Ulfried Geuter : Katastrophe für die Seele . Was bewirken Traumata ...

Traumata
SWR2 Wissen: Aula  Ulfried Geuter : Katastrophe für die Seele . Was bewirken Traumata und was kann man dagegen tun?
Autor und Redner: Professor Ulfried Geuter *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 20. Juli 2014, 8.30 Uhr, http://swr2.de
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AUTOR*
Ulfried Geuter (geb. 1950) ist Dipl. Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut. Er studierte Psychologie, Philosophie und Germanistik in Bonn, Promotion und Habilitation erfolgte an der Freien Universität Berlin. Nach seiner Tätigkeit in Lehre und Forschung arbeitete Ulfried Geuter als freier Wissenschaftsjournalist und als Psychotherapeut in eigener Praxis. 1996 und 1998 war er Gastprofessor und Lehrbeauftragter für Körperzentrierte Psychotherapie an der Universität Innsbruck; 2000-2002 Dozent bei den Lindauer Psychotherapiewochen; seit 2000 ist er Lehrtherapeut und Dozent in der Weiterbildung zum Psychotherapeuten am Institut für Psychologische Psychotherapie Berlin. 2005 & 2006 Lehrbeauftragter für Körperpsychotherapie an der Universität Marburg, 2010 Ernennung zum a. pl. Professor an der Universität Marburg.

Bücher (Auswahl):
- in Vorbereitung.: Grundlagen der Körperpsychotherapie. Springer-Verlag.
- Deutschsprachige Literatur zur Körperpsychotherapie. Eine Bibliografie. Ulrich Leutner-Verlag, 1998 (2. verb. erw. Aufl. 2002).

ÜBERBLICK
Es gibt erschütternde Erlebnisse, die hinterlassen in der Psyche der Betroffenen starke Spuren, die im Extremfall nicht mehr verblassen. Sexueller Missbrauch in der Kindheit, Geiselnahme, Vernachlässigung oder schwere Unfälle können Traumata verursachen. Diese sind meist mit sehr unterschiedlichen Symptomen verbunden, von Panik- oder Angstattacken über Hypersensibilität bis hin zur emotionalen Abgestumpftheit. Ulfried Geuter, Psychotherapeut aus Berlin, zeigt, was bei Traumata in der Seele passiert und welche Therapiemöglichkeiten es gibt.
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INHALT
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Katastrophe für die Seele – Was bewirken Traumata und was kann man dagegen tun?“
Es gibt erschütternde Erlebnisse, die hinterlassen in der Psyche der Betroffenen starke Spuren, die im Extremfall nicht mehr verblassen. Sexueller Missbrauch in der Kindheit, Geiselnahme, Vernachlässigung oder schwere Unfälle können Traumata verursachen. Diese sind meist mit sehr unterschiedlichen Symptomen verbunden, von Panik- oder Angstattacken über Hypersensibilität bis hin zur emotionalen Abgestumpftheit.
Ulfried Geuter, Psychotherapeut aus Berlin, zeigt, was bei Traumata in der Seele passiert und welche Therapiemöglichkeiten es gibt.
Ulfried Geuter:
Ein leuchtendes, klares Grün. Ich treibe auf dem Rücken liegend im Wasser. Friedlich. Schaue nach oben. Das Licht fällt durch die Wasseroberfläche und erzeugt diesen grünen Schimmer. Da werde ich herausgezogen. Meine früheste Kindheitserinnerung. Ich war vielleicht zwei Jahre alt, vielleicht auch drei. Reinhard, mein sechs Jahre älterer Cousin, zog mich aus dem Teich, in den ich rückwärts laufend gefallen war.
Ich kannte das Symptom: Unter großer innerer Anspannung hatte ich manchmal eine Art reflexartiges Aufstoßen. Aber ich kannte den Grund nicht. Einmal trat es bei meiner Krankengymnastin auf. Sie sagte: Das klingt, als ringen Sie nach Luft, aber Sie bekommen Wasser. Sind Sie als Kind einmal fast ertrunken? Ich rief meine Mutter an, machte ihr am Telefon das Geräusch vor und fragte sie, ob sie das kenne. Sie hatte es nicht vergessen. So hätte ich den ganzen Tag und die ganze Nacht gewürgt, nachdem ich als Kind in den Teich gefallen wäre, und immer wieder hätte ich irgendwelche Algen herausgewürgt.
Der Körper vergisst nicht, schrieb einmal der Traumaforscher Bessel van der Kolk. Ich hatte keine Erinnerung an das drohende Ertrinken, nichts bedrohte mich in der Erinnerung. Ich hatte sogar Frieden erlebt, dennoch saß das Trauma in meinem Körper. Wie ich heute weiß, muss ich hinter einem Punkt gewesen sein, an dem der Organismus abschaltet.
Der menschliche Organismus kennt nämlich eine gestufte Reaktion auf Bedrohung. Im Rahmen einer grundsätzlich sicheren Situation reagieren Menschen auf Bedrohung, indem sie sich anderen zuwenden. Sie aktivieren ihr Bindungssystem. Kinder flüchten zu ihren Eltern: Ich habe Angst. Der Physiologe
Stephen Porges nennt dies das System des sozialen Engagements.
Fühlen wir uns aber so bedroht, dass wir handeln müssen, ergreifen wir die Flucht oder kämpfen. Wir versuchen, von dem wegzukommen, was uns bedroht, oder das Bedrohende von uns wegzumachen. Wenn beides nicht mehr geht, reagiert der Organismus mit einer dritten Reaktion: der Immobilisierung. Er schaltet ab.
Diese drei Reaktionen auf Bedrohung sind mit unterschiedlichen Aktivitäten des Nervensystems verbunden. Anbindung an andere Menschen geht mit Aktivitäten dieses Teils des Nervus Vagus einher. Dieser Nerv, auch Parasympathikus genannt, vermittelt Ruhe und Entspannung, seine Impulse beruhigen das Herz und lassen den Darm arbeiten. Der Nerv aktiviert auch die Gesichtsmimik, über die wir anderen unseren Zustand mitteilen.
Wenn wir kämpfen oder fliehen, wird dagegen der Sympathikus aktiv, der Gegenspieler des Parasympathikus im Autonomen Nervensystem. Jetzt geht der Atem stärker, das Herz pumpt mehr, die Muskeln werden mit Blut versorgt, aber der Darm erlahmt, damit Energie für das Handeln zur Verfügung steht.
Sind wir in einer lebensbedrohlichen Situation, passiert im Nervensystem etwas Drittes. Nun reagiert ein anderer, im Körper hinten gelegener Teil des Nervus Vagus. Er fährt die vegetativen Funktionen so weit herunter, dass der Körper erlahmt oder erstarrt. Das tritt zum Beispiel ein, wenn man auf eine Lebensbedrohung nicht mehr reagieren kann und es aufgibt zu handeln.
Ein Kojote will ein Opossum fressen. Das Opossum stellt sich tot. Der Kojote stupst es an, lässt von ihm ab. Denn er mag kein totes Tier fressen. Ist der Kojote weg, steht das Opossum auf, zittert und schüttelt sich, dann rennt es davon. Bei dem Opossum waren der dorsale, hinten gelegene Nervus Vagus und der Sympathikus gleichzeitig aktiv. Diesen Totstellreflex finden wir auch beim Menschen: Man erstarrt und ist gleichzeitig innerlich panisch aufgeregt. Das passiert in einer traumatischen Situation, wenn man glaubt handeln zu können und es doch nicht kann. Zum Beispiel wenn sich eine Frau bei einer Vergewaltigung wehren möchte und der Körper in Bereitschaft geht, die Bedrohung aber so groß ist, dass sie still hält. Dann bleiben die Spannung und die Erstarrung gleichermaßen im Körper stecken.
Mit dem Begriff des Traumas bezeichnen wir im Grunde zweierlei: das Ereignis, das einen Menschen traumatisiert, die traumatische Situation, und das, was in einem Menschen als Folge dieses Ereignisses fortlebt, sein traumatisches Erleben. Das Leid besteht nämlich nicht in dem, was wir erlebt haben, sondern darin, was davon in uns fortlebt. Was uns heute das Leben schwer macht.
Das sind bei einem Trauma zum Beispiel Flashbacks. Ein Mann erstarrte beim
Geruch von Asche, weil er beim Zusammenbruch des World Trade Centers um sein Leben rannte. Nach der Katastrophe von Ramstein wurde in Kaiserslautern ein Mann ins Krankenhaus eingeliefert, der auf der Straße bei einem Flugzeuggeräusch zusammengebrochen war. Für ein Flashback reicht eine sinnliche Erinnerung an die traumatische Situation, ein Geräusch, ein Bild, ein Geruch, ein Erleben von Enge in einer U-Bahn, um das Erleben aus der traumatisierenden Situation wachzurufen. Beim Flashback erlebt ein Mensch die Gegenwart, als wäre er in der Vergangenheit.
In der Wissenschaft spricht man von triggern, wenn Reize eine Traumareaktion hervorrufen. So kann jemand einen Schweißausbruch bekommen, weil er hinter sich dasselbe Kreischen hört wie einmal bei einem Unfall. Diese Schreckhaftigkeit ist typisch für Traumafolgen. Andere Symptome sind Alpträume, Depressionen, Schlaflosigkeit, Ängste, Misstrauen, Hoffnungslosigkeit, sozialer Rückzug oder ein Verhalten, bei dem vermieden wird, was an das Trauma erinnert. Eine Frau, die Auschwitz überlebt hatte, stieg niemals mehr in Züge.
Häufig fühlen sich Menschen infolge einer Traumatisierung auch gefühlstaub, stumpf, teilnahmslos und leer, andere dagegen sind übererregt, reizbar und schreckhaft. Je nachdem, wie ein Mensch reagiert und in welcher der genannten Reaktionen auf Bedrohung er steckenbleibt, kommt es nach einem Trauma zu unterschiedlichen Reaktionen. Ist bei einem traumatisierten Patienten das Kampf-Flucht-System weiterhin aktiv, neigt er eher zu Flashbacks oder Herzrasen. Sein Zustand ist der einer anhaltenden Übererregung des Sympathikus. Das wird in der Regel als Panik erlebt.
Ist ein Patient hingegen als Kind chronisch vernachlässigt oder missbraucht worden, dominiert in der Regel ein Zustand der Immobilisierung. Er steckt dann nach einem Ausdruck des Traumatherapeuten Peter Levine “im grauen Niemandsland der Nichtexistenz”. Bei solchen Menschen ist die dritte Reaktion chronisch: Ihr Zustand ist der einer Übererregung des Parasympathikus, der als Implosion, als Einbruch nach innen erlebt wird. Sie sind weniger erregt als vielmehr emotional betäubt und gelähmt.
Welche Folgen ein Trauma hinterlässt, liegt in der Regel an der Art und den Umständen der traumatisierenden Situation. Grundsätzlich unterscheidet die Traumaforschung zwei Gruppen traumatisierender Situationen. Zum einen sind es einzelne, schreckliche Ereignisse wie ein Unfall, ein Erdbeben, der Einsturz eines Hauses oder das Miterleben eines Banküberfalls. Zum anderen Schreckliches, das andere Menschen zum Teil über lange Zeit hinweg einem Menschen antun: Lagerhaft, Folter, anhaltender Missbrauch, jahrelange Misshandlung oder Vernachlässigung wie bei den Kindern, die man in den rumänischen Waisenhäusern fand.
Vernachlässigung ist heute die häufigste Form der Gewalt gegen Kinder: wenn sie nur unzureichend ernährt, gesundheitlich schlecht versorgt oder nicht ausreichend vor Gefahren geschützt werden. In den 1950er-Jahren veröffentlichte der Psychoanalytiker René Spitz Forschungen zum sogenannten "Hospitalismus-Phänomen". Kinder, die in Heimen nur geringen Kontakt mit Pflegepersonen hatten, litten unter heftigen Störungen ihrer Entwicklung. Traumatische Erfahrungen können also auch in einem Mangel an Reizen und Zuwendungen bestehen. Der lange Aufenthalt in einer kahlen Betonzelle ohne Gegenstände ist eine bekannte Form der Folter.
25 Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer schildern sexuelle Übergriffe in ihrer Kindheit. Ob sie seelische Schäden davontragen, hängt vor allem von der Art der Übergriffe ab. Nicht alle erkranken. Wie sehr jemand später leidet, scheint Forschungen zufolge vor allem daran zu liegen, wie demütigend oder erschütternd die Umstände sind und wie die Umwelt auf die Traumatisierung reagiert, zum Beispiel ob einem Kind geglaubt wird und ob es unterstützt wird, wenn es etwas sagt, oder ob das Geschehen verleugnet oder ihm gar eine Mitschuld gegeben wird.
Besonders gravierend ist es, wenn geschlechtliche Handlungen mit Gewalt erzwungen werden, wenn sich der Missbrauch über längere Zeit erstreckt, wenn mehrere Personen beteiligt sind oder wenn die eigenen Eltern die Täter sind. Weniger zerstört jedoch die einzelne Handlung die Seele des Kindes als vielmehr die Tatsache, dass das Kind in seinen Gefühlen und in seinem Urteil über die Realität völlig verwirrt wird. Wenn es niemanden hat, der ihm hilft, seine Erfahrung zu verstehen, muss es sie an einem Ort in seiner Seele deponieren, von dem es glaubt, dass von dort nichts mehr an die Oberfläche kommt. Die Erfahrung wird eingekapselt in der Hoffnung, dass sie einen nicht mehr bedrängt. Ein missbrauchtes Kind kann nicht kämpfen oder fliehen. Daher stellt es sich tot, wie ein gejagtes Tier, das sich ergibt. Die unterdrückten Gefühle melden sich dann meist über andere Kanäle: Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme, Rückzug.
Oft ist daher später nicht greifbar, was jemand erlebt hat. Vor allem, wenn es aus einer Zeit stammt, bevor die bewusste, sprachlich fassbare Erinnerung einsetzt. Denn vielfach wird in der traumatisierenden Situation das Bewusstsein ausgeschaltet. Das ist wie bei einem Schock, bei dem es einem die Sprache verschlägt. Man kann nicht reden und auch nicht denken. Wenn aber ein Trauma in Form von Bildern, quälenden Empfindungen oder Gefühlen gespeichert ist, ist es später schwer, zwischen Bildern, Fantasien und Erinnerungen an Ereignisse zu unterscheiden. Auch ist die Erinnerung immer eine Mischung aus dem, was war, dem was wir fühlten und heute fühlen und was wir uns später gedacht haben. Man kann sich in einer Therapie daher der Realität des Vorgefallenen immer nur nähern.
In der Psychotherapie sprechen wir von Dissoziation, wenn eine Erfahrung abgespalten oder irgendwohin verpackt wird. Dissoziation ist in der traumatischen Situation ein Schutzmechanismus. Zum Beispiel steigt eine Frau bei einer Vergewaltigung mit ihrem Erleben aus dem Körper aus. Dann ist es, als würde auf der einen Seite ihrem Körper etwas widerfahren, und auf der anderen Seite schaut sie dem wie unbeteiligt zu. Das hilft, in der Situation zu überleben und einen Rest Kontrolle über sich selbst zu wahren. Wird ein solcher Schutzmechanismus beibehalten, kann er zum Symptom einer Störung werden. Zum Beispiel, wenn diese Frau später in intimen Beziehungen zu Männern innerlich aussteigt, sobald sie erregt ist, und dann nichts mehr spürt, sich starr macht oder unbeteiligt fühlt. Das Symptom ist dann nicht nur ein Ergebnis dessen, was der Frau widerfuhr, sondern auch ein Ergebnis davon, wie sie die traumatische Situation zu bewältigen versuchte. Etwa dreißig Prozent aller vergewaltigten Frauen leidet noch nach Jahren an den Folgen der Tat.
Folter ist eine der schlimmsten Formen der Traumatisierung, eine Gewalt, die bewusst darauf zielt, einen anderen in seinem Inneren zu zerstören. Der Folterer fügt nicht nur Schmerzen zu, er demütigt sein Opfer auch, er zeigt ihm seine absolute Ohnmacht im Angesicht der eigenen Macht. Das führt dazu, dass der Gefolterte nachher oft beide Seiten in sich trägt. Viele Folteropfer fühlen sich, als wäre ihre Seele in Teile zerrissen. Sie leben mit vollkommen entgegengesetzten Gefühlen oder Gedanken: überaus reizbar und völlig erstarrt
.
Erst 1980 wurden die Folgen von Traumata in der Psychotherapie offiziell als Krankheitskategorie anerkannt. Damals führte die US-amerikanische Psychiatervereinigung den Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung in ihr Diagnosehandbuch ein, die weltweit anerkannte Bibel der Diagnostik psychischer Störungen. Vorher hatte das Trauma jahrzehntelang eine schlechte Lobby in der Psychotherapie.
In deren Anfängen war das noch anders gewesen. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Begriffe “Schreckneurose” oder “traumatische Neurose” aufgekommen, als die aufblühende Technik zu neuen schockartigen Erfahrungen führte: eine Eisenbahn, die den Kopfbahnhof in Paris durchstieß, explodierende Gasbehälter, und später die Handgranaten des Ersten Weltkriegs. Die Versicherungen der Eisenbahngesellschaften wollten wissen, ob ein Unfallschock zu einem krankheitswertigen Trauma führen könnte, dessen Folgen man körperlich nicht sah. Auch Freud benutzte anfangs den Traumabegriff und sah sexuelle Traumatisierungen in der Kindheit als wesentlichen Grund für die Entstehung von Neurosen an. Später aber rückte er davon ab und meinte, dass die Fantasien von Kindern Neurosen erzeugen würden, zum Beispiel wenn ein Junge davon träumt, mit seiner Mutter zu schlafen, was er den Ödipus-Komplex nannte. Zwar war es eine revolutionäre Erkenntnis, dass Vorstellungen krank machen können, und diese Erkenntnis gilt auch noch heute. Aber Freuds Schwenk hatte verheerende
Auswirkungen auf die Anerkennung wirklicher Traumata in der Psychotherapie. So erschienen zum Beispiel zwischen 1920 und 1986 nur 19 Veröffentlichungen zur sexuellen Ausnutzung von Kindern in der internationalen wissenschaftlichen Literatur. Es wäre sicher anders gekommen, wenn man in der Psychoanalyse mehr auf Freuds Schüler Sándor Ferenczi gehört hätte. Er beharrte nämlich darauf, dass viele seelische Störungen auf reale sexuelle Traumatisierungen in der Kindheit zurückgingen und nicht allein auf ödipale Fantasien. Dafür wurde er von den Freudianern nach seinem Tod 1933 totgeschwiegen und sogar für verrückt erklärt.
Auch ein anderer Dogmatismus der Psychoanalyse begrenzte den Blick für die Entstehung seelischen Leids durch reale traumatische Erfahrungen: dass jedem Leid Kindheitserfahrungen zugrunde liegen. So legte der heute international bekannteste Psychoanalytiker Otto Kernberg 1978 seine erste Theorie der Borderline-Störung vor, einer seelischen Erkrankung, bei der Menschen von heftigen und teilweise gegensätzlichen Gefühlen beherrscht werden, zwischen Liebe und Hass schwanken oder die Welt schwarz und weiß sehen. Patientinnen zum Beispiel, die wahllos selbstzerstörerischen Sex haben oder alle Männer für Schweine halten. Kernberg sah die Gründe für diese Krankheit anfangs ausschließlich in unbewussten infantilen Fantasien. Heute weiß man durch empirische Forschungen, dass etwa 80 Prozent der betroffenen Patienten traumatisiert sind.
Noch schlimmer war der Dogmatismus der Psychiatrie, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein davon ausging, dass seelische Krankheiten auf einer erbbedingten, schwachen Konstitution beruhen. Dramatische Folgen dieser Blindheit zeigten sich im Umgang der deutschen Psychiatrie mit KZ-Opfern. Deutsche Psychiater verwarfen fast alle Anträge auf Wiedergutmachung. Wenn KZ-Opfer unter Ängsten, Alpträumen, Grübelzwängen oder Depressionen litten, sahen sie die Ursachen ausschließlich in deren Konstitution.
Selbst kritisch denkende Psychotherapeuten schafften es nicht, sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Nachwirkungen von Nationalsozialismus und Krieg in den Seelen zu befassen. Als der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter, später ein bekannter Vertreter der Friedensbewegung, 1963 ein wegweisendes Buch über die Entstehung von seelischen Störungen in Familien veröffentlichte, beschrieb er darin depressive oder paranoide Familien in Deutschland, die als ganze in ihrer Festung Familie wie hinter Schießscharten säßen. Er kam nicht auf die Idee, zu fragen, ob diese Familien auf den unausgesprochenen Geheimnissen der Vergangenheit saßen. Seelische Störungen erst auf kindliche Fantasien und später auf die familiäre Sozialisation zurückzuführen, entlastete die Gesellschaft davon, über die Narben ihrer Geschichte nachzudenken.
Seit den 1980er-Jahren aber ist das Bewusstsein für die Folgen traumatischer
Erlebnisse gewachsen. In den USA trug dazu bei, dass viele Soldaten schwer traumatisiert aus dem grausam geführten Vietnamkrieg zurückkehrten. Die Frauenbewegung klagte zudem die Gewalt gegen Frauen an, und damit wurde auch der sexuelle Missbrauch aus den Kellern des Schweigens hervorgeholt. Nun schlug das Pendel zur anderen Seite aus. Die Psychoanalytikerin Alice Miller propagierte in den 1980er-Jahren das Bild, als sei die ganze Kindheit eine einzige Kette traumatischer Erfahrungen. Einige Psychotherapeuten suchten nun bei jeder Verhaltensstörung eines Kindes wie ein Detektiv nach den Spuren von Missbrauch.
Auch hat sich seitdem die Bedeutung des Traumabegriffs durch einen inflationären Gebrauch verflacht. So wird schon von Trauma geredet, wenn es zu Hause keine Gummibärchen gab oder wenn sich der Vater von der Familie wegstahl oder so herzlos zu einem war. Als wäre Trauma dasselbe wie eine schwierige Erfahrung. Der Begriff des Traumas aber sollte Erfahrungen vorbehalten werden, bei denen die Seele überfordert und überwältigt wurde und bei denen sie diese Überforderung und Überwältigung nicht verarbeiten konnte. Zur gleichen Zeit wurde die Öffentlichkeit sensibler für die realen Folgen von Gewalt, und Psychotherapeuten begannen damit, spezielle traumatherapeutische Methoden zu entwickeln.
Die Traumatherapie richtet sich heute zunächst einmal nach der Art des Traumas. Ist eine traumatische Störung die Folge eines einmaligen, plötzlichen Ereignisses, liegt der Fokus der Therapie darauf, die traumatische Situation selbst so zu fokussieren, dass man ähnliche Situationen nicht mehr vermeiden muss. So lassen sich zum Beispiel bei der Behandlung der Opfer von Verkehrsunfällen gute Erfolge mit einer Verhaltenstherapie erzielen, bei der die Patienten den Unfall in der Vorstellung oder an Ort und Stelle noch einmal durchgehen, wodurch das Erlebte allmählich weniger belastend wird.
Aus der Hypnotherapie, einer psychotherapeutischen Schule, die Methoden der klassischen Hypnose aufgreift und mit veränderten Bewusstseinszuständen arbeitet, stammt eine Technik, bei der der Patient sich das traumatische Ereignis so vorstellt, als würde er es auf einem Bildschirm vor sich als Film ablaufen sehen. Er schaltet den Film ein, beschreibt, was er beim Sehen spürt, und schaltet aus, wenn es ihm zu viel wird, und dies mehrfach hin und her. Er kann auch versuchen, in die Angst oder die Spannung hinein zu atmen, die er beim Zuschauen spürt, damit sich die Erstarrung aus der alten Situation löst. Denn in der traumatischen Situation bleibt ein Mensch ja sozusagen mitten in einer Bewegung oder Handlung stecken, wenn er von dem Ereignis überwältigt wird.
Der Körperpsychotherapeut Peter Levine schlägt in seiner Methode des “Somatic Experiencing” vor, dieses Eingefrorensein des Körpers aufzulösen, damit bislang festgehaltene Bewegungen und neues Handeln wieder möglich werden.
Ich selbst erlebte es einmal auf einer Autobahn. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich den Wagen Richtung Leitplanke und wieder zurückgerissen, als ein Holz von der Größe einer Eisenbahnschwelle plötzlich von der Ladefläche eines Lastwagens auf mich zuflog. Meine Freundin neben mir sagte mir nachher, dass sie in dem Moment mit dem Leben abgeschlossen hatte und im Zeitraffer einen Lebensfilm sah. Ich konnte der Gefahr ausweichen. Aber kurze Zeit später musste ich anhalten. Minutenlang zitterte ich am ganzen Körper und mir liefen die Tränen. Die Spannung fiel von mir ab.
Wenn das nicht gelingt und es zu einer Traumatisierung kommt, bleibt die Spannung im Körper. Peter Levine beschreibt einen eigenen Unfall, bei dem ihn ein Auto erfasste und er in die Windschutzscheibe und von dort zurück auf die Straße flog. Ein Passant, der sich als Sanitäter vorstellte, herrschte ihn an, sich nicht zu bewegen. So erstarrte er noch mehr. Als sich später eine freundliche Ärztin neben ihn kniete und ihm die Hand hielt, fing er an zu zittern. Sein erstarrtes Entsetzen löste sich.
Wer keine solche freundliche Ärztin hat, dem können Übererregung und Erstarrung im Körper stecken bleiben. Wenn sie chronisch werden und sich mit negativen Gefühlen wie Angst, Hilflosigkeit, tiefer Scham oder großer Wut dauerhaft verknüpfen, kann es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen.
Levine will den Menschen helfen, sich langsam dem Geschehen wieder zu nähern: einer Starre in dem Arm, den jemand bei seinem Unfall schützend vor den Kopf hielt, dann der Todesangst oder der Wut auf den Täter. Wer die damit verbundenen körperlichen Empfindungen spüren kann, ohne seinen emotionalen Impulsen nachgeben zu müssen, kommt aus der Erstarrung des Abschaltens heraus. Der Schlüssel für die Transformation des Traumas, meint Levine, liegt darin, dass es möglich wird, mit der todesähnlichen inneren Leere wie kurz auch immer in Berührung zu kommen und nicht mehr davor zurückzuschrecken.
Eine weitere, heute bekannte Technik der Traumatherapie ist das EMDR. Dabei spricht ein Patient über die traumatisierende Situation, während er wie bei einer Hypnose auf einen sich schnell bewegenden Finger des Therapeuten schaut. Diese Augenbewegung führt eine unwillkürliche Entspannung herbei, möglicherweise, weil die Aufmerksamkeit auf ein äußeres Geschehen gerichtet ist. Bei einer ähnlichen Technik klopft man sich wechselseitig auf die Knie, während man spricht. Viele empirische Untersuchungen zeigen, dass sich dadurch belastende Gefühle und negative Gedanken auflösen.
Weniger klar ist der Weg in der Behandlung bei langwierigen Beziehungstraumata, wie zum Beispiel bei anhaltendem Missbrauch oder Misshandlung. Als Standard
für einen allgemeinen Rahmen der Therapie gilt heute ein Drei-Phasen-Konzept. Eine erste Phase dient der Stabilisierung. In dieser Phase soll der Patient erst einmal die Fähigkeit erwerben, sich selbst zu beruhigen und Trost zu finden, ohne sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen. In einer Therapie sieht das oft so aus, dass sich ein Patient in seiner Vorstellung oder im Therapiezimmer erst einmal einen sicheren Ort schafft, an den er sich sofort zurückziehen kann, wenn die Erinnerung an das Trauma zu stark wird.
Wenn die Fähigkeit zur Selbstberuhigung, die man vor dem Trauma hatte, wieder hergestellt ist, dann kann man sich in einer zweiten Phase kontrolliert und begrenzt mit der traumatisierenden Situation befassen, z. B. mit Hilfe von Techniken wie der geschilderten Bildschirmtechnik. Das Ziel ist dabei, dass aus der unkontrollierbaren Belastung eine kontrollierbare wird. Dass ein Patient über seine Erfahrungen sprechen kann, ohne von irgendwelchen nicht zu steuernden körperlichen Reaktionen oder Gefühlen ergriffen zu werden.
Dabei ist es oft hilfreich, das Geschehene dosiert zu durchleben. Untersuchungen zeigen, dass es Traumaopfern hilft, ihren Körper achtsam und bewusst wahrzunehmen, damit sie die Empfindungen in der Gegenwart von den Empfindungen, die aus der Vergangenheit resultieren, zu unterscheiden lernen. Denn oft stellen sich Traumaopfer taub, weil sie fürchten, von den Empfindungen der Vergangenheit eingeholt zu werden. In einer dritten Phase geht es dann darum, das, was man erlebt hat, einzuordnen, zu verstehen und sich neu zu orientieren.
Kürzlich erzählte mir eine Patientin von ihrer Familie. Die Großeltern waren stramme Nazis gewesen, der Großvater hatte als Mitglied der SS in Polen an Erschießungen teilgenommen. Der Vater hatte am Ende des Krieges mit ansehen müssen, wie die eigene Mutter von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurde. Bis heute redet der Vater darüber nicht
.
Wird ein Grauen nicht verarbeitet, lebt es in der Seele weiter. Auch in den Seelen der Opfer können sich die Unnachgiebigkeit, die Härte und die emotionale Kälte der Täter breitmachen. Die israelische Schriftstellerin Batya Gur hat dies in einem ihrer Kriminalromane beschrieben, in dem eine alte aus Deutschland geflohene Jüdin bereit ist, die neue Ordnung ihres Kibbuz mit dem Mittel des Mordens zu verteidigen.
Schon in den 1930er-Jahren hatte Sándor Ferenczi geschrieben, dass sich das Opfer manchmal mit dem Aggressor identifiziert. Das gilt häufig für Kinder in Familien. Wenn der eigene Vater sexuelle Dienste von seiner Tochter verlangt, wie Klaus Kinski das tat, dann kann sich die Tochter kaum vorstellen, dass er es tut. Sie liebt ihren Vater und sie muss ihn für seine Taten eigentlich hassen. Manchmal schreibt sich das Opfer dann das Böse des Täters selbst zu. Das Kind
denkt: Ich bin die Böse, es übernimmt das Schuldgefühl des Täters, das dieser selbst meist nicht empfindet, so dass die Schuld wie ein Fremdkörper in seiner Seele weiterlebt. Auch dies ist, wie die Dissoziation, ein Schutzmechanismus im Angesicht des Traumas.
Wir kennen ihn seit der Geiselnahme der RAF in der deutschen Botschaft in Stockholm unter dem Namen “Stockholm-Syndrom”: Wenn sich die Geisel in ihren Geiselnehmer verliebt, der ihr Leben bedroht und sie gleichzeitig am Leben hält.
Ein tragisches Beispiel ist die schon erwähnte Psychoanalytikerin Alice Miller. Sie machte sich zum Anwalt der traumatisierten Kinder, aber ihre Bücher durchzog eine Unnachgiebigkeit und Härte, die befremdlich wirkte. Seit vor einiger Zeit ihr Sohn über seine Mutter und die Beziehung zu ihr ein Buch schrieb, wissen wir warum. Alice Miller war selbst ein schwer traumatisiertes Kind. Ein jüdisches Mädchen aus Polen, das unter falschem Namen den Krieg in Warschau überlebte, deren Vater im Getto starb und deren Großeltern vergast wurden. Als Erwachsene sprach sie nie über diese Geschichte, in ihrer eigenen Familie verleugnete sie ihre jüdische Herkunft und zu ihrem eigenen Sohn war sie kalt und hart. Gleich nach der Geburt gab sie ihn weg und holte ihn erst nach einem halben Jahr zu sich. Als er sechs Jahre alt war und eine Schwester mit Down-Syndrom geboren wurde, gab sie ihn für zwei Jahre in ein nahe gelegenes Heim, ohne ihn in dieser Zeit auch nur einmal zu besuchen. Als Martin Miller mit acht Jahren zurückkehrt, kommt er in ein Haus voll unerträglicher Spannung und ewiger lauter Streitereien zwischen seinen Eltern. Später verfolgt ihn seine Mutter mit unnachgiebiger Aufmerksamkeit und informiert sich mittels illegaler Tonaufnahmen über seine Therapie. Vielleicht war ihr Hass, ein Opfer zu sein, die Quelle ihrer aufrüttelnden Bücher. Oder ihre Sehnsucht nach einem selbstbestimmten, behüteten Leben als Kind, das ihr brutal genommen wurde. Aber sie selbst lebte als Erwachsene etwas aus, was sie in ihren Büchern angriff.
Alice Miller hat nicht geschafft, was das Ziel einer jeden Traumatherapie ist: im Inneren wiederherzustellen, was einmal zerbrach. Nur wer für sich selbst wieder zu sorgen und seine eigenen Erfahrungen anzuschauen lernt, kann zu dem zurückfinden, was er vor dem Trauma besaß: zu alter Freude, alter Tatkraft, alter Lebendigkeit. Wem dies gelingt, dessen Wunden können vernarben.
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