Ronny Arnold: Depressionen bei Kindern

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SWR2 Wissen - Ronny Arnold: Depressionen bei Kindern

INHALTSFOLGE
-Überblick
-Internet-Fassung
-Manuskript
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Sendung: Samstag, 20.02.2016
Redaktion: Christoph König
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
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ÜBERBLICK
Jedes Jahr melden sich rund 300.000 Menschen in Deutschland wegen einer Depression arbeitsunfähig. Sie fühlen sich ausgelaugt, sind erschöpft, haben ihren Antrieb, ihre Lebenslust verloren. Doch nicht nur Erwachsene leiden unter Depressionen. Psychiater untersuchen heute, warum auch Kinder an der Krankheit leiden und wie man sie therapieren kann.
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INTERNET-FASSUNG
Tim* ist seit drei Monaten auf der psychologischen Kinderstation des Leipziger Universitätsklinikums. Jeden Donnerstag besucht ihn seine Mutter. Jana Meier* fährt 60 Kilometer von einer kleinen 15.000-Einwohner-Stadt nach Leipzig. Dann hat sie Zeit, ihren 10jährigen Sohn zu sehen, mit ihm zu reden und zu spielen. Tim leidet an Depression. Für den kleinen Jungen mit den blonden Haaren ist es nicht der erste Klinikaufenthalt, Tim ist schon seit Jahren in Behandlung. Dass er depressiv ist, erkannten die Ärzte erst spät.
Plötzlich ist alles anders
2009 wird bei Tim eine schwere Form von Diabetes diagnostiziert. Der Junge ist damals fünf Jahre alt, geht in den Kindergarten. Bis dahin sei bei ihrem Sohn alles normal gewesen, erzählt die Mutter. Dann reagierte er heftig auf die Krankheit. Tim erinnert sich daran, dass er in die Hosen machte, sich übergeben musste. "Einmal", sagt er, "konnte ich nicht mehr aufstehen und dann mussten wir ins Krankenhaus."
Der Diabetes engt Tims Leben stark ein. Während die anderen Kinder spielen, verbringt er viel Zeit in Wartezimmern von Ärzten. Mehrmals täglich muss er seinen Blutzuckerspiegel messen, Süßigkeiten werden rationiert, Sport und Bewegung sind nur noch unter Aufsicht möglich. Anfangs muss er sich das Insulin spritzen, später bekommt er eine Pumpe implantiert, die das Insulin automatisch in seinen Bauch injiziert. Tim versteht das alles nicht, er will wie die anderen Kinder sein, will tun, was sie tun. Weil das nicht geht, zieht er sich immer weiter zurück. Bis zu dem Punkt an dem er einfach nicht mehr will. Seine Mutter erinnert sich: "Er sich bloß hingesetzt und hat mit keinem mehr gespielt, eigentlich überhaupt gar nicht mehr. Er hat sich vollkommen zurückgezogen."
Tims Krankheit ist auch für die siebenköpfige Familie eine Herausforderung. Seine Mutter tut, was sie kann. Denn die 30-Jährige weiß, ihr Sohn hat in seinem kurzen Leben schon einiges durchgemacht. Tim kam drei Monate zu früh zur Welt, verweigerte anfangs die Nahrung. Später trennen sich die Eltern. Jana Meiers neuer Lebenspartner stirbt kurz darauf. Jedes biografische Puzzleteil gehört zu Tims Krankheit, für die Mutter ein schmerzhafter Prozess.
Vorurteil: "Kinder haben keine Depression"
"Da macht man sich natürlich Vorwürfe", erinnert sich Jana. Sie fragte sich ob sie als Mutter etwas falsch gemacht habe, suchte die Schuld bei sich. "Mit anderen Leuten oder Freunden, konnte man nicht reden, weil die gesagt haben: Rede dir so was nicht ein, Kinder haben keine Depression, das gibt es nicht."  In ihrer Not wandte sich die verzweifelte Mutter an das Leipziger Universitätsklinikum. Dort leitet der Kinderpsychiater Kai von Klitzing seit acht Jahren den Forschungsschwerpunkt "Depression bei Kindern". Er will die Früherkennung dieser Krankheit voranbringen. Erste Erkenntnisse legen nahe, dass Kinder depressiver Eltern ein erhöhtes Risiko haben, selbst zu erkranken. Ist ein Elternteil betroffen, liegt das Risiko bei 10 bis 15 Prozent. Betrifft es beide Elternteile, so schätzen Experten, steigt das Risiko auf 30 bis 40 Prozent.
In Tims Familie spielte Depression bislang allerdings keine Rolle. Aber egal, ob selbst depressiv oder nicht, Eltern fühlen sich schuldig, wenn ihr Kind erkrankt. Kai von Klitzing versucht, ihnen dieses Gefühl zu nehmen: "Wir müssen von diesem Schuldgedanken wegkommen, auch in der Gesellschaft bis hin zu den Krankenkassen. Wenn ich ein kleines Kind behandle, dann schreibt mir die Krankenkasse: So ein kleines Kind kann doch noch nicht krank sein! Oder der Vater sagt: Alles Quatsch, Psychotherapie, so ein Blödsinn! Das ist ein Vorurteil! Die Schuldproblematik führt dahin, dass sie die Krankheit verleugnen oder gegen uns kämpfen. Ich muss die Eltern ins Boot holen und ich muss versuchen mit den Eltern an einen Punkt zu kommen, dass ich mit ihnen gemeinsam Sorge habe fürs Kind."
 Schwere Diagnose
Eine Depression bei einem Kind zu erkennen, ist sehr schwierig. Doch egal, ob Kinder- oder Erwachsenendepression, die Krankheit ist dieselbe, betont Kai von Klitzing: "Es geht ja immer darum, dass der Bezug zum eigenen Selbst brüchig wird und dass sich Energie, auch manchmal Aggressionsenergie, gegen das Selbst richtet und dann das Selbst verarmt." Es entsteht ein dauerhafter psychischer Schmerz.
Definiert wird eine Depression allgemein als psychische Störung, kategorisiert nach verschiedenen Episoden. Von leichter, nur partiell auftretender Niedergeschlagenheit bis hin zu schweren depressiven Phasen. Das Leben erscheint den Betroffenen als sinnlos, Gefühle können weder empfunden noch ausgedrückt werden, es fehlt jeglicher Antrieb. Häufig treten auch körperliche Symptome auf: Schlafstörungen, fehlender Appetit, Schmerzen.
Viele Depressionen beginnen in der Kindheit
Kinder sind davon nicht ausgenommen, sagt Kai von Klitzing. Sie sollen jedoch durch die Diagnose nicht stigmatisiert oder mit unklaren Krankheitsbildern konfrontiert werden, erklärt der Leipziger Professor. Vielmehr weiß er aus Gesprächen mit Betroffenen, dass eine Behandlung in jungen Jahren die Heilchancen verbessern kann: "Wenn man mit Erwachsenen, depressiven Menschen spricht, dann hört man oft, dass das auch schon im Kindesalter angefangen hat. Noch nicht in der vollen Form einer schweren Depression, aber doch mit deutlichen Gefühlen von Traurigkeit, einer Gehemmtheit beim Spiel." Und da wollen die Psychiater ansetzen und Forschung betreiben, um herauszufinden, "wie solche Symptome sich zu Beginn des Schulalters entwickeln." Denn je eher eine Depression erkannt wird, umso besser entwickelt sich der Umgang damit: beim Betroffenen selbst, aber auch seiner Familie und dem näheren Umfeld.
trauriges, verängstigtes Kind
Andere Behandlung für kleine Patienten
Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen kleinen und großen Patienten: Erwachsene können sich anders ausdrücken. Sie sind in der Lage über ihren Schmerz und ihre Sorgen zu sprechen. Sie können hinterfragen, auch wenn sie häufig keine Antworten finden. Ein Kind kann das nur sehr eingeschränkt. Hinzu kommt, dass bei Kindern die Möglichkeit der medikamentösen Behandlung wegfällt. "Wir wissen nicht, was diese Substanzen auf das sich entwickelnde Gehirn für eine Auswirkung haben", warnt von Klitzing. Stattdessen müssen die Psychiater auf andere Methoden setzen: "Das Eine ist die soziale Unterstützung, also wenn zum Beispiel ein Kind in einer Familie lebt, die geprägt ist von schwierigen Lebenssituationen, beispielsweise Depression der Mutter oder auch des Vaters, dann ist es wichtig, an dieser sozialen Situation zu arbeiten. Und die zweite Domäne der frühen Behandlung von Kinderdepression und Angststörung ist die Psychotherapie."
Psychotherapie mit Kindern ist eine Herausforderung, sagt von Klitzing, besonders wenn sie so jung sind wie Tim – denn dann sind sie gerade erst dabei, ihre Lebenswelt kennenzulernen. Außerdem müssen die Ärzte herausfiltern, ob die schlechte Laune nur eine Momentaufnahme ist oder Ausdruck einer tieferen, seelischen Belastung. Anzeichen kann es bereits in der frühesten Kindheit geben.
Spielerisch Gefühle identifizieren
Deshalb ist das Spiel des Kindes ein wichtiges Indiz, in welcher seelischen Verfassung es sich befindet. Hat es überhaupt Lust zu spielen? Spielt es, wenn überhaupt, nur Szenarien durch, die schlecht ausgehen? Kai von Klitzing hat zusammen mit Kollegen eine psychoanalytische Kurzzeitbehandlung für Kinder von vier bis zehn Jahren entwickelt. In 25 Therapie-Sitzungen, von denen fünf mit und die restlichen 20 ohne Eltern stattfinden, werden in Gesprächen und vor allem im Spiel unverarbeitete Konflikte des Kindes herausgearbeitet. Als Therapeut muss von Klitzing sehr aktiv sein – manchen muss er dabei helfen das Spiel überhaupt aufzunehmen. "Und wenn das Kind dann spielt, schaue ich, ob es Gefühle identifizieren kann: Also wenn jetzt ein Kind spielt, die Kinder sind zu Hause und Eltern sind weggefahren und kommen nicht zurück; dann frage ich, wie könnte sich dieses Kind jetzt fühlen? Und im nächsten Schritt: kann es sein, dass es dir manchmal auch so geht?"
Höhere Anforderungen führen zu Erschöpfungsdepressionen
Um eben jene Indikatoren herauszufiltern, die diese krankmachende Traurigkeit auslösen, hat sich die medizinische Forschung in den letzten Jahren intensiviert. Auch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), beschäftigt man sich schon lange mit kindlichen Depressionen. Michael Schulte-Markwort, Klinikdirektor und Kinderpsychiater, will aber nichts überdramatisieren. Denn klassische Depressionen im Kindes- und Jugendalter treten heute nicht häufiger auf als vor 20 Jahren. Allerdings hätten sich gesellschaftliche Erwartungen stark verändert, so Schulte-Markwort: "Was zunimmt, sind Erschöpfungsdepressionen, da ist man in dem Bereich von Burnout. Erschöpfungsdepressionen haben etwas damit zu tun, dass sich die Anforderungen in den Schulen erheblich gesteigert haben. Es ist so, dass Jugendliche in der Oberstufe 36 bis 38 Wochenstunden Unterricht haben, plus Sport, plus ein Instrument. Da ist man schnell bei 50 Wochenstunden."  
Junge liegt schlafend auf seinem Schreibtisch, über seinen Hausaufgaben 
Neben frühem Leistungsdruck gehören auch negative Lebenserfahrungen wie Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit oder das Zerbrechen von Familienstrukturen zu den Risikofaktoren. Deswegen betont Schulte-Markwort, wie wichtig es ist, die Familien- und Lebensgeschichte des Kindes kennenzulernen. "Und da heraus erarbeiten wir mit den Kinder und Jugendlichen und deren Familien zusammen ein gemeinsames Modell." Um die Kinder zu aktivieren und die akuten Symptome zu bewältigen spielt Sport eine wichtige Rollen: "Laufen wirkt anti-depressiv, andere Sportarten auch." 
Tim Meier war vor Ausbruch der Diabetes im Jahr 2009 ein begeisterter Fußballspieler, einer, der gern mit seinen Kumpels raufte - oder mit seinen Geschwistern. Doch die Diabetes verändert ihn: häufig durfte Tim nicht am Sportunterricht teilnehmen, nicht mit auf Klassenfahrten und auch in den Hort konnte er nur mit Begleiter. Alles wegen seiner Diabetes. Sportvereine lehnten ihn ab: Niemand wollte Verantwortung für das kranke Kind übernehmen. Das war schwer für den mittlerweile 10jährigen. Die Ablehnung kratzte an seinem Selbstwertgefühl. Hinzu kamen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Seine Therapeutin Jule Louw erklärt: "Da hat er immer größere Versagensängste aufgebaut. Sodass am Ende eigentlich gar nichts mehr ging und auch keine Lust mehr da war. Er hat sich abgewandt vom Unterricht und wurde in der Schule vermehrt geärgert wegen dem Diabetes."
 Ein Junge steht hinter einem Tor und beobachtet ein Fußballspiel.
Einmal wird er traurig, dann wieder aggressiv und wütend. Häufig fühlte er sich provoziert, oft von seinem zwei Jahre jüngeren Bruder. Die Eltern suchen Rat, erst beim Kinderarzt, dann bei Psychologen. Im Sommer 2011 begann Tim seine erste Psychotherapie. Es folgen weitere, schließlich wurde er stationär aufgenommen.
In den ersten Wochen nach der Aufnahme in der UKE wird Tim analysiert. Die Ärzte sprechen mit dem Jungen, beobachten sein Verhalten und befragen die Eltern. Danach macht Tim eine Physiotherapie, er wird von einem Logopäden unterstützt, erhält Ergotherapie. Er beginnt wieder Fußball zu spielen, geht klettern und schwimmen. Bewegung für den Körper, Gespräche für den Geist. Das Konzept ist ganzheitlich. Tagsüber besucht Tim die klinikeigene Schule. Dort achtet man darauf, dass er sich eingliedert und mit den anderen austauscht. Die Eingewöhnung ging schneller als gedacht, erinnert sich seine Therapeutin. Und Tim fühlt sich inzwischen sehr wohl – auch, weil er hier kein Außenseiter ist: "Alle sind meine Freunde. Zucker haben sie nicht, aber sie rasten auch aus."
Anzeichen bei jedem zwanzigstem Kind
Tim ist keine Ausnahme. Das zumindest legt eine Untersuchung der Leipziger Universitätsklinik nahe. Gemeinsam mit seinem Team hat Kai von Klitzing Eltern eines gesamten Leipziger Kindergartenjahrgangs nach Angst- und Depressionsanzeichen befragt. Dabei wiesen über zehn Prozent von insgesamt 1700 Kindern erhöhte Ängstlichkeit oder depressive Verstimmtheit auf. Lagen Symptome wie Traurigkeit, Schlafstörungen, Gereiztheit oder Spielhemmung vor, wurden die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern zur genaueren Anamnese eingeladen. Parallel dazu wurde eine Kontrollgruppe gebildet – mit Kindern ohne Anzeichen. Erste Ergebnisse der Studie – die mittlerweile in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht wurden – belegen: Etwa die Hälfte dieser Kinder waren bereits in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. Betroffen war also etwa jedes 20. Kind. Weder Eltern noch Erzieher hatten bis dahin auf Anzeichen reagiert. Professor von Klitzing ahnt, warum: "Erstens ist den meisten Menschen noch kein Konzept dafür vorhanden, dass so ein kleines Kind auch schon eine Depression haben kann." So kommt es, dass die zurückgezogenen, ängstlichen, schüchternen Kinder durchs Raster fallen.
Ein fünfjähriges Kind, das still und traurig in der Ecke sitzt, wird eher akzeptiert als ein lautes, schreiendes Kind.
Trotzdem: Depression bei Kindern ist kein Massenphänomen, betont auch der Leipziger  Kinderpsychiater. Angst und Traurigkeit gehören zur natürlichen Entwicklung eines Kindes dazu. Es gehe darum, die zu identifizieren, die leiden – und denen gezielt zu helfen.  
* Name von der Redaktion geändert
SWR2 Wissen. Von Ronny Arnold. Internetfassung: J. Schneider & R. Kölbel.
Stand: 19.2.2016, 14.50 Uhr

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MANUSKRIPT
Atmo:
Eine elektronische Kliniktür öffnet sich. Kinder sind auf dem Gang zu hören, Türen klappern, Mutter trifft ihren Sohn.
O-Ton – Dialog Mutter und Sohn:
Mama! Na, hallo. (Kuss) Hast du gegessen, fertig? Ja. Okay. (Blätter rascheln) Ein Geschenk. Das hast du gemalt? Das sind Menschen, dann noch das Auto und das Flugzeug. Und da durfte jeder etwas drauf malen? Ja. Jedes Kind? Ja. Okay. (Blätter rascheln)
Sprecherin:
Tim Meier und seine Mutter Jana drücken und herzen sich. Seit sieben Tagen haben sie sich nicht mehr gesehen.
Kurze Atmo aus dem Kinderzimmer
Mama:
Aber sonst geht es besser? Tim: Ja, aber nicht so gut beim Lesen. Da will ich manchmal gar nicht mitmachen. Da hab ich keen Bock mehr beim Lesen.
Zitator:
„Depressionen bei Kindern. Eine Sendung von Claudia Euen und Ronny Arnold.
Sprecher:
Jedes Jahr melden sich rund 300.000 Menschen in Deutschland wegen einer Depression arbeitsunfähig. Sie fühlen sich ausgelaugt, sind erschöpft, haben ihren Antrieb, ihre Lebenslust verloren. Doch nicht nur Erwachsene leiden unter Depressionen. Psychiater untersuchen heute, warum auch Kinder an der Krankheit leiden und wie man sie therapieren kann.
Sprecherin:
Tim ist seit drei Monaten auf der psychologischen Kinderstation des Leipziger Universitätsklinikums. Jeden Donnerstag besucht ihn seine Mutter. Jana Meier fährt 60 Kilometer von einer kleinen 15.000-Einwohner-Stadt nach Leipzig. Dann hat sie Zeit, ihren 10jährigen Sohn zu sehen, mit ihm zu reden und zu spielen.
O-Ton:
Ich bin meistens um drei hier. Dann habe ich eine halbe Stunde mit meinem Kind und dann fängt die Elterngruppe an, wo Eltern sich untereinander austauschen können. Das geht meist bis 4, Viertel 5 und dann dürfen wir bis halb sechs mit dem Kind rausgehen, also dürfen wir uns beschäftigen.
Sprecherin:
Tim Meier, der genau wie seine Mutter in Wahrheit anders heißt, leidet an Depression. Für den kleinen Jungen mit den blonden Haaren ist es nicht der erste Klinikaufenthalt, Tim ist schon seit Jahren in Behandlung. Dass er depressiv ist, erkannten die Ärzte erst spät.
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O-Ton:
Er hat Gras gegessen, Blatt gegessen, von seinem Messgerät hat er das Papier gegessen, hat Zeitung gegessen, Radiergummi gegessen. Der hat alles in seinen Mund genommen. Und unsere Psychologin hat gesagt, dass ist, weil er in der Schule nicht klarkommt, weil er Deutschprobleme hat. Da haben wir gesagt, das kann nicht nur am Deutsch hängen, er macht es ja zu Hause auch. Er geht in den Fußballverein, dort macht er es sogar, Gras essen. Das hat er sonst nie gemacht. Und jetzt haben die Ärzte gesagt, das ist einfach, weil er sich nicht akzeptiert und sagt, ich bin sowieso ein anderes Kind, ich bin ein krankes Kind und das war‘s.
Sprecherin:
2009 wird bei Tim eine schwere Form von Diabetes diagnostiziert. Der Junge ist damals fünf Jahre alt, geht in den Kindergarten. Bis dahin sei bei ihrem Sohn alles normal gewesen, erzählt die Mutter. Dann reagierte er heftig auf die Krankheit.
O-Ton:
Ich hab eingepullert, dann hab ich immer gebrochen, einmal konnte ich nicht mehr aufstehen und dann mussten wir ins Krankenhaus. Wenn ich was gegessen habe, dann hab ich das immer wieder ausgebrochen.
Atmo: spielende Kinder in Klinik
Sprecherin:
Der Diabetes engt Tims Leben stark ein. Während die anderen Kinder spielen, verbringt er viel Zeit in Wartezimmern der Ärzte. Mehrmals täglich muss er seinen Blutzuckerspiegel messen, Süßigkeiten werden rationiert, Sport und Bewegung sind nur noch unter Aufsicht möglich. Anfangs muss er sich das Insulin spritzen, später bekommt er eine Pumpe implantiert, die das Insulin automatisch in seinen Bauch injiziert. Tim versteht das alles nicht, er will wie die anderen Kinder sein, will tun, was sie tun. Weil das nicht geht, zieht er sich immer weiter zurück.
O-Ton:
Dann irgendwann kam der Punkt, wo er gesagt hat: Ich will nicht mehr, ihr könnt mich alle mal. Ich hab keine Lust und er hat sich dann auch im Kindergarten zurückgezogen. Die haben dort so eine Verkleidungsecke und Puppenecke, da hat er sich bloß hingesetzt und hat dort mit keinem mehr gespielt, eigentlich überhaupt gar nicht mehr. Er hat sich vollkommen zurückgezogen.
Sprecherin:
Wenn Jana Meier über Tims Krankheitsgeschichte spricht, wirkt sie ruhig. Dabei ist sie für die siebenköpfige Familie eine Herausforderung. Tims Krankheit fordert viel Zuwendung. Das geht an die Substanz. Seine Mutter tut, was sie kann. Denn die 30jährige weiß, ihr Sohn hat in seinem kurzen Leben schon einiges durchgemacht. Tim kam drei Monate zu früh zur Welt, verweigerte anfangs die Nahrung. Später trennen sich die Eltern. Jana Meiers neuer Lebenspartner stirbt kurz darauf. Jedes biografische Puzzleteil gehört zu Tims Krankheit, für die Mutter ein schmerzhafter Prozess.
O-Ton:
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Da macht man sich natürlich Vorwürfe, hat man was falsch gemacht als Mutti. Mit anderen Leuten, beziehungsweise Freunden, konnte man nicht reden, weil die gesagt haben: Rede dir so was nicht ein, Kinder haben keine Depression, das gibt es nicht. Man konnte eigentlich nie mit jemand reden, bzw. dann haben wir hier Hilfe gesucht: Psychologen und die haben gesagt, jedes Kind ist anders und das ist dann nicht so einfach für ein Kind.
Atmo: Kinder sind auf dem Gang zu hören, Türen klappern
Zitator (Frage aus Fragebogen):
Klagt ihr Kind häufig über Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Übelkeit? Hat ihr Kind wenigstens einen guten Freund oder eine gute Freundin?
Sprecher:
Das sind nur zwei von 25 Fragen, die Kai von Klitzing gemeinsam mit seinem Team für einen Diagnose-Fragebogen entwickelt hat. Seit acht Jahren leitet der Kinderpsychiater am Leipziger Universitätsklinikum den Forschungsschwerpunkt „Depression bei Kindern“. Der Chefarzt der psychologischen Kinderstation will die Früherkennung dieser Krankheit voranbringen. Depressive Störungen gehören mittlerweile zu den häufigsten Erkrankungen in der westlichen Welt. Pro Jahr erkranken laut Statistischem Bundesamt allein in Deutschland rund sechs Millionen Menschen im Alter von 18 bis 65 Jahren daran. Bei Kindern sind bislang keine genauen Zahlen bekannt – doch auch sie sind längst betroffen.
O-Ton:
Beim Säugling sehen wir es daran, wenn seine Ausdrucksweise starr ist, eher apathisch wirkt, resigniert, ausdrucksarm werden. Also da sieht man es im Gesicht und in der körperlichen Bewegung, die auch abgeschwächt ist, nicht so lebendig. Beim Vorschulkind, Kindergartenkind, auch jungen Schulkind, sehen wir es in der gereizten Stimmung und auch im Spielverhalten, das stark gehemmt ist. Oder sich eben um sehr negative Themen dauernd dreht. Und beim fortgeschrittenen Schulkind, da kann es einen Leistungseinbruch geben, Konzentrationsschwierigkeiten. Und dann kommen aber auch Sachen dazu wie Schlafstörungen und die Tendenz zu körperlichen Symptomen, Bauchschmerzen oder Rückenschmerzen, Knieschmerzen, das kann auch eine starke Ausdrucksweise des Kindes sein.
Sprecher:
Eine Depression bei einem Kind zu erkennen, ist sehr schwierig. Doch egal, ob Kinder- oder Erwachsenendepression, die Krankheit ist dieselbe, betont Kai von Klitzing.
O-Ton:
Es geht ja immer darum, dass der Bezug zum eigenen Selbst ein Stück brüchig wird und dass sich Energie, auch manchmal Aggressionsenergie, eher gegen das Selbst richtet und dann das Selbst verarmt. Die Suizidalität zum Beispiel im weiteren Verlauf hängt da auch damit zusammen und dass dann erhebliche Einschränkung von gefühlsmäßiger Schwingungsfähigkeit da ist. Und ein psychischer Schmerz auf Dauer entsteht.
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Sprecher:
Definiert wird eine Depression allgemein als psychische Störung, kategorisiert nach verschiedenen Episoden. Von leichter, nur partiell auftretender Niedergeschlagenheit bis hin zu schweren depressiven Phasen. Das Leben erscheint den Betroffenen als sinnlos, Gefühle können weder empfunden noch ausgedrückt werden, es fehlt jeglicher Antrieb. Häufig treten auch körperliche Symptome auf: Schlafstörungen, fehlender Appetit, Schmerzen. Kinder sind davon nicht ausgenommen, sagt Kai von Klitzing. Sie sollen jedoch durch die Diagnose nicht stigmatisiert oder mit unklaren Krankheitsbildern konfrontiert werden, erklärt der Leipziger Professor. Vielmehr weiß er aus Gesprächen mit Betroffenen, dass eine Behandlung in jungen Jahren die Heilchancen verbessern kann, sagt er.
O-Ton:
Die meisten Arbeitsunfähigkeiten und Frühverrentungen sind durch die Diagnose Depression verursacht. Und wenn man mit erwachsenen, depressiven Menschen spricht, dann hört man oft, dass das auch schon im Kindesalter angefangen hat. Noch nicht in der vollen Form einer schweren Depression, aber doch mit deutlichen Gefühlen von traurig sein, Gehemmtheit beim Spiel, im Kindergarten. Deswegen haben wir uns überlegt, es wäre sehr wichtig, Forschung darüber zu machen, wie solche Symptome sich zu Beginn des Schulalters entwickeln.
Sprecher:
Je eher eine Depression erkannt wird, umso besser entwickelt sich der Umgang damit: beim Betroffenen selbst, aber auch seiner Familie und dem näheren Umfeld. Doch es gibt einen großen Unterschied zwischen kleinen und großen Patienten: Erwachsene können sich anders ausdrücken. Sie sind in der Lage, wenn sie denn wollen und die Depression nicht zu stark ist, über ihren Schmerz und ihre Sorgen zu sprechen. Sie können hinterfragen, auch wenn sie häufig keine Antworten finden. Ein Kind kann das nur sehr eingeschränkt.
O-Ton:
Also, beim kleinen Kind fällt ja diese ganze Möglichkeit der medikamentösen Behandlung erst einmal weg. Wir wissen nicht, was diese Substanzen auf das sich entwickelnde Gehirn für eine Auswirkung haben. Von daher ist man dann auf die zwei anderen Säulen unserer Therapie angewiesen: Das Eine ist die soziale Unterstützung, also wenn jetzt zum Beispiel ein Kind in einer Familie lebt, die geprägt ist von schwierigen Lebenssituationen, also beispielsweise Depression der Mutter oder auch des Vaters, dann ist es erst einmal wichtig, an dieser sozialen Situation zu arbeiten. Also auch den Eltern zu helfen, dass sie ihre eigenen Schwierigkeiten besser überwinden können. Und die zweite Domäne der frühen Behandlung von Kinderdepression und Angststörung ist die Psychotherapie.
Sprecher:
Psychotherapie mit Kindern ist eine Herausforderung, sagt von Klitzing, besonders wenn sie so jung sind wie Tim – denn dann sind sie gerade erst dabei, ihre Lebenswelt kennenzulernen. Außerdem müssen die Ärzte herausfiltern, ob die schlechte Laune nur eine Momentaufnahme ist oder Ausdruck einer tieferen, seelischen Belastung. Anzeichen kann es bereits in der frühesten Kindheit geben.
Atmo: spielende Kinder
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Sprecher:
Deshalb ist das Spiel des Kindes ein wichtiges Indiz, in welcher seelischen Verfassung es sich befindet. Hat es überhaupt Lust zu spielen? Spielt es, wenn überhaupt, nur Szenarien durch, die schlecht ausgehen? Kai von Klitzing hat zusammen mit Kollegen eine psychoanalytische Kurzzeitbehandlung für Kinder von vier bis zehn Jahren entwickelt. In 25 Therapie-Sitzungen, von denen fünf mit und die restlichen 20 ohne Eltern stattfinden, werden in Gesprächen und vor allem im Spiel unverarbeitete Konflikte des Kindes herausgearbeitet.
O-Ton:
Dann gibt es zwei Sorten von Kindern: Die einen Kinder sind dann so gehemmt, dass die Intervention darin besteht, dass ich ihnen erst einmal helfe, so etwas wie Spiel aufzunehmen. Da muss ich sehr aktiv sein, Angebote machen. Und wenn das Kind dann spielt, zum Beispiel mit einem Puppenhaus, eine Familie inszeniert, dann schaue ich, ob es überhaupt Gefühle identifizieren kann. Also wenn jetzt ein Kind spielt, die Kinder sind zu Hause und Eltern sind weggefahren und kommen nicht zurück. Und dann frage ich, wie könnte sich denn dieses Kind jetzt fühlen? Und im nächsten Schritt könnte man dann sagen, kann es sein, dass es dir manchmal auch so geht?
Zitator (Fragen aus Fragebogen):
Streitet sich ihr Kind oft mit anderen Kindern oder schikaniert sie? Wird ihr Kind von anderen gehänselt?
Sprecher:
Um eben jene Indikatoren herauszufiltern, die diese krankmachende Traurigkeit auslösen, hat sich die medizinische Forschung in den letzten Jahren intensiviert. Auch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, kurz UKE, beschäftigt man sich schon lange mit kindlichen Depressionen. Michael Schulte-Markwort, Klinikdirektor und Kinderpsychiater, will aber nichts überdramatisieren. Denn klassische Depressionen im Kindes- und Jugendalter treten heute nicht häufiger auf als vor 20 Jahren, so der Professor. Allerdings hätten sich gesellschaftliche Erwartungen stark verändert, so Schulte-Markwort.
O-Ton:
Alle Meta-Analysen, die wir gesehen haben und auch selber gerechnet haben zeigen, dass speziell die klassischen Formen der Depression nicht zunehmen. Was zunimmt, sind Erschöpfungsdepressionen, da ist man in dem Bereich von Burnout. Erschöpfungsdepressionen haben etwas damit zu tun, dass sich die Anforderungen in den Schulen erheblich gesteigert haben. Es ist so, dass Jugendliche in der Oberstufe 36 bis 38 Wochenstunden Unterricht haben, plus Sport, plus ein Instrument. Und dann sind die ganz schnell bei 50 Wochenstunden.
Sprecher:
Ärzte sprechen im Zusammenhang mit Depression von Risikofaktoren: Negative Lebenserfahrungen wie Misshandlung und Vernachlässigung schon in der frühen Kindheit gehören dazu. Aber eben auch zu früher Leistungsdruck oder das Zerbrechen von Familienstrukturen. So wie Tim Meier es erlebt hat. Michael Schulte-Markwort setzt in Hamburg auf unterschiedlich intensive Therapieformen. Für die
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schwierigen Fälle hat er am UKE 70 Betten zur stationären Behandlung, im Kinderkrankenhaus in Altona noch einmal 36 Plätze. Insgesamt, für alle Arten von psychischen Störungen, nicht nur explizit für junge, depressive Patienten. Immer wieder Thema auf den Stationen, so Schulte-Markwort, der Einsatz von Medikamenten. Diese seien in den letzten Jahren immer besser geworden und ärmer an Nebenwirkungen. Das große Problem dabei: In den meisten Fällen fehlt eine Zulassung für Patienten unter 18 Jahren.
O-Ton:
Es ist so, dass 60 bis 80 Prozent der Medikamente, die wir geben, die geben wir Off-Label. D.h. Die sind gar nicht zugelassen für das Kindes- und Jugendalter, weil sich die Pharmaindustrie zu wenig darum kümmert. Das machen die nicht, weil der Markt zu klein ist. Das führt zu dem Skandal, dass Jugendliche und Kinder von nebenwirkungsärmeren, moderneren Medikamenten
ausgeschlossen sind. In der Praxis bedeutet das für uns, dass wir eben Off-Label
geben müssen. Das machen wir auch, weil wir davon überzeugt sind, dass unsere Patienten ein Anrecht haben auf die Medikamente. Also der jüngste Patient, den ich auch ambulant medikamentös behandelt habe, der war 12.
Sprecher:
Verantwortung und Risiko liegen so beim behandelnden Arzt und den Eltern, Regressansprüche gegenüber den Pharmafirmen sind meist ausgeschlossen. Trotzdem komme man manchmal nicht um Medikamente herum – im Sinne des jungen Patienten.
O-Ton:
Es kann sein, dass die Symptomatik so ausgeprägt ist, dass ein Kind mit einer Erschöpfungsdepression gar nicht psychotherapiefähig ist. Sondern ich muss erst mal mit Medikamenten die Stimmung etwas aufhellen, Stimmungsschwankungen beseitigen. Ansonsten mache ich das dann immer so, dass ich mit der Familie zusammen Analysen mache, wie sieht eigentlich der
Kalender aus dieses Kindes, was kommt darin vor. Wo ist Eustress, also guter Stress und wo ist Disstress, schädlicher Stress, was kann man daran verändern?
Sprecher:
Auch der Terminkalender der Eltern spielt eine wichtige Rolle. Im Gespräch versuchen die Therapeuten, einen individuellen Plan zu erarbeiten.
O-Ton:
Wir müssen die Familiengeschichte kennen, wir müssen die Lebensgeschichte des Kindes kennen, wir müssen etwas wissen über belastende Faktoren, müssen etwas wissen über Konflikte. Und da heraus erarbeiten wir, in Abhängigkeit des Alters, mit den Kinder und Jugendlichen und den Familien zusammen ein gemeinsames Modell, ein gemeinsames Verständnis. Vieles aber bei Depression liegt tatsächlich erst mal nach vorne gerichtet in der Frage von Bewältigung der Symptomatik und der Frage von Aktivierung. Also z.B. ist es sehr wichtig, dass depressive Patienten körperlich aktiviert werden und an Sport teilnehmen. Laufen z.B. wirkt anti-depressiv oder andere Sportarten auch.
Atmo: Kliniktür
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Sprecherin:
Zurück nach Leipzig. Tim Meier war vor Ausbruch der Diabetes im Jahr 2009 ein begeisterter Fußballspieler, einer, der gern mit seinen Kumpels raufte - oder mit seinen Geschwistern. Doch dann verändert er sich: Einmal wird er traurig, dann wieder aggressiv und wütend. Häufig fühlte er sich provoziert, oft von seinem zwei Jahre jüngeren Bruder. Die Eltern suchen Rat, erst beim Kinderarzt, dann bei Psychologen. Im Sommer 2011 begann Tim seine erste Psychotherapie. Es folgen weitere, schließlich wurde er stationär aufgenommen.
Atmo: Zimmer im Krankenhaus
O-Ton:
Ich war schon vor drei Jahren schon mal hier, darum kenne ich fast alles, ich kenne auch die ganzen Regeln: Zimmer aufräumen, Ordnung, jeden Tag Staub wischen, keinen schlagen, keine Schimpfwörter benutzen. Da kriegt man Punktabzug. Insgesamt kriegt man 13 Punkte - dann kriegt man ein Diplom, was dort liegt, was ich hatte.
Atmo: Papier raschelt (Diplom)
Sprecherin:
Sonnenlicht fällt durch die großen Fenster in das helle, freundliche Zimmer auf der Kinderstation der Leipziger Universitätsklinik. Mit Buntstiften gemalte Bilder hängen an den Wänden, ein Kalender zählt die Tage rückwärts: bis zu Tims Entlassung. Neun Tage sind es noch.
O-Ton:
Wie waren die Werte, alles ok? Tim: Ja, 13 oder 12. Vorhin war es auch
ok. 7,0 oder wie gestern, 6,9 oder so.
Sprecherin:
Tim muss lernen, regelmäßig seinen Blutzuckerwert zu messen. Das Zimmer teilt er sich mit zwei anderen Kindern. Er fühlt sich wohl – auch, weil er hier kein Außenseiter ist.
O-Ton:
Alle sind meine Freunde. Zucker haben sie nicht, aber sie rasten auch aus. Ich kriege Wut. Früher hab ich meinen Bruder verprügelt, da habe ich gegen
meine Couch geboxt. Mama wollte auch mal einen Boxsack holen. Und ich bin hier, weil ich alles in den Mund genommen habe: Papier und so und das hab ich dann runter geschluckt. Weil mein Bruder mich immer geärgert hat und da war ich irgendwie sauer, und da habe ich immer was in Mund genommen, daran hab ich mich gewöhnt, und dann hab ich immer was in Mund genommen.
Sprecherin:
Im Gespräch ist Tim aufgeweckt. Er scheut sich nicht, über seine Krankheit zu reden, kennt seine Stärken und Schwächen. Das war am Anfang anders, erzählt Jule Louw, Tims Therapeutin.
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O-Ton:
Bei der ersten Aufnahme war er sehr zurückhaltend, ruhig, aber
motorisch sehr unruhig. Er konnte schlecht auf dem Stuhl sitzen, es fiel ihm schwer
zuzuhören. Wirkte traurig und bedrückt. Ja, wenig mit sich im Kontakt. Also auch
unklar, warum mach ich das, was passiert da mit mir, unzufrieden.
Sprecherin:
In den ersten Wochen nach der Aufnahme in der Klinik wird Tim analysiert. Die Ärzte sprechen mit dem Jungen, beobachten sein Verhalten und befragen die Eltern. Danach macht Tim eine Physiotherapie, er wird von einem Logopäden unterstützt, erhält Ergotherapie. Er beginnt wieder Fußball zu spielen, geht klettern und schwimmen. Bewegung für den Körper, Gespräche für den Geist. Das Konzept ist ganzheitlich. Tagsüber besucht Tim die klinikeigene Schule. Dort achtet man darauf, dass er sich eingliedert und mit den anderen austauscht. Die Eingewöhnung ging schneller als gedacht, erinnert sich Jule Louw.
O-Ton:
Da war schon deutlich, dass er am Anfang sehr zurückgezogen war, Schwierigkeiten hatte auch mit Kindern in Kontakt zu kommen, Schwierigkeiten hatte mit seinem Diabetes und bedrückt wirkte. Was zunehmend aber besser wurde, er wurde zunehmend fröhlich. War aufgehellter und schien, auch wenn er Heimweh hatte, zu profitieren, dass er erst mal Abstand zur Situation zu Hause hatte, wobei ich nicht nur das familiäre Umfeld meine, sondern auch die schulische Situation, die für ihn sehr belastend war. Genau, die war, denke ich, der Hauptbelastungsfaktor.
Sprecherin:
Zuhause durfte Tim häufig nicht am Sportunterricht teilnehmen, nicht mit auf Klassenfahrten und auch in den Hort konnte er nur mit Begleiter. Alles wegen seiner Diabetes. Sportvereine lehnten ihn ab: Niemand wollte Verantwortung für das kranke Kind übernehmen. Das war schwer für den mittlerweile 10jährigen. Die Ablehnung kratzte an seinem Selbstwertgefühl. Hinzu kamen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Er ist gerade dabei die zweite Klasse zu wiederholen.
O-Ton:
Da hat er immer größere Versagensängste aufgebaut. Sodass am Ende
eigentlich gar nichts mehr ging und da auch keine Lust mehr war, er sich abgewandt hat vom Unterricht, da nicht mehr teilnehmen konnte, plus in der Schule, das kam so nach und nach raus, er vermehrt geärgert wurde, wegen dem Diabetes, also auch da noch so eine neue Baustelle aufgemacht worden war, was er vorher nicht gesagt hat.
Zitator (Frage aus Fragebogen):
Ist ihr Kind ein Einzelgänger und spielt meist allein? Hat ihr Kind oft Angst?
Sprecher:
Tim ist keine Ausnahme. Das zumindest legt eine Untersuchung der Leipziger Universitätsklinik nahe. Gemeinsam mit seinem Team hat Kai von Klitzing Eltern eines gesamten Leipziger Kindergartenjahrgangs nach Angst- und Depressionsanzeichen befragt. Dabei wiesen über zehn Prozent von insgesamt 1700 Kindern erhöhte Ängstlichkeit oder depressive Verstimmtheit auf. Lagen Symptome wie Traurigkeit, Schlafstörungen, Gereiztheit oder Spielhemmung vor, wurden die
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Kinder gemeinsam mit ihren Eltern zur genaueren Anamnese eingeladen. Parallel dazu wurde eine Kontrollgruppe gebildet – mit Kindern ohne Anzeichen. Erste Ergebnisse der Studie – die mittlerweile in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht wurden – belegen: Etwa die Hälfte dieser Kinder waren bereits in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. Betroffen war also etwa jedes 20. Kind. Weder Eltern noch Erzieher hatten bis dahin auf Anzeichen reagiert. Professor von Klitzing ahnt, warum.
O-Ton:
Erstens ist den meisten Menschen noch kein Konzept dafür vorhanden, dass so ein kleines Kind auch schon eine Depression haben kann. Und zweitens sind es eher die Kinder, die dann stören, die zur uns dann zur Diagnostik gebracht werden, weil die Umwelt halt negativ reagiert. Aber die zurückgezogenen, ängstlichen, schüchternen Kinder nicht so sehr.
Sprecher:
Ein fünfjähriges Kind, das still und traurig in der Ecke sitzt, wird demnach eher akzeptiert als ein lautes, schreiendes Kind. Dabei sind die Symptome mittlerweile bekannt, Risikogruppen können besser identifiziert werden.
O-Ton:
Fast alle Depressionen in diesem frühen Alter sind verbunden mit
Angststörungen. Also eine übermäßige Ängstlichkeit spielt eine Rolle, aber eben vor allem auch die Einschränkung im Spiel und die Spielhemmung. Wenn jetzt ein Kind zum Beispiel in den Kindergarten kommt, kann sich schlecht von der Mama trennen, nimmt kaum mit anderen Kindern Kontakt auf, spielt nicht, dann würde ich das jetzt erst einmal eine Weile beobachten. Vielleicht öffnet es sich. Gerade die Trennungsangst ist etwas Vorübergehendes. Aber wenn das dann zunimmt oder sich ausbreitet, dass aus der Trennungsangst eine generalisierte Angst wird, dass
das Kind plötzlich vor allem möglichen Angst hat und die Beeinträchtigung für die Entwicklung immer größer wird, dann sollte man eine vertiefte Diagnostik machen. Dann hat es noch keine Depression, dann lohnt es sich, genauer hinzuschauen.
Sprecher:
Trotzdem: Depression bei Kindern ist kein Massenphänomen, betont auch der Leipziger Kinderpsychiater. Angst und Traurigkeit gehören zur natürlichen Entwicklung eines Kindes dazu. Es gehe darum, die zu identifizieren, die leiden – und denen gezielt zu helfen.
O-Ton:
Von den 30 Kindern, die wir ganz systematisch in der Therapiestudie drin hatten, hatten zehn sogar eine richtig diagnostizierbare Depression. Und nach einem Dreivierteljahr Therapie war von den Symptomen nichts, also waren die weg. Und ein halbes Jahr später in der Nachuntersuchung waren die immer noch weg. Das sind wahrscheinlich Kinder, die weiter ein Risiko haben. Und dann kommt es manchmal auch ein bisschen auf Glück an, wenn das Kind dann in die Schule kommt, dann hat es vielleicht ein gutes Schulumfeld oder einen Lehrer, der sich gut kümmert, oder eine Lehrerin oder einen tollen Freund oder Freundin und macht gute Erfahrungen, dann kann das auch aufhören. Aber wenn sich die Lebensumstände verschlechtern, zum Beispiel Eltern trennen sich oder so, dann kann es wiederkommen.
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Sprecher:
Deshalb werden die Kinder, die an der Leipziger Studie teilgenommen haben, weiter in unregelmäßigen Abständen untersucht. Auch nach genetischen Ursachen wird geforscht. Erste Erkenntnisse legen nahe, dass Kinder depressiver Eltern ein erhöhtes Risiko haben, selbst zu erkranken. Ist ein Elternteil betroffen, liegt das Risiko bei 10 bis 15 Prozent. Betrifft es beide Elternteile, so schätzen Experten, steigt das Risiko, selbst zu erkranken, auf 30 bis 40 Prozent an. In Tims Familie spielte Depression bislang allerdings keine Rolle. Aber egal, ob selbst depressiv oder nicht, Eltern fühlen sich schuldig, wenn ihr Kind erkrankt. Kai von Klitzing versucht, ihnen dieses Gefühl zu nehmen.
O-Ton:
Wir müssen von diesem Schuldgedanken wegkommen, auch in der Gesellschaft. Bis hin zu den Krankenkassen, wenn ich ein kleines Kind behandele, dann schreibt mir die Krankenkasse: So ein kleines Kind kann doch noch nicht krank sein, das sind doch immer die Eltern. Das ist ein Vorurteil und die Schuldproblematik führt dahin, dass sie verleugnen oder gegen uns kämpfen, der Vater dann sagt: Alles Quatsch, Psychotherapie, so ein Blödsinn! Ich muss die Eltern ins Boot holen und ich muss versuchen mit den Eltern an einen Punkt zu kommen, dass ich mit ihnen gemeinsam Sorge habe fürs Kind.
Atmo: Autofahrt (danach wieder Sprecherin 1)
Sprecherin:
Ein letzter Besuch bei Tim, diesmal zuhause. Acht Wochen sind seit dem Ende des Klinikaufenthalts vergangen. Das Leben zu Hause hat sich eingependelt. Tim hat sein eigenes Zimmer. Die Wände sind mit farbiger Tapete beklebt, in einer Glasvitrine stehen Fotos und Selbstgebasteltes.
Atmo: Kinderzimmer
O-Ton (Tim):
Das ist bei meinem echten Papa, das war aber ganz lange her. Hier bin ich, mein Bruder und hier ist Mama. Hier ist mein ganzes Diabetes-Zeug drinnen. Ich hab auch vieles von London
Martin (Stiefvater): Ihm gefällt der Style, also London, USA-mäßig.
Sprecherin:
Martin Meier ist der leibliche Vater von Tims zwei jüngsten Geschwistern.
O-Ton:
Wir hoffen, dass sich das wieder alles so einpendelt, wie es damals war, bevor er ins Krankenhaus ist. Das ist unser größter Wunsch.
Sprecherin:
Tim scheint auf einem guten Weg zu sein: Nach dem Unterricht spielt er mittlerweile wieder Fußball und damit es in der Schule besser klappt, bekommt er Nachhilfe in Deutsch.
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O-Ton:
Manchmal komm ich mit dem Schreiben nicht so gut mit, weil die alle schneller schreiben als ich. Aber nicht alle, es gibt ein paar, die langsamer schreiben. Wir haben letztes Mal eine Arbeit in Mathe geschrieben und ich hab eine eins. Und wir haben heute noch eine Geometrie-Arbeit geschrieben, mal gucken was rauskommt.
Sprecherin:
Jana Meier genießt es, endlich wieder alle Kinder um sich zu haben. Der monatelange Klinikaufenthalt habe nicht nur Tim, sondern die ganze Familie viel Kraft gekostet, erzählt sie.
O-Ton:
Wir wissen jetzt seit dem Krankenhausaufenthalt, ok, wenn er sich jetzt
zurückzieht, wir lassen auch die Zeit. Wir haben gesagt, anderthalb Stunde ist ok, wenn er jetzt in seinem Zimmer ist, alleine. Aber dann fragen wir jetzt von uns aus und wenn wir merken, ok, er möchte mit uns nicht reden, dann geben wir ihm noch eine Frist, weil wir Angst haben, dass wenn wir nicht fragen und er nicht von sich
aus kommt, dass er dann wieder in so ein tiefes Loch fällt.
Sprecherin:
Die Angst bleibt. Nicht alle Probleme sind verschwunden. Doch mittlerweile redet Tim häufiger über das, was ihn bedrückt – das hilft auch seiner Mutter.
O-Ton:
Weil wir ja dort in der Klinik gelernt haben, wie wir mit ihm umgehen sollen, weil vorm Krankenhaus, wir haben geredet, geredet, auf ihn drauf getrichtert - auf Deutsch gesagt - erzähl uns was. Jetzt wissen wir, wir bleiben ruhig, dann gehen wir nochmal raus, oder gehen fünf Mal raus bis er dann wirklich kommt oder geben ihm ein zwei Tage und das hätten wir vorher gar nicht gemacht.
Sprecherin:
Die Eltern wissen: Wenn Tim sich zurückzieht, müssen sie aufmerksam bleiben. Ihm zur Seite stehen. Martin und Jana Meier sind auf einem guten Weg. Sie haben akzeptiert: Ihr depressives Kind braucht keine Vorwürfe, sondern Hilfe.
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