schon das Orakel von Delphi forderte, ist etwas anderes als das Messen der eigenen Leistungsdaten. Urteilskraft, die zu üben uns der Philosoph Immanuel Kant aufgegeben hat, bedeutet nicht, Soll- und Ist-Werte miteinander abzugleichen. Sprache, die etwa für Humboldt eine Weltansicht bildet, kann nicht reduziert werden auf ein Signalsystem, das Steuerungsimpulse und Messwerte kommuniziert. Würdigung oder Kritik geschehen doch als personale Begegnung in Auseinandersetzung mit einer Sache, der technische (!) Begriff des Feedbacks vermag dies kaum abzubilden. Lernen schließlich ist etwas ganz anderes als der strategische Erwerb und die Optimierung von Anpassungsfunktionen. Und das pädagogische Ziel der Mündigkeit schließlich beschreibt etwas anderes als Selbstregulation.
In der Summe wird deutlich, dass die zwischenmenschliche und insbesondere die pädagogische Wirklichkeit durch eine kybernetische Beschreibung zwangsläufig verfremdet wird. Dies ließe sich noch in Kauf nehmen, weil der Preis nur im Verkennen der Wirklichkeit liegt. Wie deformierend müssen diese Modelle erst wirken, wenn Menschen danach geformt werden?
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist das Selbstgesteuerte Lernen weiter in mindestens zwei Hinsichten zu befragen: Zum einen wäre zu prüfen, ob es die Hoffnungen und Versprechen halten kann, die politisch und pädagogisch-praktisch geweckt wurden. Kurz: Führt diese Methode zum Erfolg? Zum anderen stellt sich die Frage: Um welchen Preis würde dieser Erfolg erreicht? Welche kulturellen und humanen Kollateralschäden entstehen? Mit dem Verlust von Mündigkeit, Urteilskraft und Selbsterkenntnis, mit der sozialtechnologischen Verkümmerung von Sprache und Lernen und dem Ausblenden der pädagogischen Lehr-Lern-Beziehung werden schließlich die Wurzeln der europäisch-aufklärerischen Tradition zur Disposition gestellt.
Inzwischen gibt es breite Erfahrungsberichte zur Neuen Lernkultur. Ich selbst habe umfangreiche Hintergrundinterviews mit Lehrern und Lehrerinnen geführt. Viele Schulen, die sich im Bereich der Neuen Lernkultur profilieren, klagen über eine hohe Arbeitsbelastung. Obwohl zusätzliche Ressourcen, also Zeit bzw. Personal, zur
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Verfügung gestellt werden, bedeutet die Produktion von Lernpaketen für das selbstgesteuerte Lernen einen erheblichen Mehraufwand, nicht zuletzt, weil unterschiedlichste Niveaus innerhalb derselben Klasse bedient werden müssen. Dies führt dazu, dass pädagogische Kernaufgaben wie etwa Leistungskontrolle oder Bewertung nur noch oberflächlich wahrgenommen werden können. Ein internes Gutachten über eine Modellschule berichtet: "Den Begleitforscherinnen fiel auf, dass die hier zur Anwendung kommenden Beurteilungskriterien sich häufig an Oberflächenmerkmalen ausrichteten (z.B. Vollständigkeit, Seitenzahlen, Deckblattgestaltung, formale Richtigkeit in der Orthografie, Grammatik und Interpunktion) und die inhaltliche Qualität der Schülerarbeiten hinten angestellt wurde. Nach Durchsicht bereits bewerteter Lernpakete zeigte sich überdies, dass trotz zahlreicher Fehler und Mängel nahezu keine Korrekturzeichen vorzufinden waren.
Für manche Schüler oder Schülerinnen ist die Selbstregulation eine Überforderung, die aktive Lernzeit sei dementsprechend gering und das Maß an Störungen hoch: (Zitat) "Während ein Teil der Schülerinnen und Schüler bestrebt ist (selbst mit bestehender Unruhe und u.U. fehlender Klarheit), die ausgewiesenen Arbeitsaufträge zu erfüllen und einen Lernfortschritt zu erzielen, mangelt es anderen an der nötigen selbstregulativen." (Internes Gutachten WissGem, 23f)
Dieses Beispiel soll nun keinesfalls den überforderten Lehrerinnen und Lehrern einen Vorwurf machen. Womöglich sind diese Missstände durch mehr Personal oder organisatorische Änderungen abzustellen. Was daran aber erneut deutlich wird, ist, dass die Neue Lernkultur Schülern und Schülerinnen neben dem Lernen selbst zusätzlich auch die Lernorganisation aufhalsen. Dies stellt für viele Kinder eine Überforderung dar, nicht weil sie dümmer wären als andere, sondern weil ihnen Unterstützungsressourcen und die anerzogene Selbständigkeit seitens des Elternhauses fehlen. Mit Bourdieu gesprochen entscheidet das "kulturelle Kapital" der Herkunft auch hier wieder über den Erfolg in diesem System. Soziale Ungleichheit wird also nicht aufgehoben, sondern zementiert, wenn der Autodidakt zum Idealbild des Schülers erhoben wird.
Vielleicht gelingt es also nicht, auf diese Weise Bildungsgerechtigkeit und soziale Gleichheit herzustellen – aber immerhin lernen die verschiedenen Schüler und Schülerinnen doch "gemeinsam", könnte man einwenden. Es ist allerdings anzuzweifeln, ob Gemeinschaft schon dadurch realisiert wird, dass sich Zwangs-Autodidakten im selben Gebäude aufhalten. Die bildungspolitische Marketingformel vom "Länger gemeinsam Lernen" muss sich die Frage gefallen lassen, worin denn das Verbindende, Gemeinsame bestehen soll, wenn das Lehr-Lern-Verhältnis und die Klassengemeinschaft zunehmend aufgelöst werden.
Womöglich kommt es dazu, dass das selbstständige Lernen gerade nicht zu einem Lernen von Selbständigkeit führt, wie es dem bewährten Schulsystem doch durchaus geglückt ist, und dass Gleichheit und Gemeinschaft eher verhindert als verwirklicht werden.
Welche Interessen sind eventuell noch mit der Einführung dieser Pädagogik verknüpft? Es bedarf kaum großer Phantasie, um sich vorzustellen, dass es Unternehmen gibt, z.B. im Bereich der IT-Branche, die gut darauf vorbereitet sind, in die Lücke zu springen, die der degradierte Lehrer hinterlässt. Vermutlich wird man es
als Entlastung empfinden, wenn die Lernpakete seitens der Verlage produziert und als Lernsoftware präsentiert werden. Unter dem Schlagwort "Digitalisierung des Lernens" läuft derzeit eine umfangreiche PR-Kampagne für den Einsatz von Digitalen Geräten in Schulen.
Vielleicht gibt es aber auch über die unmittelbar ökonomischen Interessen hinaus eine politische Agenda mit dem Ziel einer Steuerung durch Selbststeuerung. Dies lässt zumindest der Bildungsbericht der Bundesrepublik Deutschland erahnen, der als erstes Leitziel aller Bildungsbemühungen im Lande "individuelle Regulationsfähigkeit" formuliert (Bildungsbericht 2014, 22), es folgen "Teilhabe" und "Humanressourcen". Eine seltsame Formulierung, die den schon zuvor analysierten Abbruch mit der aufklärerisch-emanzipatorischen Tradition nun auch im Raum des Politischen vollzieht. Der Gedanke, politisches Handeln durch technisches Steuern zu ersetzen, hat seine Vorgeschichte im Zweiten Weltkrieg, wo die Kybernetik in ihrem strategischen und wissenschaftlichen Wert entdeckt hat: Norbert Wiener, der als Vater dieses Modells gilt, konstruierte die "Predictor Machine", "eine Maschine zur Vorhersage und Kontrolle der Positionen feindlicher Flugzeuge zum Zweck ihrer Vernichtung" (Tiqqun 2007, 22).
Die Konstruktion kybernetischer Maschinen und die Erschließung und Verarbeitung der militärischen, ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit im Medium der Information erwiesen sich als kriegsentscheidende Faktoren. Nicht nur für die Produktion von effektiven Waffen oder für die effiziente Nutzung von Ressourcen zeigte sich schnell die Überlegenheit der Kybernetik, sondern auch im Bereich der Aufklärung (Überwachung, Spionage, Dechiffrierung) und der kommunikativen Vernetzung. Nicht zuletzt handelt es sich auch beim Internet ursprünglich um eine Militärtechnologie.
In den US-amerikanischen Macy-Konferenzen von 1946 bis 1953 vollzog sich nach Kriegsende die diskursive Entgrenzung der Kybernetik als Wissenschaft. Während sie anfänglich nur technische Geräte zum Thema hatte, erhob sie fortan einen theoretischen Totalanspruch und wurde als Universaltechnik gepriesen: von der Steuerung der Mondlandefähre und der Regulation der Sauerstoffsättigung des Blutes, über das Bildungswesen bis hin zum Zubereiten einer Mahlzeit – alles sollte dem Regelkreis unterliegen. Damit wurde auch die Grenze von Natur und Kultur nivelliert und der Bereich des Politischen für den Zugriff der Soziokybernetik erschlossen. Verantwortlich für die Installation dieser Herrschaftstechnik waren außer Wiener und dem Mathematiker von Neumann der Biophysiker Heinz von Foerster, der Anthropologe Gregory Bateson und auch die Ethnologin Margaret Mead. Schließlich waren neben den Wissenschaftlern auch Geheimdienstvertreter an den Macy-Konferenzen beteiligt.
Der Psychologe Kurt Lewin, ebenfalls ein Teilnehmer, entwirft ein kybernetisches Steuerungsmodell für offene Gesellschaften, in welchem einerseits die Illusion der Freiheit aufrecht erhalten wird, andererseits mittels Regeltechniken absolute Kontrolle herr cht: ( itat) "In vielen Bereichen de o ialen Management […] fehlen Wegweiser, die anzeigen, wo genau wir stehen und in welche Richtung wir uns mit welcher Geschwindigkeit bewegen. In der Folge sind die Akteure ihrer selbst un icher […]. Sie ind außer tande u 'lernen'. In einem Bereich, in dem objektive ei tung tandard fehlen, kann kein ernen tattfinden. […] Eine effi iente Steuerung sozialen Handelns setzt voraus, daß Verfahren zur Tatsachenfeststellung
entwickelt werden, die es erlauben, Beschaffenheit und Position des sozialen Ziels sowie Richtung und Ausmaß der Bewegung, die aus einer gegebenen Handlung folgen, mit ausreichender Genauigkeit zu bestimmen. Um effektiv zu sein, muß diese Erhebung des Ist-Zustandes mit dem Ablauf des Handelns verbunden sein: Sie muß Teil eines Feedback-Systems sein, das eine Aufklärungsabteilung der Organisation mit jenen Abteilungen verbindet, welche die Handlungen ausführen."
(Lewin 1947, 150)
Dass diese Programmatik in den Zeiten von Big Data und Digitaler Totalüberwachung in Echtzeit perfektioniert werden kann, liegt auf der Hand. Die Aufforderung zur Selbststeuerung passt auf eine zynische Weise ideal zum Abbau der sozialen Solidaritäts- und Sicherungssysteme: So wie der Selbstgesteuerte Lerner schonend mit der Ressource Lehrer umgeht, so fällt der selbstgesteuerte Bürger der Gemeinschaft nicht zur Last: Die Themen seiner sozialen Absicherung, seiner Bildung, seiner Gesundheit sind allein sein Problem. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Armut sind dann Konsequenzen mangelhafter Selbststeuerung, die er selbst optimieren muss. Dabei gerät völlig aus dem Blick, dass über Erfolg und Misserfolg auch die sozialen Voraussetzungen und die Spielregeln eines selektiven Lebensumfeldes entscheiden.
Der selbstgesteuerte Mensch aber ist ein Zwilling des "Unternehmerischen Selbst" (Bröckling 2007), ein Marktinsasse, dessen Freiheit sich in der Anpassung an alternativlose Sachzwänge im doppelten Wortsinne erschöpft. Selbststeuerung unter dem beschleunigten Ansturm von Informationen und Handlungsoptionen bei gleichzeitigem Wegfall kultureller, gemeinschaftlicher oder geschichtlicher Verwurzelung ist ein Nährboden für Burnout und Depression (Vgl. Ehrenberg 2008).
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Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildungsbericht der Bundesrepublik Deutschland 2014, Bielefeld.
Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt 2007.
Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt 2008.
Höfer, Christoph/ Madelung, Petra: Lehren und Lernen für die Zukunft. Unterrichtsentwicklung in selbstständigen Schulen. Troisdorf 2006.
Internes Gutachten WIssGem 2016.
Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung? In: Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Band 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 1. Teil. Darmstadt 1983 [1784], S. 53ff.
Kant, Immanuel: Über Pädagogik. In: Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Band 10: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 2. Teil. Darmstadt 1983 [1803], S. 710ff.
Lewin, Kurt: Frontiers in Group Dynamics. In: Human Relations. Heft 1, 1947, S. 5-41.
Tiqqun: Kybernetik und Revolte. Berlin 2007.
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