Hans-Volkmar Findeisen: Der befremdende Blick . Ivan Illich und die interkulturelle Pädagogik

SWR2 Wissen - Hans-Volkmar Findeisen: Der befremdende Blick . Ivan Illich und die interkulturelle Pädagogik Kurzhinweis: Transparenz-Barrieren = metamorphe, symbolische Un-/Werte > Geld, Medien (print, tv, pc, internet…) nach Ivan Illich interpretiert.. Der animistische Blick sieht bei der Betrachtung eines Fotos nur das 2-Dimensionale, sieht Flächenteile präsent (reine Anwesenheit ohne historisch-perspektivische Blickweise..)

*** Reihe: Große Erzieher Autor: Hans-Volkmar Findeisen Redaktion: Anja Brockert Regie: Iiris Arnold Sendung: Samstag 22.04.2006, 8.30 Uhr, SWR 2 Bitte beachten Sie:Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

MANUSKRIPT

Take 1: (Illich)

Das ist das Unglaubliche, wissen Sie, das ärgert einen so. Wenn so scheinheilig Ihre europäischen und die nord(amerikanischen), ärger noch ihre europäischen Organisationen, Hilfsorganisationen, besonders die kirchlichen nach Südamerika kommen, um uns Schulen zu ermöglichen oder um Erwachsenenbildung vorwärts zu treiben. Versuchen Sie von einer Organisation wie Misereor Geld zu bekommen für wirklich tiefgreifende, menschliche Erziehung! Und es wird Ihnen sofort verweigert, weil Sie ja politisch gefährlich sind! Der Papst spricht großartig über die Notwendigkeit an der Fundamentalerziehung teilzunehmen. Sobald man aber kirchliche Gelder dazu verwenden will, wirkliche Fundamentalerziehung, die das Bewusstsein entwickelt, zu organisieren, kann man das doch unter keinen Umständen tun, denn das ist ja subversiv. Geld wird dann ausgegeben und durch riesige Maschinen für Modell-Lehrlingsschulen, von denen wir ja wissen, dass sie ja nichts als Phantasiefabriken sind, auszugeben, und die ein paar Leuten, den Lieblingen ihrer Pfarrer, zugänglich sind.

Erzähler:

Cuernavaca, Mexiko, die Stimme Ivan Illichs in einer Aufnahme des Westdeutschen Rundfunks aus dem Jahr 1970. Illich, Jesuit, Priester, amerikanischer Staatsbürger, geboren 1926 in Wien als Sohn eines Kroaten und einer Jüdin, hatte sich in den fünfziger Jahren als Seelsorger unter den puertoricanischen Zuwanderern in den Elendsvierteln von New York erstmals einen Namen gemacht. 1961 gründete er in Cuernavaca das „Centro intercultural de documentacion“, kurz CIDOC genannt. Das Zentrum sollte ursprünglich Priester und Entwicklungshelfer mit sprachlichen und interkulturellen Trainings auf den Einsatz in Lateinamerika vorbereiten. Es dräut die große Zeit der Theologie der Befreiung und der Linken. Kennedy's Allianz für den Fortschritt will die Dritte Welt in eine Erste verwandeln. In Lateinamerika werden Diktatoren und Obristen zu den Akteuren der Amerikanisierung und Modernisierung. Illich, der Universitätsabschlüsse in Philosophie, Theologie, Geschichte, Kristallographie, Kunstgeschichte und eine Lehrbefugnis in Physik besitzt, ist einer der letzten großen Vertreter einer universalen europäischen Bildungskultur. Er ist ein Intellektueller, kein Praktiker, aber ein radikaler Menschenfreund und Humanist, beseelt von dem Glauben, dass Denken und Kultur nicht von Institutionen, sondern vom Menschen ausgehe. 1967 bricht er mit der katholischen Kirche, als diese ihn aufgrund eines Berichts der CIA nach Rom zitiert. Das CIDOC funktioniert Illich in ein unabhängiges Institut um und in einen Ort des selbsttätigen Forschens, des Austauschs und des Lernens. Aus der Begegnung mit dem lateinamerikanischen Kontinent und der Kritik an dem durch Institutionen vermittelten Fortschritt wächst ein neuer Begriff von Interkulturalität und Wissen. „Interkulturelles Lernen“ bedeutete für Illich nicht den Austausch von Fortschrittsmedien, Bildungsgütern und Bildungsstandards, sondern er  machte die als selbstverständlich wahrgenommenen Muster unseres westlichen Fortschritt selbst zum Problem. Wahrer Dialog und Austausch verlangten, wollten sie gelingen, eine Veränderung der Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit anderen Vorstellungswelten und Bildwirklichkeiten. Heute klingen solche Überlegungen modern. Illich war seiner Zeit um Jahrzehnte voraus.

Take 2: (Duden) 

Ivan war ein Forscher, ein Rabbiner, also ein Lehrer, ein großer Lehrer, und er war ein Sammler von Freundschaften, das, würde ich sagen, sind seine drei Existenzweisen, miteinander verbundenen Existenzweisen, deren zeitgeschichtliche Bedeutsamkeit wir, glaube ich, erst heute richtig sehen können, weil er hat ja immer unterrichtet außerhalb der Institutionen. Er hat geglaubt, dass wir etwas diszipliniert, systematisch erkunden können auch ohne einen akademischen Hintergrund.

Erzähler:

Die Küche dient der Soziologieprofessorin Barbara Duden als Arbeitszimmer. Barbara Duden ist wie Illich eine Pionierin. Ihr Sujet sind Körpergeschichte  und Geschlechterforschung. Forschungsdisziplinen, die sie in den siebziger Jahren als eine der ersten von den USA nach Deutschland gebracht und hierzulande etabliert hat. In ihrer Arbeitsküche steht ein mit Tassen und einem Wust an Papier beladener Tisch, eine lange Tafel. Hier hat auch Ivan Illich gesessen, Dudens Lebensgefährte. Wie einst im CIDOC diente ein Tisch als Treffpunkt für Begegnungen, Literaturrecherchen und Ideen. Tische, Tafeln, das heute in den USA wieder als Topthema verhandelte „Vernaculäre“, d.h. die Gemeinschaft am heimischen Herd, bilden zentrale Ort in der Topografie von Illichs Denken. Hier in Bremen starb Illich, jahrelang durch eine Geschwulst im Gesicht gezeichnet, 2002 an Krebs. Bereits 1980 war er nach Europa zurück gekommen. Es schien, als sei  Südamerika unumkehrbar ein Opfer jener Entwicklungshilfe geworden, die zwar einer neuen und gefräßigen Mittelschicht und Bildungselite einen westlichen Lebensstandard bescheren würde, aber die Bedürfnisse der Masse der Armen komplett ignorierten.

Bis dahin aber hatte der südamerikanische Kontinent jahrzehntelang von einem ganz anderen Image gezehrt. Europäische Emigranten wie Erich Fromm oder Stefan Zweig, beide von der Staats- und Vernichtungsmaschinerie der Nazis ins Ausland getrieben, hatten es gegen die apparative, entseelte Machtlogik und Entfremdung der westlichen Kultur gestellt. Es war das Bild von Lateinamerikas distanzloser Freundlichkeit, Improvisationsgabe, Kreativität, Fröhlichkeit und Ursprünglichkeit. Sie priesen es als Kontinent der Zukunft, weil sie glaubten, dass dort ein Modell von Fortschritt möglich wäre, das die negativen Seiten des europäischen Weges in die Moderne einfach überspringen könnte. Doch alles kam anders. In früheren Jahren war Illich war drei Jahre lang mit dem Bus durch diese alte Südamerika getourt. Nun schien es zu verschwinden. In Hunderten von Untersuchungen und Publikationen dokumentierte das CIDOC den Wandel. Sie konnten zeigen, wie die Orientierung auf Bildung und Entwicklung die Masse nicht reicher, sondern ärmer und abhängiger macht und menschlich entfremdet. Nur wenige Familien hatten das Geld, ihre Kinder länger als vier oder fünf Jahre zur Schule zu schicken. Der Schaden dieser abgebrochenen Bildungskarrieren überwog ihren Nutzen. Sie zerstörten die überkommenen Selbsthilfestrukturen, predigten den individuellen Weg zum Glück und lockten mit Wohlstandsgütern, die in Wirklichkeit nur einer Minderheit zugänglich sein würden. Illich wurde zum pointiertesten Gegner dieses Bildungswahns. Schulen nannte er „Weltkirchen des Wissenskultes“.

Take 3: (Illich)

Die Schulen sind genauso unbrauchbare Mittel, um unsere Massen zu erziehen, wie Privatwagen keinen Zweck haben für den Transport unserer Menschen oder wie Doktoren und die immer mehr spezifischen Medizinen mit immer mehr spezifischen Seiteneffekten, die nur von Doktoren verwendet werden können, für unsere Bevölkerung anwendbar sind. Was wir brauchen in Südamerika ist nicht, was die hochentwickelte Welt heute uns zu verkaufen hat.

Erzähler:

Seine Werkstatt, das CIDOC, hatte Illich 1976 kurzerhand geschlossen. Die Schließung, sagte er später, sei von vornherein geplant gewesen. Wenn man etwas aufbaue, sei es wichtig, von Anfang an auch den Abbau, die Abwicklung im Auge zu behalten.  Mit den Jahren war das CIDOC zum Magneten für linke Bildungskritiker aus den USA und Europa und selbst zur Bildungsinstitution geworden. Den Sündenfall der Institutionalisierung aber wollte Illich nicht begehen. Da schon war er berühmt, seine humanistische Vision einer „Ent-Institutionalisierung“ und sein Schlagwort von der „Entschulung der Gesellschaft“ hatten sich wie ein Lauffeuer in den USA und in Westeuropa verbreitet. Hartmut von Hentig, der Doyen der westdeutschen Bildungskritik, schrieb eine Buch über Cuernavaca, publizierte Illichs Texte, und Illichs mexikanischer Freund und Nachbar, Erich Fromm, lieferte die Vorworte. Der Boden für Illichs Denken war längst aufnahmebereit. Es ist die Zeit der Apo-Generation. Sie war angetreten, um mit der autoritären Bildungskultur der Adenauerzeit abzurechnen, und ihr kam der „Pädagoge“ Ivan Illich gerade recht, der behauptete, die technischen Werkzeuge des Fortschritts und das bleierne Gewicht der institutionalisierten Menschenbildung und Bildungshierarchien zermalme Gerechtigkeit, Solidarität und Kreativität.

Aber eignet sich der Leute-Priester Ivan Illich wirklich für die Ahnengalerie der großen Pädagogen? Johannes Beck unterrichtet Erziehungswissenschaften an der Universität Bremen:  

Take 4: (Beck)

Mit Sicherheit war er nicht der große Pädagoge und wollte auch keiner sein. Er hat es eigentlich abgelehnt, sich professionell mit Erziehung zu beschäftigen. Dahinter steckt die Hoffnung, daß die Menschen, wenn sie sich versammeln, wenn sie zusammen kommen, ihre eigenen Probleme besprechen und überlegen, die richtigen Lösungen finden werden. Da können sie natürlich Hilfe erhalten, indem sie in den Dialog treten mit Menschen aus anderen Kulturen. Aber dieser Dialog kann sich ja nicht auf der Ebene der Macht abspielen. Er hat immer dort die Kritik angesetzt, wo dieser sogenannte Dialog eigentlich gar keiner war, sondern die Übertragung irgendwelcher Modelle, ob sie nun die US-amerikanischen oder die europäischen oder sonst welche sind, in andere Regionen als Kulturexport, das hat er abgelehnt. Und ich glaube, nach wie vor zu Recht.  

Erzähler:

Meist in einem Atemzug wird der Name Illichs mit dem Paulo Freires genannt. Die beiden waren einander freundschaftlich verbunden. Freire war häufig in Cuernavaca zu Gast. Auch er rechnete vor, dass das nach westlichem Vorbild implementierte Schulsystem die Masse der lateinamerikanischen Bevölkerung von Bildung praktisch ausschloss. Freire kritisierte die an ökonomischer Zweckrationalität orientierte „Bankiersbildung“ der  Regimes, setzte auf informelle Bildung und initiierte in Lateinamerika und in Afrika Kampagnen der politischen Alphabetisierung. Von der Militärdiktatur in Brasilien abgeschoben, stieg er unter dem 1973 gestürzten sozialistischen Ministerpräsidenten Salvador Allende in Chile zum Staatspädagogen auf und machte als Berater von Organisationen wie der UNESCO oder dem Weltkirchenrat Karriere, bevor er 1980 wieder nach Brasilien zurückkehren durfte. Es blieben die gemeinsamen Erinnerungen mit Illich. Noch einmal das 1970 vom WDR ausgestrahlte Interview

Take 5: (Illich)

Ich werde nie vergessen, wie ich vor fünf Jahren Paulo Freire, einen der ganz großen Erzieher aus Brasilien kennen gelernt habe. Paulo Freire. Da stand einer seiner Mitarbeiter vor zwanzig hungrigen Menschen im Sertao von Brasilien, und einer dieser hungrigen Menschen, mit der gelben Haut des Hungernden, stand auf und sagte: „Gestern, gestern konnte ich nicht schlafen, denn gestern habe ich meinen Namen geschrieben, und ich habe verstanden: 'eu sou eu', dass ich ich bin, da ich meinen Namen vor mir gesehen habe, und da habe ich verstanden, Sie haben Recht“, hat er gestottert, „wir sind zusammen verantwortlich.“ Wie ist es dem Mann gelungen, Paulo Freire, diese Leute zu lehren, ihnen lesen zu lernen unter seinen Prinzip „alfabetizar“, Alphabet, „para“, um zu  „conscientizar“, Bewusstsein zu öffnen und Bewusstsein öffnen, „para“, um zu „politizar“, politisch aktiv zu werden. Er ist durch das Dorf gegangen, hat im Dorf die zehn Worte gefunden, die dort, in dem Dorf gerade politisch kontroversiell waren, sie auf große Stücke Papier aufgeschrieben, diese Worte, der Brunnen von Don Agapitou, an dem die Armen kein Wasser holen dürfen, und die Leute eingeladen, die diese Worte diskutieren wollen, d.h. die politisch Engagierten in dem kleinen Dorf.  Diese Leute lernen innerhalb von fünf oder sechs Tagen eine Stunde am Abend ein Wort vom andern zu unterscheiden, denn es ist für sie immediat, unmittelbar wichtig, bedeutsam, die Worte, die ihnen am Herzen liegen, geschrieben vor sich zu sehen als ihre Anliegen. Solche Erziehung heute wird in ganz Südamerika von jedermann verfolgt. Es gibt heute keinen wirklichen Erzieher von Erwachsenen im tiefen Sinn in Südamerika, der nicht entweder im Gefängnis ist oder im Exil ist oder  praktisch auf das Seitengeleise geführt ist oder unter dem Bann von irgendjemandem steht. 

Erzähler:

„Wir holen Sie ab!“ Dieser seltsame bildungspolitische und pädagogische Slogan feierte  Ende der siebziger Jahre wahre Triumphe. Über keine Figur der Bildungsgeschichte wurden mehr Seminar- Zulassungs- und Diplomarbeiten geschrieben als über Paulo Freire. Es sind Myriaden. In Europa war die Apo-Parole von der Abschaffung der Bildungsinstitutionen plötzlich kein Thema mehr. Überall, wo eine neue Lehrergeneration antrat, in Schule, Sozial- oder Kulturpädagogik, wirkte die „Methode Paulo Freire“ als großes Zauberwort. Man wollte die Klienten dort abholen, wo sie standen. Hinter der uniformen Fassade des Nationalstaates entdeckte man mit einem Male eine Vielzahl von Kulturen und „Problemen“ - die der Arbeiter, Frauen, Jugendlichen, Ausländer und so weiter. Freire war auch deshalb so populär, weil er mitten in der ersten Beschäftigungskrise der 70er Jahre eine praktische Alternative bot. Sein Modell schuf ganz einfach Arbeitsplätze.

Illichs Ruhm als „Pädagoge“ war damals längst verblasst. Was verband ihn mit Freire? Worin unterschied er sich von ihm?

Take 6: (Beck)

Ich finde ja, dass sie sich sehr ähnlich sind. Ich bin ja auch ins Stottern gekommen, als ich jetzt versuchte, den wirklichen Dissens zwischen den beiden zu formulieren. Ich glaube, er bezieht sich letztlich auf einen Umgang mit der Wirklichkeit, dass Freire eine Alternative sah zur bestehenden Pädagogik mit seiner, in Anführungsstrichen gesagt, Methode. Während Illich sagt, es gibt keine Alternative dazu, die man etwa institutionalisieren könnte. Und wie mit Freire in Chile umgegangen wurde, ich sage bewusst in Chile, wo man versuchte, die Methode Freire zur Staatspädagogik zu machen unter Allende. Da konnte man erkennen, dass das nach hinten losgehen musste. Das Besondere war, dass in jeder konkreten Situation die Menschen ihre generativen Wörter, die Wörter, die ihr Leben generieren, die herausfinden und sie analysieren und an ihnen die Sprache erlernen, das lässt sich machen in einem Dorf, in einem Stadtteil vielleicht noch, höchstens, aber nicht als Staatspädagogik für alle. Und das sah Illich in gewisser Weise als Bestätigung seiner Kritik, dass er sagte, die werden immer versuchen, deine Methode, wenn sie denn irgendwo erfolgreich war, zu generalisieren, also für alle zu verwenden, und das Wesentliche, das Besondere, das Einzigartige jedes einzelnen Menschen fällt dabei unter den Tisch. Vielleicht liegt da eine wesentliche Differenz. 

Erzähler:

Nicht zuletzt standen Hartmut von Hentig und seine Bielefelder Laborschule für die Generation der 68er, die wenige Jahre später den reformistischen „Gang durch die Institutionen“ antrat. Anders als etwa in den USA wurde hierzulande seit dieser Zeit die Frage nach dem Sinn der Schule überhaupt nie wieder gestellt. Illich selbst weigerte sich trotz zahlreicher Angebote, etwa aus dem reformfreudigen Italien, Musterschulen aufzubauen. Der Kulturkritiker und vermeintliche Pädagoge wechselte das Terrain und wandte sich der Genderforschung zu. 1983 erschien sein Werk „Genus“, eine historisch begründete Auseinandersetzung mit dem Gleichheitswahn und der Homogenisierung der Welt. In die bis heute brillante und lesenswerte Geschichte des Geschlechterverhältnis war eine Frage eingezeichnet, die er in der Folgezeit immer wieder aufwarf: Warum sind wir dorthin gekommen, wo wir heute stehen?

Take 7: (Duden)

Das Buch war eine Gegenwartskritik und war eine historische Exkursion, und in dem Sinne hat er damit etwas begonnen, was er auch in andern Büchern, also in allen seinen historischen Untersuchungen in verschiedner Weise immer wieder versucht hat, nämlich eine Perspektive und Analyse der Gegenwart aus dem Standpunkt der Vergangenheit. Also er hat die Vergangenheit gebraucht, um sich dort hin zu stellen und auf die Gegenwart zu gucken und auf diese Weise eine Befremdung an der Gegenwart möglich zu machen. Er hat historisch gearbeitet aus einer Perspektive der Gegenwartskritik und der Gegenwartsanalyse. Das Historische war nie Selbstzweck. Es war immer doppelt, also etwas, was ich ja auch in meinen eigenen Arbeiten gemacht habe

Erzähler:

Illichs Buch fällt in die Zeit des aufkommenden Feminismus. Seine Ideen lagen quer zur Idee einer behaupteten weiblichen Selbstbestimmung. Von feministischen Kritikerinnen wie Alice Schwarzer wurde die Botschaft des, Zitat, „Monsignore Illich“ in der Luft zerrissen.  Auf dem Buchmarkt zwang der Zeitgeist den Autor ins zweite Glied zurück. Bald wurde die Arbeit an der mittelalterlichen Geschichte, die Mediävistik, Illichs Forschungsschwerpunkt. 1991 kommt das Buch „Im Weinberg des Textes: Als das Schriftbild der Moderne entstand“ heraus. Zu spät, wie manche glaubten. Denn zur selben Zeit diagnostiziert das Feuilleton das Ende des Buches und den „Iconic Turn“, den Bildwechsel zum Fernseh- und Computerbildschirm. Die Beschäftigung mit dem Medium der Schrift erschien als rückwärtsgewandtes Gelehrtenhobby. Kaum jemand erkannte, dass Illichs letztes Buch sein faszinierendstes war und eine Summe seines Forscherlebens. Barbara Duden

Take 8: (Duden)

Er ist zurückgegangen ins 12. Jahrhundert, und er wollte die Genese, also die Entstehung eines neuen Konzeptes untersuchen, nämlich die Entstehung des Textes, der von seiner schriftlichen Unterlage herausgelöst werden kann und dadurch etwas entsteht, eine neue Wirklichkeit, nämlich der Text an und für sich. Das Buch heißt ja „Im Weinberg des Textes“, weil er frömmigkeitsgeschichtlich auf das Einmalige, was damals unterging, hinweisen wollte, nämlich, dass das Wort Gottes aus der Bibel verlautbart werden muss und in diesem Sinn vergegenwärtigt und damit diese lauten Murmler, die sich Gott zuwenden, indem sie von den Seiten das Köstliche, also damit auch das Körperliche, durch das Sprechen geschmacklich das Wort Gottes in den Mund genommen und verlautbart wird, durch die Töne noch mal eine andere Form der Wirklichkeit wie das schweigende Lesen entsteht. Er hat ja lange über die Geschichte der Mündlichkeit gearbeitet und dann [über] den Umbruch in der Schriftlichkeitsgeschichte des 12. Jahrhunderts durch die Entstehung des sichtbaren Textes, den man schweigend verinnerlichen kann. 

Erzähler:

Wenige erkannten, wie konsequent Illich in diesem Buch an seine Aktivitäten und sein Denken in den 70er Jahren anknüpfte. Während der gesellschaftliche Mainstream sich in der Zeit, als der Eiserne Vorhang fiel, für Multikulti begeisterte und interkulturelle Pädagogen das friedliche Miteinander von Einheimischen, italienischen Pizzabäckern und türkischen Dönerverkäufern zum Leitbild erhoben, kam Illich auf sein altes Thema zurück. Ihm ging es nicht um ein paar Freundlichkeiten, sondern um Wahrnehmung, um die geheime Macht der selbstverständlich gewordenen Bilder im Kopf der eigenen Kultur. Wie wäre dem schwierigen Eigenen und der eigenen Gegenwart beizukommen? Das war die Frage. Illichs Antwort lautete: Alterität, Befremdung des Eigenen. Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte sollte ein Standpunkt der befremdenden Distanz, Beobachtung und Kritik gefunden werden. Die Gegenwart und ihre Fragen trieben Illich an, europäische Vergangenheit und europäisches Fortschrittsdenken zu erforschen.

Illich ging dafür zurück in die Zeit des Mittelalters, weil er in dieser Zeit eine oder sogar die entscheidende Bruchstelle der abendländischen Geschichte entdeckt hatte. Damals bildeten sich Städte und die moderne Geldwirtschaft heraus. Die einfachen personalen Beziehungen des frühen Mittelalters, die Gemeinschaft von Haus und Kloster, wurden durch komplexere und anonymere Gesellschaftsstrukturen abgelöst. Medien entstanden und schoben sich als anonyme Vermittlungsinstanzen zwischen die Menschen: Institutionen, Bürokratien, Hierarchien und gotische Kirchtürme erhoben sich himmelwärts. Geld löste den Tauschhandel ab. Kaufleute  kalkulierten nicht mehr mit dinglichen Rechensteinen, sondern mit der Null, einer abstrakten Größe. Die Anfänge des Buchdrucks zeichneten sich ab und verhießen eine große mediale Zukunft. Und mehr und mehr sah die Gemeinde, wenn der Priester beim Abendmahl die Hostie hochhielt, nicht mehr den leibhaftig zu ihr gekommenen Christus, sondern nur noch ein Symbol.

Illich beschreibt diesen Umbruch von der, wie er sagt, mönchischen zur scholastischen Kultur vor allem an den Schreib- und Lesegewohnheiten. Der in der Gemeinschaft des Klosters fließend durchgeschriebene und gemurmelte Text wurde wie ein Körper genossen und einverleibt. Aber schon bald änderten sich seine Form und Funktion. Er wurde mit Überschriften, Fußnoten und Registern so durchstrukturiert, dass er leise gelesen werden konnte und sich zum Nachschlagewerk verwandelte. Vom Weinberg, in dem die Mönche herumspazierten zum Bergwerk, in dem die Gelehrten schürften, das war der Weg, den die Texte im Abendland nun einschlugen.                   

Illich hat in seinem letzten Buch nicht nur das Mittelalter und den damaligen Wandel der Schriftkultur als Dreh- und Angelpunkt des interkulturellen Vergleichs entdeckt. Im Kern ging es bei seinen Untersuchungen um eine ganz aktuelle Auseinandersetzung. Es ging ihm um eine Kritik der modernen Bildmedien und der Wahrnehmung. Als er den Weinberg des Textes veröffentlichte, hielt er an der Universität Oldenburg Vorlesungen zur Bildkritik. Illich sprach vor seinen Studenten über ein Foto, das er einst im Amazonas einer Gruppe Indianer gezeigt hat. Das Bild zeigte deren Großvater. Aber weil menschliche Wahrnehmung eben ein Akt des Verstehens ist, eine kognitive Fähigkeit des Menschen, ist Wahrnehmung immer auch historisch und kulturell bedingt. Genau das will Illich zeigen. Und so sahen die Eingeborenen auf dem Foto ganz anderes als wir Mitteleuropäer.   

Take 9: (Illich)

Sie glauben, es sind Wolken, dann drehen sie's um und sagen: „ach nein, das ist Laub“. Sie sehen ein schmutziges Papier. Sie sind nicht gewohnt, erstens mal Dreidimensionales auf zwei Dimensionen zu projizieren, zweitens nicht daran gewohnt, im Bild etwas zu sehen. Und es ist an mehreren Stellen der Welt vorsichtig untersucht worden, dass es Tage, Wochen der Gewöhnung braucht, um herauszufinden, dass das die Nase des Großvaters sein könnte, dass man also dieses schmutzige Papier auf Großvater hin interpretieren könnte.

Erzähler:

Als Illich 1991 in Oldenburg seine Vorlesungen hält und wie einst in Cuernavaca studentische Frühstücksrunden und Spaziergänge organisiert, bricht der erste Golfkrieg aus. Am Fernseher verfolgen die Studenten die Videobilder aus der Zieloptik der Bagdad bombardierenden Bomber.  Welche Realität und welche Aufklärung vermitteln die Fernsehschirme? Was ist die Mission der militärischen Mission der USA? Welche Botschaften aus dem Himmel über dem Irak sendet das Medium Fernsehen? Welches Spiel spielt die abendliche Versammlung um den telematischen Hausaltar mit den Betrachtern? Illich kommt von der Schrift- und Bildkritik zur Medientheologie und sieht den westlichen Medien- und Bildschirmdemokratien etwas Animistisches anhaften.

Take 10: (Illich)

Da ist der Gegensatz wahnsinnig groß gegenüber den Studenten, die da vor mir saßen, die daran gewöhnt sind, relativ wenig, Dinge, die fassbar sind, das heißt mit den Fingern berührt werden können, die greifbar sind, an denen man sich anstoßen kann, die anstößig sind, im eigenen Leben zu begegnen. Das meiste, was ihnen wichtig erscheint, erkennen sie ja nur jenseits einer Glaswand. Sie leben sozusagen in einem Glaskäfig und machen dann dieses kulturell bedingte Urteil, ich habe heute Herrn Bush, Herrn Kennedy, E.T. gesehen. Sie sehen ja nicht die Figuren. Sie sehen Herrn Bush. Sie sehen Herrn Kohl. So sprechen sie darüber, wenn man ihnen zuhört, dass sie von Geistererscheinungen umgeben sind, dass sie wirklich glauben, dass über Medien Sichtbares, etwas, das gesehen werden kann, übertragen wird. Meine Mexikaner, die unter Geistern leben, „la gente del tiempo, la gente del otro tiempo“, die, die früher hier gelebt haben, Leute, die das tun, die so mit Selbstverständlichkeit im Dorf leben, halten wir für verrückt. Es ist das Spiegelbild davon. Nur in einer monströs enormen Art sind eben moderne Studenten animistisch, denen man erst einen Kurs geben muss, zum ihnen verständlich zu machen, wie wenig sie sehen. Denn sehen geht ja mit Augen und Ohren und dem Nacken, wenn ich ihn umbiege, um Sie von der anderen Seite zu sehen, und den Füssen vor sich. 

Erzähler:

Ein altes Argument Illichs tauchte wieder auf. Schon in Lateinamerika hatte er das Versprechen der Pädagogen und Entwicklungstheoretiker, Bildung und Wissen ebneten den Weg zu Reichtum und Glück, als moderne Ersatzreligion kritisiert. Er, der Jesuit, setzte stattdessen auf die Fähigkeit der Menschen eine gemeinsame Sprache zu finden. Illich sprach acht Fremdsprachen fließend, darunter auch Hindi. Das Erlernen von Sprachen beschrieb er als Schule der Demut gegenüber dem Anderen und Fremden. Mehr als einen gastlichen Tisch, seinen Laptop und ein paar Notizblätter brauchte er für sein Konzept fundamentaler Menschenbildung nicht. Notizen fertigte er am liebsten in Latein, der Logik wegen.

Heute verlässt die Lehrer-Generation der siebziger Jahre Schulen und Universitäten. Das seit den sechziger Jahren kursierende Wort von der Bildungskatastrophe hat an seiner Bedeutung nichts eingebüßt. Im Gegenteil. Mit PISA und betriebswirtschaftlichen Instrumenten versuchen Bildungsplaner die Institution Schule zu optimieren. Ob der Fehler nicht systemisch sei, ob es nicht an der Institution Schule selbst und den ihr übergestülpten Leit- und Zukunftsbildern liegen könnte, dass die Bildungsdebatte nicht vom Fleck kommt, hat seit Ivan Illich nie wieder jemand gefragt. Aber scheinbar plötzlich und unerwartet beginnen die Verlage, Texte von und über Illich wieder neu aufzulegen. So als käme Illichs große Zeit erst noch:

Take 11: (Duden)

Ich glaube, es gibt wenige Autoren, die ihrem Leser etwas schenken, nämlich dass sie im Lesen einen wirklich neuen und ihnen überraschenden Standpunkt einnehmen können, nicht dadurch, dass er einen nach und nach von etwas überzeugt, sondern dadurch dass man dem Autor begegnet, der ganz woanders steht, einfach grundlegend woanders steht, als wie man sich das vorher vorstellen konnte. Und diese Begegnung, dass jemand die herkömmliche Sicht tatsächlich umstülpt und dass Sie als Leser nicht anders können, als dem erst mal zu folgen oder sich dem auszusetzen, ich meine, dass das einer der Gründe ist, warum man ihn wieder lesen sollte.

Erzähler:

Ivan Illich, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre und am Ende seines Lebens sogar wieder in der Kirche gesehen worden sein soll, wirkt so frischer und aktueller denn je. Wenn es ein Erbe Illichs gibt, dann ist es seine Fähigkeit, um der Nähe willen kritische Distanz zu schaffen und auch das Selbstverständliche mit befremdendem Blick zu betrachten.