Soziale Beziehungen - Europa (E. Marcon, F.Heidenreich)

 

SKILLs Modell (Macron, Heidenreich, Prankl, 2018)

SKILLs:

https://www.linguee.de/englisch-deutsch/uebersetzung/skills.html
Können nt
All competitors showed great skills, but only one could win. — Alle Wettbewerber zeigten großes Können, aber gewinnen konnte nur einer.
Fähigkeiten pl
Future employees are selected according to their skills. — Zukünftige Mitarbeiter werden nach ihren Fähigkeiten ausgewählt.I received an attestation of my skills. — Ich erhielt eine Bescheinigung über meine Fähigkeiten.
Fertigkeiten pl
Future employees are selected according to their skills. — Künftige Mitarbeiter werden anhand ihrer Fertigkeiten ausgewählt.I am always learning new skills. — Ich lerne immer neue Fertigkeiten.
Kenntnisse pl
He acquired many of his skills at university. — Er hat viele seiner Kenntnisse an der Universität erworben.
Qualifikationen pl
For some jobs, certain professional skills are necessary. — Für manche Jobs sind bestimmte berufliche Qualifikationen nötig.:
Kompetenzen pl
Qualitäten pl Künste pl Geschicke pl


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Diskurs SWR2-Kooperation  A-Z >
Soziale Beziehungen - Europa (E. Marcon, F.Heidenreich)
dp-swr2-18-6-marcon-heidenreich
https://www.swr.de/swr2/programm/
https://de.wikipedia.org/wiki/Emmanuel_Macron
*) Amartya Sens 
https://de.wikipedia.org/wiki/Amartya_Sen;
http://www.kultur-punkt.ch/unsere-philosophie/demokratie-als-herausforderung/gerechtigkeit-honneth-i-ii.html

SWR2 Wissen: Aula. Felix Heidenreich . Das Phänomen Macron . Hoffnungsträger für Frankreich und Europa

Von Felix Heidenreich . Sendung: Sonntag, 10. Juni 2018, 8.30 Uhr . Redaktion: Ralf Caspary .Produktion: SWR 2018
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Autor
Felix Heidenreich studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Geschichte. Er arbeitet seit 2005 als wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart. Im akademischen Jahr 2017/2018 ist er auf den von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Alfred-Grosser-Lehrstuhl an der Elitehochschule SciencesPo geladen. Seine mit Gary S. Schaal verfasste „Einführung in die Politischen Theorien der Moderne“ erschien in Deutschland drei Auflagen und als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, auf Französisch und Spanisch. Weitere Publikationen beschäftigen sich mit den Themen politische Emotionen, Vorstellungen der Souveränität sowie aktuellen Fragen der Demokratietheorie.

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ÜBERBLICK
Ein dynamischer und zugleich intellektuell überragender Präsident hat das Bild unseres Nachbarlandes in Deutschland um 180 Grad gedreht. In Frankreich findet plötzlich eine Revolution statt, Macron will das Land und die EU reformieren. Doch wie tickt er, was sind seine Ziele?
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Lektürehinweise:
– Macrons Reden stehen auf der Homepage des Elysée-Palastes zur Verfügung. (www.elysee.fr). Die französische Botschaft in Berlin stellt auf ihrer Homepage teilweise auch deutsche Übersetzungen zur Verfügung.
Weitere Publikationen:
– Dosse, François, Le philosophe et le président - Ricoeur et Macron, Paris 2017.
– Macron, Emmanuel, Révolution, Paris 2017.
– Monteil, Pierre-Olivier, Macron par Ricoeur - Le politique et le philosophe, Paris 2017.
– Ricoeur, Paul, La Mémoire, l'Histoire, l'Oubli, Paris 2003.
> Paul Ricœur
(* 27. Februar 1913 in Valence; † 20. Mai 2005 in Châtenay-Malabry) war ein französischer Philosoph.
Ricœur beschäftigte sich vor allem aus phänomenologischer und psychoanalytischer Perspektive, in immer neuen Bewegungen hermeneutischen Erschließens, mit dem menschlichen Wollen; mit den Symbolen, in denen es sich ausdrückt; mit der sprachlichen Produktion in Dichtung und Erzählung und schließlich mit den Grundbegriffen der Geschichtswissenschaft. Sein Denken war stark von
> Gabriel Marcel, Edmund Husserl, Karl Jaspers, Martin Heidegger und Sigmund Freud  und Jacques Lacans <
beeinflusst, nahm aber ebenso die Anregungen verschiedener Spielarten des Strukturalismus und der angelsächsischen sprachanalytischen Philosophie auf.
In seinem Buch von 1969, Le conflit des interpretations 
> Hermeneutik und Strukturalismus und Hermeneutik und Psychoanalyse <
setzt er sich in zahlreichen Aufsätzen mit der Psychoanalyse, mit dem Strukturalismus und schließlich mit der philosophischen
> (Heidegger) und theologischen (Bultmann)
Hermeneutik auseinander. Als universales Erklärungsmodell lehnt er den Strukturalismus zwar ab, besteht aber auf dem
> Eigenwert strukturaler Analysen als Teil der hermeneutischen Erschließung eines Problems.
Schließlich veröffentlichte er noch im Jahr vor seinem Tod Wege der Anerkennung über die
> Anerkennung als Grundlage sozialer Beziehungen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Beziehung

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Aula: Macron - Hoffnungsträger für Frankreich und Europa?

Einführung
Aussöhnung zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern
Nach Ansicht vieler politikwissenschaftlicher Beobachter prägt eine neue Spaltung die modernen, westlichen Gesellschaften, die den Prozess einer ökonomischen und kulturellen Globalisierung durchlaufen haben. Zum einen gibt es die "anywheres": sie können – daher ihr Name – „wo auch immer leben“, haben hohe Bildungsabschlüsse, sprechen mehrere Sprachen. Für sie erweitert die Globalisierung den Horizont der Chancen. Ihr Arbeitsmarkt ist global. Nationen haben für sie keine große Bedeutung mehr.
Ganz anders sieht das Leben der "somewheres" aus. Sie fühlen sich "verwurzelt", können weniger Fremdsprachen, haben wenig Kompetenzen und Talente, die auf dem globalen Arbeitsmarkt gefragt sind. Sie fühlen sich wohl in ihrer Heimat und wünschen sich, dass diese Heimat so bleibt, wie sie sie von ihren Eltern geerbt haben. Somewheres sind keineswegs automatisch fremdenfeindlich oder borniert. Sie engagieren sich in der Freiwilligen Feuerwehr und in der Blaskapelle. Dass die Zeit der Nationen zu Ende sein soll, kommt ihnen wie ein Hirngespinst vor. Für sie ist die Nation immer noch eine Schicksalsgemeinschaft.
In immer neuen Varianten versucht Macron die Vision einer Globalisierung zu entwerfen, von der nicht nur die anywheres profitieren.
Präsident Macron in Davos, 2018
Präsident Macron beim Weltwirtschaftsforum in Davos am 24. Januar 2018
.In Davos formulierte er: "Wenn es nicht gelingt, die Menschen von den Vorteilen der Globalisierung zu überzeugen, werden die Nationalisten gewinnen – und nicht nur in Frankreich."
Dabei ist ein Umstand entscheidend: Macron hat nie den Kontakt mit den sogenannten einfachen Leuten gescheut. Die Anekdoten, wonach Macron derjenige war, der als Student an der Elitehochschule ENA in Straßburg den Pförtner nach den Kindern fragte und die Putzfrau mit Küsschen begrüßte, sind durchaus glaubwürdig. Fest steht, dass Macron keiner Begegnung mit den somewheres aus dem Weg geht.
Legendär ist sein Auftritt im April 2017 bei den Arbeitern einer Fabrik der Firma Whirlpool in Amiens im Norden Frankreichs, deren Produktionsstätte nach Polen verlegt werden sollte. Das Video, das Macron unermüdlich in der Menge diskutierend zeigt, ging durch Frankreich wie ein Lauffeuer.
Macron redete vor den aufgebrachten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber er redete ihnen eben nicht nach dem Mund: Man könne nicht einfach alles verstaatlichen erklärt er. Vor allem aber: Er erklärt. (Felix Heidenreich)
Vision eines selbstbewussten Europa
In einer Rede zeichnet Macron das Bild eines europäischen Kontinents, der von zahlreichen äußeren Mächten in seiner Freiheit bedroht wird. Nicht nur die Internet-Riesen und Finanzmärkte, auch Russland und die USA werden hier mehr oder weniger explizit als Gefahren für die europäische Selbstbestimmung benannt. Die angemessene Antwort darauf lautet, so Macron: Die Dinge selbst in die Hand nehmen, und zwar als Europäer, gemeinsam.
Er fordert eine europäische Digitalisierungspolitik, Energiepolitik, Sicherheitspolitik und Migrationspolitik. Der entscheiden Konfliktpunkt betrifft dabei bekanntlich eine mögliche Transferunion, die die aktuellen Formen der Aufteilung von Risiken offiziell verstetigen würde.
Die EU ist nicht der Unterdrücker nationaler Souveränität, so die These, sondern das angemessene Instrument zur Ausübung europäischer Souveränität. Konkret werden diese Vorschläge darauf hinauslaufen, dass eine Gruppe von EU-Staaten eine Avantgarde bildet, und andere Staaten bestimmte Integrationsschritte später nachholen können. (Felix Heidenreich)
Starke Demokratie gegen Populisten
In Deutschland, aber auch in Großbritannien wird ein Aspekt in Macrons Politik mit besonderem Interesse verfolgt: seine offensive Auseinandersetzung mit dem Populismus. Die Formel, die er hierfür geprägt hat, lautet: Die Herausforderung einer autoritären Demokratie begegnen wir durch die Wiederherstellung der "Autorität der Demokratie". Der demokratische Rechtsstaat, so die Diagnose, habe sich in manchen Bereichen zu lange auf der Nase herumtanzen lassen. Frustrierte Demokraten wird man nur wieder ins Spektrum demokratischer Parteien zurückholen können, wenn man das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Demokratie wieder herstellt, so seine These. (Felix Heidenreich)
Felix Heidenreich
Felix Heidenreich studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Geschichte. Er arbeitet seit 2005 als wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart. Im akademischen Jahr 2017/2018 ist er auf den von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Alfred-Grosser-Lehrstuhl an der Elitehochschule SciencesPo geladen. Seine mit Gary S. Schaal verfasste "Einführung in die Politischen Theorien der Moderne" erschien in Deutschland drei Auflagen und als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, auf Französisch und Spanisch. Weitere Publikationen beschäftigen sich mit den Themen politische Emotionen, Vorstellungen der Souveränität sowie aktuellen Fragen der Demokratietheorie.
Stand: 8.6.2018, 13.01 Uhr

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ÜBERBLICK
Ein dynamischer und zugleich intellektuell überragender Präsident hat das Bild unseres Nachbarlandes in Deutschland um 180 Grad gedreht. In Frankreich findet plötzlich eine Revolution statt, Macron will das Land und die EU reformieren. Doch wie tickt er, was sind seine Ziele?

MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: „Das Phänomen Macron – Hoffnungsträger für Frankreich und für Europa?“ Am Mikrofon Ralf Caspary.
Ein unglaublicher Typ! Er ist Pianist, Autor eines noch nicht publizierten Romans, er absolvierte zwei Elite-Hochschulen mit Bravour, er hat einen Abschluss in Philosophie, arbeitete als Banker, wurde dann zum Staatspräsidenten Frankreichs gewählt und verspricht seitdem eine Reform nach der anderen. Es scheint, als ob er anstrebe, dass sich mit seiner Amtszeit eine Revolution verbinden würde, die auch die EU betreffen soll.
Doch wie tickt dieser Mann, welche Ideen treiben ihn an, welche Ziele hat er? Die Antworten gibt Dr. Felix Heidenreich, Sozialwissenschaftler an der Universität in Stuttgart.
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Felix Heidenreich:
„Was ist denn bloß in Frankreich los?“ Über Jahre waren die Antworten auf diese Frage geprägt von Diskussionen über die Unruhen in den französischen Vorstädten, über die hohe Staatsverschuldung, die erdrückende Jugendarbeitslosigkeit und das offensichtlich wenig erfolgreiche Ausbildungssystem. Das ungeschickte Verhalten von Nicolas Sarkozy und François Hollande beschädigten zudem das Ansehen des Präsidentenamtes. Der erste versuchte, als Promi-Star künstlichen Glamour zu produzieren, und wurde für sein „Bling-bling“ verlacht; der zweite wollte ein „ganz normaler“ Präsident sein und schien vielen am Ende nur noch mittelmäßig. Aber diese Probleme auf der symbolischen Ebene waren nicht der einzige Grund für ein in Deutschland bisweilen schräges Frankreich-Bild. Die schrecklichen Terroranschläge in Paris und Nizza zeigten ein Land, das sich phasenweise am Rande des Bürgerkriegs zu bewegen schien. Nach dem Brexit und der Wahl Donald Trumps trieb manche in Deutschland die Angst um, Marine Le Pen könnte tatsächlich Präsidentin werden, eine völlig unrealistische Befürchtung, wie sich schnell bestätigen sollte.
Und heute? Ein junger, dynamischer und zugleich intellektuell überragender Präsident hat das Bild unseres Nachbarlandes in Deutschland beinahe um 180 Grad gedreht. In Frankreich ist nun plötzlich, glaubt man den deutschen Medien, etwas ganz anderes los. In Rekordzeit gründete Emmanuel Macron zunächst eine Bewegung, dann eine Partei. Ausgestattet mit großer Legitimität setzt er in Windeseile und teilweise durch die direkte Verordnung grundlegende Reformen durch. Aber mehr noch: Sein charismatisches Auftreten erfüllt viele Franzosen mit Stolz. Der neue Präsident verfügt über eine breite Bildung, ist Pianist, spricht fließend Englisch und hat beinahe alle akademischen Trophäen eingesammelt, die das französische System der grandes écoles zu bieten hat.
Während die politische Konkurrenz des Front national und der neuen Partei „Die Republikaner“ im Begriff ist, sich selbst in Flügelkämpfen zu zerlegen, stiehlt Emmanuel Macron in Davos einer geschwächten Angela Merkel die Show und verkündet weitreichende Pläne für die Zukunft der EU. Schon wird er von manchen als ein mögliches Modell für den erfolgreichen Umgang mit Populisten gehandelt. Sein Ansatz, der Versuchung einer autoritären Demokratie durch die Wiederherstellung der „Autorität der Demokratie“ zu begegnen, scheint einen kritisierbaren, aber zumindest einen kohärenten Ansatz darzustellen.
Gerade in Deutschland gibt es also Grund, genauer hinzusehen. Was können wir von Macron selbst, aber auch vom Medienphänomen Macron lernen? Wird in Frankreich gerade ein Modell für eine erfolgreiche Form demokratischer Politik für die kommenden Jahrzehnte entwickelt? Wie hat es Macron geschafft, die Populisten in ihre Schranken zu weisen? Und welche Ideen, welche „Philosophie“ steht beim Philosophen Emmanuel Macron eigentlich im Hintergrund?
Macron der Redner
Wer versucht, sich systematisch einen Überblick über Macrons Denken und Handeln zu verschaffen, steht vor einem ganzen Berg von Material. Macron hat nicht nur selbst ein Buch geschrieben – bezeichnenderweise mit dem Titel Revolution –, sondern gleich eine ganze Serie von Grundsatzreden geliefert: Die Antrittsrede vom Mai 2017, die geradezu pompös inszenierte Rede vom 3. Juli 2017 in Versailles, die
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große Rede vom 26. September 2017 in der Sorbonne, eine ausführliche Rede zum Thema Politik und Literatur, die er am 12. Oktober 2017 zur Eröffnung der Buchmesse in Frankfurt hielt, eine Grundsatzrede zum historischen Erinnern anlässlich des deutsch-französischen Erinnerungsortes am Hartmannswillerkopf vom 12. November 2017, die mit stehenden Ovationen gefeierte Rede beim Weltwirtschaftsforum vom 24. Januar 2018, die Rede im Europarlament in Straßburg vom 17. April 2018, die Rede vor dem amerikanischen Kongress vom 26. April 2018, zuletzt die Dankesrede anlässlich der Verleihung des Karlspreises vom 10. Mai 2018. Und in dieser Aufstellung sind wohlgemerkt zahllose weitere Grundsatzreden, die Macron in China, Australien oder den Maghreb-Staaten gehalten hat, nicht aufgenommen.
Es ist wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass Macron auch in der Produktion von Grundsatzreden ein bisher ungekanntes Tempo vorlegt und innerhalb von zwölf Monaten mehr Visionen formulierte als manche seiner Kollegen und Kolleginnen in zwölf Jahren.
Wie aber lässt sich in all diesem Material ein roter Faden finden? Was hält den „macronsime“, wie man in Frankreich sagt, zusammen? Immer wieder wird ihm ein „Kern aus Stahl“ unterstellt, der unter der charmanten Oberfläche stecken soll. Aber was genau will Macron eigentlich?
Macron der Philosoph
Wenn man die Frage nach Macrons Weltbild und Politikverständnis stellt, wird man, zumindest in Frankreich, sehr schnell auf den Philosophen Paul Ricoeur verwiesen. In Frankreich ist, anders als in Deutschland, Philosophie ein Pflichtfach an den Schulen. Die Philosophie steht hoch im Kurs. Im französischen Selbstverständnis spielen die großen Denkerinnen und Denker neben den Literaten eine zentrale Rolle. Die kurze Phase einer Zusammenarbeit zwischen Emmanuel Macron und dem damals schon sehr alten Paul Ricoeur nimmt daher in den Analysen der Beobachter eine Sonderstellung ein.
Ricoeur hatte in deutscher Kriegsgefangenschaft begonnen, die Werke von Edmund Husserl zu übersetzen. Sein umfangreiches Werk hat wichtige Beiträge zur Theorie der Metapher zur philosophischen Hermeneutik aber auch zur Theorie der kollektiven Erinnerung geleistet. Er gehört unbestritten zu den ganz großen französischen Philosophen des 20. Jahrhunderts.
Als Macron noch Student an der Elitehochschule Sciences Po war, vermittelte der Dozent François Dosse, selbst Autor einer großen Studie über die Geschichte des Strukturalismus und Biograph Ricoeurs, den herausragenden Studenten Macron an Paul Ricoeur. Denn der schon greise Philosoph suchte zu diesem Zeitpunkt eine Art persönlichen Assistenten. Und so kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit. Macron redigierte Texte, ergänzte Fußnoten und diskutierte Ricoeurs letztes großes Werk, eine umfassende Studie über Erinnerungspolitik. Zahlreich sind inzwischen in Frankreich die Bücher, die versuchen, aus dieser Zusammenarbeit Rückschlüsse auf Macrons philosophische Prägungen zu finden. Aristoteles hatte Alexander den Großen ausgebildet, den jungen genialischen Retter der griechischen Welt. Steht es mit Ricoeur und Macron nicht ähnlich?, fragen manche Autoren.
Erinnerung als Versöhnung
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In der Tat: Immer wenn Macron davon spricht, über eine Veränderung des Gedenkens eine Aussöhnung zu versuchen – beispielsweise bezüglich des Algerienkrieg oder der Kolonialgeschichte –, sind deutlich Motive aus Ricoeurs Arbeit zu erkennen. Für Ricoeur war vor allem der Versöhnungsprozess in Südafrika nach dem Ende der Apartheid ein vorbildliches Beispiel dafür, dass eine bewusste Form des kollektiven Erinnerns dazu dienen kann, historische Schuld und die aus ihr resultierenden Konflikte zu überwinden. Auch für Frankreich scheint dies bezogen auf den Algerienkrieg eine aktuelle Aufgabe.
Aber eine historische Versöhnung mit sich selbst betrifft nicht nur die Kolonialgeschichte. Macron will Frankreich insgesamt eines positives Selbstbild verleihen, dass zugleich die eigenen Schattenseiten und historischen Fehltritte nicht verdrängt. Wir dürfen stolz auf uns sein, so seine Nachricht, auch wenn wir um die dunklen Kapitel unserer Geschichte wissen. Insgesamt, so Macrons immer wieder formulierte Botschaft, ist Frankreich der weltweite Sonderfall einer Mischung aus Hochkultur, Menschenrechten und Demokratie.
Zweitens verbindet Ricoeur und Macron eine Wertschätzung und Pflege der Sprache. Zwar kritisieren manche eine hohe Dichte von Anglizismen, die vor allem aus der Welt der Startups stammt und die sich bei Macron immer dann einschleicht, wenn von der ökonomischen Zukunft die Rede ist. Doch ansonsten müssen selbst politische Gegner einräumen: Macron produziert nicht nur sehr viele Grundsatzreden, sondern auch sehr gute. Stets schafft er es, den richtigen Ton zu treffen, so auch beim Staatsbegräbnis für den Polizisten Arnaud Bertrame, der sich während einer Geiselnahme gegen eine Frau austauschen ließ und für diesen Mut mit dem Leben bezahlte.
Sprachliche Präzision, Sorgfalt in der Formulierung und wohldosiertes Pathos machen Macron zu einem herausragenden Redner, der dem Amt des Präsidenten nach Sarkozy und Hollande schnell wieder zu einer Aura verholfen hat. Bisweilen werden diese Reden, wie in Versailles, zudem so inszeniert, dass der politische Gestaltungswille in seinem ganzen Ehrgeiz erkennbar werden soll. Die non-verbale Nachricht soll offenbar lauten: Ludwig XIV., Napoleon, de Gaulle, Macron. Manche Franzosen schütteln darüber den Kopf, andere zeigen sich erleichtert darüber, dass die Politik endlich wieder Herr der Lage sein will.
Darüberhinaus scheint es indes schwierig, in Macron einen politischen Schüler des Philosophen Ricoeur zu erkennen. Dies liegt zunächst eher an Ricoeur denn an Macron. Denn Ricoeurs Philosophie versteht sich gerade nicht als Lehrgebäude, sondern eher als praxisbezogene Erkundung von Themen und Konstellationen. Im Zentrum dieser Philosophie steht paradoxerweise eine Art Primat praktischer Klugheit, der phrónesis oder prudentia, der durch Übung erarbeiteten Kompetenz. Für Ricoeur sind die theologische und philosophische Hermeneutik hierfür tragende Beispiele: Einen Text angemessen zu verstehen ist gerade keine mechanische Anwendung von Regeln, sondern eher eine Kunstfertigkeit. Ein guter Interpret wägt ab – einerseits, andererseits – und kommt so, idealerweise, zu einer ausgewogenen Sicht der Dinge.
Pragmatische Flexibilität – en même temps
Gerade dieses einerseits-andererseits ist auch bei Macron zu finden. Der französische Ausdruck en même temps, in dem das englische at the same time
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mitklingt, ist zum geflügelten Wort im Spott über Macron geworden. Gerade die ideologische Flexibilität und Offenheit bringt die Kritiker Macrons in Rage. Besonders die konservativen Philosophen Alain Finkielkraut und Luc Ferry echauffieren sich über einen Präsidenten, der angeblich das kulturelle Erbe der totalen Ökonomisierung opfert und ideologisch nicht zu greifen sei. Könnte diese harsche Kritik der Ausdruck einer nicht-erwiderten Liebe sein? Macron hatte in einem legendären Interview die philosophischen Besserwisser als frustrierte Pessimisten abgekanzelt, die ob ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit in identitären Fantasien und apokalyptischen Untergangsszenarien schwelgten.
Nein, eine politische Ideologie oder eine philosophische Doktrin findet man bei Macron nicht. Selbst sein Plädoyer für den freien Markt bleibt immer ordoliberal oder republikanisch eingehegt und abgemildert. Während die einen darin ein Indiz für den Kulturverfall zu erkennen glauben, sehen andere gerade darin eine Stärke Macrons. Denn trotz aller pragmatischen Kompromissbereitschaft gibt es doch so etwas wie klare Vorstellungen. Was also sind die Grundpfeiler seines politischen Denkens?
Macrons Vorstellung vom Sozialstaat lehnt sich stark an die Ideen

*) Amartya Sens 
an. Es geht darum, die Menschen zur Selbsthilfe anzuleiten, sie zu befähigen, nicht darum, durch Versorgung bloße Abhängigkeit zu perpetuieren. Fortbildung statt Kündigungsschutz, lautet daher die Devise. Gerade den Herausforderungen eines offenen Umgangs mit der Globalisierung werden jedoch aus Sicht Marcrons die Gewerkschaften nicht mehr gerecht. Vor allem mit den Arbeitnehmervertretern der SNCF liegt er deshalb wegen der großen Bahnreform derzeit im Clinch. Die Streiks dauern an; aber noch ist die Atmosphäre vergleichsweise friedlich.
Aber auch in anderen Bereichen folgten die Reformen in den vergangenen Monaten im Akkord: Eine Reform des Justizvollzugs, eine des beruflichen Aus- und Weiterbildungssystems und eine Verfassungsänderung, die die Zahl der Parlamentarier reduziert. Dieses Tempo lässt den Kritikern kaum Zeit zu reagieren.
Im Zentrum steht für Macron die Zielsetzung eines schnellen Abbaus der Staatsverschuldung. Eine klare Sparpolitik schafft dem neuen Präsidenten wohl am meisten Feinde in Frankreich. Es steht der Verdacht im Raum, hier erfülle jemand deutsche Forderungen.
Macron indes betrachtet diese Politik als Versuch, den Staat aus den Fesseln der Verschuldung zu lösen, um wieder Handlungsfähigkeit herzustellen. Immer wieder betont Macron, dass Frankreich solide Finanzen vor allem sich selbst schulde und nicht etwa Brüssel oder gar Berlin. Religionspolitisch vertritt Macron eine wohlwollende Form des Laizismus. Laizistisch sei der Staat, nicht die französische Gesellschaft als solche, so Macron. Es gehe darum, den Religionen den rechten Ort zuzuweisen, nicht sie zu bekämpfen. Auch dafür wird er in Frankreich kritisiert. Als er in einer Rede vor den französischen Bischöfen die Rolle der Spiritualität betonte, schrillten die Alarmglocken. Macron hätschelt die Katholiken, lauteten die Schlagzeilen.
Souveränität gegen Populisten
In Deutschland, aber auch in Großbritannien wird indes ein anderer Aspekt in Macrons Politik mit besonderem Interesse verfolgt: seine offensive Auseinandersetzung mit dem Populismus. Die Formel, die er hierfür geprägt hat, lautet: Die Herausforderung einer autoritären Demokratie begegnen wir durch die
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Wiederherstellung der „Autorität der Demokratie“. Der demokratische Rechtsstaat, so die Diagnose, habe sich in manchen Bereichen zu lange auf der Nase herumtanzen lassen. Frustrierte Demokraten wird man nur wieder ins Spektrum demokratischer Parteien zurückholen können, wenn man das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Demokratie wieder herstellt, so seine These.
Die Formel von der „Autorität der Demokratie“ stößt indes nicht nur auf Gegenliebe. Viele Kritiker verbinden mit dieser Formulierung vor allem die sehr restriktive Migrationspolitik. Aber der Horizont der „Autorität der Demokratie“ betrifft keineswegs nur die Migrations- oder Innenpolitik. Die eigentlichen Gefahren für die Handlungsfähigkeit der Demokratie sieht Macron, dies wird in der Rede in Aachen sehr deutlich, in der Macht von Internetkonzernen oder Investmentfonds. Der Steuerflucht hat Macron den Kampf angesagt, wie schon andere vor ihm. Zuletzt in Aachen formulierte Macron, worum es dabei letztlich gehe: „Europäische Souveränität“.
In dieser Rede zeichnete Macron das Bild eines europäischen Kontinents, der von zahlreichen äußeren Mächten in seiner Freiheit bedroht wird. Nicht nur die Internet-Riesen und Finanzmärkte, auch Russland und die USA wurden hier mehr oder weniger explizit als Gefahren für die europäische Selbstbestimmung benannt. Die angemessene Antwort darauf lautet, so Macron: Die Dinge selbst in die Hand nehmen, und zwar als Europäer, gemeinsam. Er fordert eine europäische Digitalisierungspolitik, Energiepolitik, Sicherheitspolitik und Migrationspolitik. Der entscheiden Konfliktpunkt betrifft dabei bekanntlich eine mögliche Transferunion, die die aktuellen Formen der Aufteilung von Risiken offiziell verstetigen würde.
Die EU ist nicht der Unterdrücker nationaler Souveränität, so die These, sondern das angemessene Instrument zur Ausübung europäischer Souveränität. Konkret werden diese Vorschläge darauf hinauslaufen, dass eine Gruppe von EU-Staaten eine Avantgarde bildet, und andere Staaten bestimmte Integrationsschritte später nachholen können. Dies ist in der Währungspolitik ja bereits der Fall, doch Macron will aus dem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten in den kommenden zehn Jahren ein kohärentes Gebilde machen, das den Status der bricolage überwindet.
Was indes genau unter europäischer Souveränität zu verstehen ist und ob diese Formulierung den „Souveränisten“ zumal in den osteuropäischen EU-Staaten nicht neuen Zulauf verschafft, ist momentan offen. Der Begriff „europäische Souveränität“ benennt wohl eher eine offene Frage als schon eine Antwort.

Das Ende der alten Parteien – Macrons Bewegung
Aber wie hat es Macron geschafft, viele der von der Politik frustrierten, ja ermüdeten Französinnen und Franzosen wieder mit Zuversicht auszustatten? Vielleicht ist der Bannfluch eines „déclinsime“, einer Selbstwahrnehmung des Niedergangs, nicht vollends gebrochen, doch der lähmende Mehltau, der lange Zeit über dem Land zu liegen schien, scheint verflogen. Ja es stimmt, nicht alle lieben Macron. Viele Franzosen finden ihn oberflächlich, seine Politik neoliberal, seine professionelle Kommunikationsstrategie zu amerikanisch, seinen Politikstil napoleonisch, selbstherrlich oder gar parlamentsfeindlich. Bisweilen kann man auch den Eindruck gewinnen, in der Kritik an Macron drücke sich die französische Freude am Kampf gegen Autoritäten aus. Wie auch immer man dies bewerten will: Irgendetwas macht Macron grundlegend anders.
„anywheres“ und „somewheres"

Ein zentrales Element seiner Politik ist eine Aussöhnung zwischen den „anywheres“ und den „somewheres“. Was ist damit gemeint? Nach Ansicht vieler politikwissenschaftlicher Beobachter prägte eine neue Spaltung die modernen, westlichen Gesellschaften, die den Prozess einer ökonomischen und kulturellen Globalisierung durchlaufen haben. Da diese Prozesse nicht mit einer politischen Globalisierung einhergingen sind, so die These, seien zwei neue Klassen von Bürgerinnen und Bürger entstanden. Zum einen die „anywheres“ – sie können – daher ihr Name – „wo auch immer leben“, haben hohe Bildungsabschlüsse, sprechen mehrere Sprachen, verfügen vielleicht sogar über mehrere Pässe. Für sie erweitert die Globalisierung den Horizont der Chancen. Ihr Arbeitsmarkt ist global. In mehr oder weniger bescheidenem Umfang profitieren sie sogar von der Globalisierung der Finanzmärkte. Nationen haben für sie keine große Bedeutung mehr; sie denken „postnational“, kosmopolitisch, vielleicht sogar menschenrechtlich-universalistisch. Nationalstaaten konkurrieren aus dieser Sicht um intelligentes Personal und sollten dies mit niedrigen Einkommenssteuern und einem von Diversität und Abwechslung geprägten Kultur- und Naturangebot tun. Ihre Traumstadt ist Vancouver.
Ganz anders sieht das Leben der „somewheres“ aus. Wer sie nach Selbstbeschreibungen fragt, wird oft Antworten erhalten, die mit der Metapher der „Wurzel“ argumentieren. Somewheres fühlen sich „verwurzelt“, sie können weniger Fremdsprachen, haben wenig Kompetenzen und Talente, die auf dem globalen Arbeitsmarkt gefragt sind. Und ehrlich gesagt haben sie auch gar keine Lust, wegen einer besseren Bezahlung nach Singapur oder Hong Kong zu gehen. Sie fühlen sich wohl in ihrer Heimat und wünschen sich, dass diese Heimat so bleibt, wie sie sie von ihren Eltern geerbt haben. Somewheres sind keineswegs automatisch fremdenfeindlich oder borniert. Sie engagieren sich in der Freiwilligen Feuerwehr und in der Blaskapelle. Wenn sie als Bäckermeister oder Physiotherapeutin hören, dass die Reichen ihr Geld vor dem Fiskus auf den Bahamas verstecken, geht ihnen die Galle hoch. Die weit verbreitet These, dass von der Globalisierung „wir alle“ profitiert haben, können sie nicht mehr hören. Ihre Kaufkraft ist nicht gestiegen, ja vielleicht sogar gesunken. Für sie bedeuten Globalisierung und Migration vor allem mehr Konkurrenz, eine „Ausweitung der Kampfzone“. Dass die Zeit der Nationen zu Ende sein soll, kommt ihnen wie ein Hirngespinst vor. Für sie ist die Nation immer noch eine Schicksalsgemeinschaft. Dass man mehrere Pässe haben kann, ja sich Staatsbürgerschaften sogar einfach kauft, befremdet sie. Letztlich, so die somewehres, gehört man halt irgendwo hin.
Man sieht in Deutschland wie die Spannung zwischen

anywheres und somewheres

die politischen Parteien innerlich zerfrisst. Am deutlichsten ist dies bei der SPD der Fall. Hier gibt es Parteieliten, die als anywheres erkennbar sind, und gleichzeitig eine Parteibasis, die sich beim Familiennachzug für Flüchtlinge gar nicht so sicher ist. Aber auch bei der CDU brodelt der Konflikt zwischen globalisierungsfreundlichen Arbeitgebern und einer explizit heimatverbundenen, sehr migrationskritischen Klientel unter der Oberfläche. Selbst bei der FDP, die als Inkarnation der anywheres erscheinen mag, gibt es bei genauem Hinsehen große Interessenkonflikte zwischen den Vertreterinnen und Vertretern von Handwerk, produzierendem Gewerbe und kleinem Mittelstand einerseits und den transnationalen Eliten andererseits.
Worin besteht nun Emmanuel Macrons Meisterstück? Nun, die Problemanalyse leitet bereits zur Antwort über. In immer neuen Varianten versucht Macron die Vision einer
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Globalisierung zu entwerfen, von der nicht nur die anywheres profitieren. In Davos formulierte er: „Wenn es nicht gelingt, die Menschen von den Vorteilen der Globalisierung zu überzeugen, werden die Nationalisten gewinnen – und nicht nur in Frankreich.“
Dabei ist ein Umstand entscheidend: Macron hat nie den Kontakt mit den sogenannten einfachen Leuten gescheut. Die Anekdoten, wonach Macron derjenige war, der als Student an der Elitehochschule ENA in Straßburg den Pförtner nach den Kindern fragte und die Putzfrau mit Küsschen begrüßte, sind durchaus glaubwürdig. Ob es nun der narzisstische Wunsch ist, gemocht zu werden, oder einfach eine besondere Ungezwungenheit im Umgang mit Menschen: Fest steht, dass Macron keiner Begegnung mit den somewheres aus dem Weg geht. Legendär ist sein Auftritt im April 2017 bei den Arbeitern einer Fabrik der Firma Whirlpool in Amiens im Norden Frankreichs, deren Produktionsstätte nach Polen verlegt werden sollte. Das Video, das Macron unermüdlich in der Menge diskutierend zeigt, ging durch Frankreich wie ein Lauffeuer. Macron redete den aufgebrachten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber er redete ihnen eben nicht nach dem Mund: Man könne nicht einfach alles verstaatlichen erklärt er. Vor allem aber: Er erklärt. Er bleibt da. Er diskutiert, freundlich, aber bestimmt. Und er lässt das Mikro herumgehen und hört sich an, was die Leute zu sagen haben. Dass ihn nach anderthalb Stunden jene mit Respekt verabschieden, die ihn zur Begrüßung vom Hof brüllen wollten, macht noch heute Eindruck.
Ein Angriff auf das Berufspolitikertum
Wichtiger jedoch als die bloß kommunikative Überbrückung dieser Bruchlinie, ist der Versuch eines institutionellen Neuanfangs. Macron integrierte in sein Kabinett auch die aufstrebenden Personen aus dem rechten politischen Lager. Außerdem holte er systematisch kompetente Personen aus der Zivilgesellschaft ohne Parteikarriere in Ministerämter.
Der wichtigste Angriff auf die alten Strukturen stellt jedoch die Gründung seiner Bewegung En Marche! dar, aus der inzwischen eine reguläre Partei geworden ist. Diese Neugründung hat nicht nur die französischen Sozialdemokraten und deren Parti socialiste in eine Existenzkrise gestürzt. Macrons Bewegung bringt das ganze politische Feld durcheinander. Eine kritische Beschreibung könnte nämlich lauten, dass Macron die Unterscheidung zwischen

somewheres und anywehres

gerade nicht aussöhnt, sondern institutionell festschreibt: In der Mitte des politischen Feldes stehen nun Macron und die gemäßigte Rechte, verbunden durch einen breiten Konsens. An den beiden Rändern steht der Front national und die extreme Linke als Stimme der somewheres.
Die eigentliche politische Auseinandersetzung findet dann aber nicht mehr zwischen Links und Rechts, sondern gewissermaßen zwischen Innen und Außen statt. Die Alternative lautet dann nur noch: Immer weiter vorwärts mit Macron und der Mitte, oder radikal rückwärts Richtung Renationalisierung und Abschottung mit den Rändern. Die Grundkonstellation eines Konflikts zwischen Macron und Marine Le Pen, wie sie der zweite Wahlgang der letzten Präsidentschaftswahlen abbildete, wäre damit gewissermaßen auf Dauer gestellt.
Ob Macron also tatsächlich eine nachhaltige Antwort auf die Krise der repräsentativen Demokratie formuliert, bleibt momentan abzuwarten. Es zeichnet sich ab, dass viele Reformen zu greifen beginnen. Ob Macrons wegweisenden Reden auch in allen Fällen neue Wege folgen, ist noch nicht sicher. Jedenfalls tut man in Deutschland gut daran, genau zu verfolgen, was sich in Frankreich tut. Hier gibt es viel zu lernen.

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