8risikenIII-wirkkraft : Das Andere, das Fremde

PA4-12-8risikenIII-wirkkraft.4.Anderssein , Islam , Amok (Strasser, Amipur)

4 Anderssein ( Strasser, Amipur )

Johano Strasser, geb. 1939 in Leeuwarden (Niederlande). Promotion in Philosophie
Katajun Amirpur, Professorin „Islamische Studien/Islamische Theologie“, Akademie der Weltreligionen an der Universität Hamburg,

- Das Andere, das Fremde, gegen das wir uns abgrenzen, ist zumeist längst Teil unseres Selbst. Wer Europa als das christliche Abendland meint neu begründen zu können und deshalb die mehrheitlich islamische Türkei aussperren möchte, der sollte sich an den Reichtum der europäisch-islamischen Kultur in Spanien erinnern oder sich nur einmal in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg oder Neukölln oder in der Banlieu von Paris oder in Finsbury Park im Norden Londons umsehen. Wenn er zur lesenden Minderheit gehört, könnte er sich auch darauf besinnen, in welchem Maße die groß europäische Literatur sich aus heidnisch-antiken und aus östlichen Quellen speist. Was wäre unser europäisches Theater ohne Aischylos, Sophokles oder Euripides? Was unsere Philosophie ohne Platon, ohne Aristoteles und Cicero? Für Dantes Göttliche Komödie, einen der Grundtexte des angeblich so ausschließlich christlichen Abendlandes, gibt es ebenso arabisch-muslimische Quellen wie für viele der schönsten Gedichte und Lieder der okzitanischen und katalanischen Troubadourliteratur. Bocaccios Decamerone und Chaucers Canterbury Tales, die die Erzähltradition Europas über Jahrhunderte geprägt haben, knüpfen – nicht nur in der Erzählstruktur, sondern zum Teil auch im Inhalt – an indische, persische, arabische Werke an.
Und wer die Teilung des Römischen Reiches für einen Fingerzeig Gottes nehmend gar die byzantinisch geprägte Orthodoxie zum Nichteuropa erklärt, der müsste konsequenterweise nicht nur die Wiege Europas und das Ursprungsland der europäischen Demokratie, Griechenland, ins Außen verbannen, sondern auch einen Großteil dessen, was Venedig oder Ravenna zu so faszinierenden europäischen Städten macht: das Werk byzantinischer Architekten und Künstler, zum Teil im Zuge des Vierten Kreuzzugs aus dem eroberten Konstantinopel zusammengeraubt wie die Pferde am Markusdom in Venedig. Und erst recht Russland, das mit seiner Literatur – Puschkin, Gogol, Dostojewski, Turgenjew, Tschechow, Tolstoi, Babel –, seiner Malerei – Kandinsky, Chagall – und seiner Musik – Rachmaninoff, Rimski-Korsakoff, Tschaikowski – den europäischen Bildungskanon so sehr bereichert hat.
- Vielleicht wäre es da dann doch besser, europäische Reinheitsgebote nur auf Bier und Wein und andere Nahrungsmittel anzuwenden und sich ansonsten damit abzufinden, dass es den einfachen Weg zur europäischen Identität über die Ausgrenzung und Abstoßung des Anderen nicht gibt.

Zu den Stärken Europas gehört die Vielfalt seiner Sprachen und Kulturen. Aber Stärken können sich, wenn man sie nicht zu nutzen weiß, in Schwächen und Hindernisse verwandeln. Es scheint, dass die meisten Europäer noch immer nicht begriffen haben, dass bei aller Notwendigkeit des gemeinsamen politischen Handelns die europäische Einheit vernünftigerweise nur als Einheit in der Vielfalt gedacht werden kann. Allerdings – auch das sollte nicht übersehen werden – ist
Vielfalt nur fruchtbar, wenn sie dialogische Vielfalt ist. Das aber heißt, der Reichtum der europäischen Kultur, das große Potenzial der kulturellen Vielfalt kann nur dann seine volle Kraft entfalten, wenn die Völker und Kulturen Europas sich wechselseitig genauer wahrnehmen, als das zur Zeit der Fall ist.

Kaum etwas am US-amerikanischen Lebensstil, an der US-amerikanischen Trivialkultur, worüber gebildete Europäer so oft die Nase rümpfen, das nicht Fleisch von unserem Fleische, nicht auf europäische Quellen zurückzuführen wäre! Selbst jene unappetitliche Mischung aus Sendungsbewusstsein und plattestem Egoismus, aus Naivität und Brutalität, mit der die USA so oft in Mittel- und Südamerika und am Persischen Golf auftreten, ist uns Europäern aus der eigenen imperialistischen Vergangenheit nur allzu vertraut.
Auf den Trümmern so vieler zerstörter Städte, auf Bergen von Leichen, aber mit der Kraft, der Zuversicht und Beständigkeit, zu der nur Liebende fähig sind, die durch die Hölle gegangen sind.

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- Was ist also Europa? Wer heute diese Frage stellt, provoziert leicht hitzige Antworten, die alle darauf hinauslaufen, Europa zu begrenzen, zu sagen, was es nicht ist, was nicht dazu gehört: die Türkei zum Beispiel oder Russland oder die Ukraine. Wenn wir wissen wollen, wer wir sind, ist Abgrenzung immer noch unser erster Reflex. Aber das Andere, das Fremde, gegen das wir uns abgrenzen, ist zumeist längst Teil unseres Selbst und Teil eines Europa, das es wieder zu entdecken gilt, und zwar mithilfe der Literatur. Johano Strasser, Schriftsteller, Publizist und Politologe, plädiert für ein anderes, weltoffenes und tolerantes Europa.

- Europa, der zerklüftete westliche Rand des alten eurasischen Kontinents, war schon immer mehr Idee als harte, kompakte Realität. Nach Osten hin sperrangelweit offen, nach Süden mit Leichtigkeit das Mittelmeer überspringend, war Europa von alters her vielen fremden Einflüssen ausgesetzt. Europa konnte sich gar nicht abgrenzen, ihm blieb nichts anderes übrig, als das Fremde in sich aufzunehmen und aus vielen verschiedenen Quellen seine eigene Kultur zu formen. Was am Ende dabei herauskam, die europäische Hochkultur „von Shakespeare bis Benz, Mozart bis Curie, Strindberg bis Einstein, von Dürer bis zu den Beatles“, schreibt Matthias Greffrath, ist heute „globaler Menschheitsbesitz“, nichts spezifisch Europäisches also, worauf man sich, wenn es um unsere Identität geht, berufen könnte. Längst ist auch das Christentum, auf das sich Novalis noch beziehen konnte, nicht mehr die große Klammer, von der her sich Europa als Einheit verstehen ließe